Arthur Brühlmeier

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Das Arbeitsblatt – Hilfsmittel oder  Zwangsvorstellung?

Es gibt Gesetze – geschriebene und ungeschriebene. Ein ungeschriebenes lautet: „Was Du, Lehrerin oder Lehrer, immer auch unternimmst – verwende ein Arbeitsblatt! Andernfalls sündigst Du, didaktisch.“ Und das Schicksal dieser Blätter? Im bessern Fall füllen sie einen Ordner – im schlechteren vergammeln sie in einem Wust von anderem Unrat. Eine weitere Variante: Die Schüler machen damit am Ende des Schuljahres ein kleines Freudenfeuerchen …

Ich weiss: Jetzt habe ich in ein Wespennest gestochen.

Nun aber im Ernst und der Reihe nach:

1. Was ist ein Arbeitsblatt?

Ein Arbeitsblatt ist ein thematisch eng begrenztes Lehrmittel von geringem Umfang, das die schriftliche Schülerarbeit durch vorgedruckte Vorgaben – Arbeitsanweisungen, Zeichnungen, Wort- oder Satzlücken, vorgedruckte Zeilen oder vorgegebene Räume – relativ eng führt und zu einem relativ eindeutigen Endprodukt hinlenkt. Dabei reicht der Anteil der Schülerarbeit im Verhältnis zur gedruckten Vorgabe je nach Blatt von ‘spärlich’ bis ‘sehr aufwendig’. Autor des vorgedruckten Anteils ist entweder der Klassenlehrer selbst oder dann ein aussenstehender Fachmann (resp. Fachfrau).

2. Welchen Zwecken dienen Arbeitsblätter?

So weit ich sehe, erfüllen die Arbeitsblätter vier Zwecke:

Erstens dienen sie der Rationalisierung des Lernprozesses: Systematisches Voranschreiten mit der ganzen Klasse, geplanter Wechsel von Phasen des Aufnehmens und des handelnden Umsetzens, Lenkung des Unterrichtsprozesses auf vorgeplante Ergebnisse hin, Konzentration auf das Wesentliche, Zeitersparnis durch klare vorgegebene Strukturen und Weglassen von allem ‘Unnötigen’. Zweitens entsteht so im Verlaufe des Prozesses ein Produkt, das die Lernergebnisse festhält. Drittens bedeutet die Verwendung von Arbeitsblättern für den Lehrer gegebenenfalls auch Zeitersparnis bei seinen Vorbereitungen. Und viertens vermag eine Sammlung ausgefüllter Arbeitsblätter allenfalls auch die Lehrerarbeit gegenüber möglichen Angriffen, Fragen und Zweifeln seitens der Inspektoren, der Behörden, der Eltern und der Kollegen zu rechtfertigen.

3. Sind diese Zwecke pädagogisch legitim? Was vermögen Arbeitsblätter dabei zu leisten?

a) Rationalisierung des Lernprozesses halte ich für problematisch: Einerseits ist es gewiss berechtigt, sinnloses Zeitvergeuden zu vermeiden, zielstrebig auf ein Resultat hinzusteuern, sich der Eigentätigkeit der Schüler durch ihr Aufschreiben, Zeichnen und Malen zu versichern und durch klare Vorgaben das objektiv Richtige zu betonen. Anderseits erschwert ein durchrationalisierter Lernprozess das Eingehen auf die Klasse und einzelne Schüler, das Ausschöpfen des Themas in nicht eingeplante Richtungen, den Einbezug von neuen, erst im Unterricht auftauchenden Lernzielen und das Rhythmisieren aufgrund einer spontanen Wahrnehmung der psychischen Situation der Klasse.

Die Rationalisierung des Lernprozesses mittels eines Arbeitsblattes besteht nun wesentlich darin, dass die gedruckten Vorgaben dem Schüler die Arbeit in irgend einer Weise erleichtern. Statt einen Vogel zu zeichnen, muss er ihn bloss ausmalen und beschriften, statt ganze Sätze zu bilden, muss er nur Ausdrücke auflisten oder Lücken ausfüllen, statt eine Seite selbst zu gestalten, bewegt er sich in den engen Grenzen der gedruckten Vorgaben. Nun ist aber die Anstrengung des Schülers identisch mit ‘Gebrauch von Kräften’ und somit die grundlegende Bedingung der Kräfte-Entfaltung. Im Hinblick auf diese Gesetzmässigkeit ist der Einsatz vorgefertigter Arbeitsblätter fragwürdig: Der Schüler spart Zeit und Energie, aber gerade dies bedeutet geringere Beanspruchung seiner Kräfte und damit eigentlichen Verlust an Bildung. (Der Einwand, der Schüler könne ja zum Ausgleich einfach mehr Arbeitsblätter ausfüllen, zieht nicht, da es auf qualitative und nicht auf quantitative Herausforderung ankommt.)

Darüber hinaus begünstigt das Arbeitsblatt durch seine enge Führung der Tendenz nach die Uniformierung der Schüler, da es ihnen durch seine Vorgaben das Verlangte mehr oder weniger aufsuggeriert. Damit wird aber nicht jedes Kind gemäss seinen Möglichkeiten gefordert, was sich wiederum als nachteilig für die Kräftebildung auswirkt. Zwar mag der vorgedruckte Vogel perfekter sein als der vom Schüler gezeichnete, aber pädagogisch fruchtbarer ist das eigene und freie sprachliche und zeichnerische Gestalten des verstandenen Stoffes durch jeden einzelnen Schüler.

Aus all diesen Gründen halte ich das freie gedankliche Umkreisen eines Themas, das vertiefende Verweilen im Gespräch, welches nicht durch Äusserlichkeiten gestört und durch starre Vorgaben eingeengt ist, und ein darauf folgendes Verarbeiten des Stoffes, das der Individualität jedes Schülers möglichst gerecht wird, für wertvoller als ein Lernen, das der Tendenz nach auf starr geplantes Fortschreiten im Gleichschritt abzielt.

Noch ein Wort zur Vermeidung von ‘Unnötigem’: Viele Arbeitsblätter (und auch Übungen in Büchern) sind darauf angelegt, vom Schüler im Augenblick nur gerade das abzuverlangen, was inhaltlich im Zentrum steht; alles andere wird als überflüssiges, zeitraubendes Beiwerk behandelt. So schreibt der Schüler eben nicht mehr ganze Sätze, sondern füllt nur noch die Lücke aus, ‘auf die es ankommt’. Ich halte diese Spar-Mentalität für unpädagogisch. Zwar ist es richtig, einen bestimmten Lernzielbereich ins Zentrum des Lernprozesses zu stellen, aber ebenso wichtig ist, dass man als Lehrer oder Lehrerin eine Menge anderer, an sich auch wichtiger Ziele gleichzeitig im Auge behält. So ist es z.B. für die Sprachentwicklung des Schülers wichtig, dass er immer wieder zum Schreiben ganzer Sätze und zusammenhängender Texte kommt. Die richtige Verwendung des Akkusativs – als Beispiel für tausend andere Details – wird nicht nur durch spezifische Fall-Übungen gelernt, sondern ebensosehr durch dessen unreflektierten Umgang in vielen sprachlichen Zusammenhängen, in denen es um beliebige Inhalte geht. Die wünschbare Verbindung von Sach- und Sprachunterricht wird durch das schnellfertige Ausfüllen von Lücken und Beschriften von kurzen Zeilen permanent untergraben.

b) Das Festhalten der Lernergebnisse scheint vorerst unproblematisch und selbstverständlich zu sein. Doch Mephistos zynischer Satz ‘denn was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen’ ermutigt zum Fragen: Sind das tatsächlich Lernergebnisse, die ich auf Blättern dingfest machen muss? Genau besehen, kann doch nur das als wirkliches Lernergebnis gelten, was sich eben als Wissen, Fertigkeit oder Haltung im Schüler ‘festgesetzt’ hat. Was wirklich gelernt ist, braucht folglich nicht mehr ausserhalb des Schülers ‘festgehalten’ zu werden.

Nun ja, das Vergessen! Offensichtlich werden Lernergebnisse darum zusätzlich noch festgehalten, weil man weiss, dass einiges wieder in Vergessenheit gerät. Dann macht aber das Festhalten von Gelerntem nur in dem Masse Sinn, als man die so geschaffenen schriftlichen Unterlagen für ein erneutes und vertieftes Aneignen des Stoffs tatsächlich wieder verwendet. Geschieht dies wirklich? Und regelmässig?

Ich zweifle indessen daran, dass vorgedruckte Arbeitsblätter – insbesondere jene, bei denen der Schüler-Anteil relativ gering ist – eine ideale Grundlage für die Repetition darstellen. Das hat etwas mit der emotionalen Beziehung des Schülers zu ‘seinem’ Werk zu tun. Je mehr Eigenes es nämlich enthält, desto mehr hängt er daran (vorausgesetzt, dass der Lehrer oder die Lehrerin zu sorgfältigem Arbeiten erziehen). Und je mehr er daran hängt, desto lieber setzt er sich später erneut damit auseinander. Darum gilt eigentlich auch hier: Das beste Arbeitsblatt ist unbedrucktes Papier, das dann eben dem Schüler die Arbeit nicht erspart, sondern ihm sehr viel Eigenes abverlangt.

c) Zeitersparnis für den Lehrer: Hier gilt’s zu unterscheiden zwischen Arbeitsblättern, die der Lehrer selber – eigens für seine Schüler – kreiert, und den andern, die er bloss kopiert. Im ersten Fall stimmt der Lehrer sein Arbeitsblatt genau auf die Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen seiner Klasse ab, er investiert dabei eine Menge von Ideen, Energie und Sorgfalt und spart insofern keine Zeit ein. Und gerade darum, weil er Zeit nicht einspart, sondern einsetzt, ist ihm sein Blatt lieb, und darum lernen die Schüler damit in der Regel ungleich mehr als mit irgend einem industriell vorgefertigten, das sich bequem aus dem Register ziehen und kopieren lässt, aber selten genau das ist, was sich der Lehrer eigentlich wünschte oder die Schüler eigentlich brauchten. Zwar kommt kein Lehrer um Rationalisierungen seiner Vorbereitungen herum, wenn er sich in seinem Beruf nicht verbrauchen lassen will, und doch kann man sich der grundlegenden Erkenntnis nicht verschliessen: Je mehr Zeit ich als Lehrer bei meiner Vorbereitung einspare, desto weniger vermag das, was ich in den Unterricht einzubringen habe, die Schüler zu erwärmen – und umgekehrt. Zeitersparnis ist – so notwendig sie uns immer wieder erscheint – pädagogisch kontraproduktiv, wenn sie ein gewisses Mass überschreitet.

d) Und nun zur Rechtfertigungsfunktion der Arbeitsblätter: Offensichtlich genügt die Tatsache, dass Schüler etwas können oder wissen, nicht mehr als ausreichender Beweis für verantwortungsbewusste Bildungsarbeit; man muss vielmehr den Zweiflern – Eltern, Behörden, Kollegen, Inspektoren und andern Vorgesetzten – etwas ‘Handfestes’ vorlegen. Vielleicht fehlt dieser äussere Druck, aber dann möchte man eben sich selbst beweisen ‘etwas geleistet zu haben’. Dieses Bedürfnis ist wohl verständlich, denn es gibt nur wenige Berufe, in denen man von seiner Arbeit so wenig sieht wie bei uns. Ich finde es gut, wenn man sich diese Schwäche einzugestehen wagt. Und doch: Allzusehr sollte dieser Zweck der Arbeitsblätter bei deren positiven Bewertung nicht ins Gewicht fallen, wenn wir uns nicht zu sehr von vertretbaren pädagogischen Grundsätzen entfernen wollen.

Als Zusammenfassung: Fünf Regeln

  1. Das beste Arbeitsblatt ist zumeist jenes, das ganz vom Schüler geschaffen ist.

  2. Wenn man schon vorgedruckte Arbeitsblätter verwenden will (wofür es gute Gründe gibt), dann mit Mass.

  3. Für vorgedruckte Arbeitsblätter gilt im allgemeinen: Je grösser der Schüler-Anteil im Vergleich zu den gedruckten Vorgaben, desto besser. Und auch dies: Vom Lehrer selbst geschaffene sind zumeist besser als fremde, übernommene.

  4. Arbeitsblätter sind sorgfältig aufzubewahren.

  5. Arbeitsblätter werden wieder zur Repetition verwendet.

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