Arthur Brühlmeier

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Zum 250. Geburtstag von Johann Heinrich Pestalozzi am 12. Januar 1996

Pestalozzi war nicht bloss ein Mann des Herzens, er war auch scharfer Denker, der die Gegenstände, die ihn im Gefühl ansprachen, analysierte und gedanklich ordnete. Das machte ihn zum Philosophen. Allgemein lebendig geblieben ist seine Erziehungsphilosophie. Fast unbekannt aber ist seine Lehre vom Menschen, auf der sein weiteres Denken beruht. Dabei hat er selbst gesagt: „Mein einziges Buch, das ich seit Jahren studiere, ist der Mensch; auf ihn und auf die Erfahrung mit ihm gründe ich alle meine Philosophie.“ Diese in den Grundzügen darzulegen, ist das Ziel dieser Arbeit.

Die Doppelnatur des Menschen

Anders als beim Tier, das stets mit sich in Harmonie ist, ist menschliches Dasein geprägt durch Spannung und Widerspruch. Den Grund hierfür sah Pestalozzi in der Zwiefältigkeit des menschlichen Wesens. Er bezeichnete die beiden Seiten als ‘tierische’ und ‘höhere’ Menschennatur.

Die tierische Natur, von Pestalozzi oft auch ‘sinnliche Natur’ genannt, umfasst alle Lebensäusserungen im Dienste der Selbst- und Arterhaltung und kettet ihn an seinen physischen Körper und an seine Sinnesorganisation. Das lässt ihn nach Lust suchen und Unlust vermeiden, treibt ihn an zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, lässt ihn allerlei Affekte und Gefühle wie Zuneigung und Abneigung empfinden sowie seiner Trägheit und seinem Egoismus frönen.

Die höhere Natur ermöglicht das, was den Menschen über das Tier hinaushebt: Die Wahrheit erkennen, die Liebe üben, an Gott glauben, auf das Gewissen hören, das Recht verwirklichen, den Sinn für das Schöne entwickeln, höhere Werte erkennen und verwirklichen, schöpferisch tätig sein, in Freiheit handeln, Verantwortung tragen, den eigenen Egoismus überwinden, gemeinschaftliches Leben gestalten, die Vernunft walten lassen, nach Selbstvervollkommnung streben. Pestalozzi ist davon überzeugt, dass sich in diesen Möglichkeiten des Menschen ein ‘göttlicher Funke’ manifestiert und dass sie den Menschen zum göttlichen Abbild machen. Er bezeichnet darum diese höhere Natur oft auch als ‘innere’, ‘ewige’, ‘geistige’, ‘heilige’ oder ‘göttliche’ Natur.

Nun sind zwar diese beiden Seiten der menschlichen Natur dem Wesen nach voneinander verschieden, aber der Erscheinung nach sind sie miteinander verbunden, ja all das Höhere ist im Tierischen grundgelegt und wächst aus ihm heraus, und es ist schliesslich die Aufgabe der Erziehung, dieses Tierische so weit wie möglich auf die höhere Stufe emporzubilden. Pestalozzi wertet folglich die tierische Natur nicht ab, solange sie nicht die höheren Möglichkeiten des Menschen überwuchert.

Die ‘Nachforschungen’

Das oben dargelegte Grundverständnis der menschlichen Natur durchzieht das ganze Denken Pestalozzis. In dieser Deutlichkeit ausgesprochen hat er es vorwiegend in seinen Schriften nach 1800. Zuvor hatte er eine noch etwas differenziertere Sicht des Menschen vorgelegt, welcher das erwähnte dualistische Verständnis zu Grunde liegt, nämlich in seinem philosophischen Hauptwerk ‘Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts’ (1797). Wiederum ausgehend von dem Erleben des Widerspruchs und der Frage nach ihrem Ursprung und Sinn, kommt er darin zur Erkenntnis, dass menschliches Leben in drei verschiedenen Existenzweisen – er nennt sie ‘Zustände’ – möglich ist, die je eigenen Gesetzmässigkeiten entsprechen, nämlich im Naturzustand, im gesellschaftlichen Zustand und im sittlichen Zustand. Dabei dominiert in den beiden ersten Zuständen die tierische, im sittlichen Zustand die höhere Natur.

Der Naturzustand

Regulierend im Naturzustand sind zwei einander entgegengesetzte Grundtriebe: die Selbstsucht, der zum Ich hin zielt, und das Wohlwollen, das dieses Ich zum Du hin verweist. Das Wohlwollen ist zwar im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens zwiespältig und kann sogar zerstörend wirken – z.B. als naive Gutmütigkeit –, aber es ist auch die natürliche Basis für die Sittlichkeit des Menschen, denn aus ihm enthüllt sich allmählich die Liebe.

Nun unterscheidet Pestalozzi innerhalb des Naturzustandes zwischen der reinen, unverdorbenen und der verdorbenen Form. Im unverdorbenen Naturzustand stehen die Bedürfnisse des Menschen und seine Kräfte zu deren Befriedigung in einem immerwährenden Gleichgewicht. Der Mensch will nicht mehr als das, was er kann, und er kann nicht weniger als das, was er braucht. Er gibt sich ohne besondere Kraftanstrengung dem reinen Sinnengenuss hin und geniesst unbedrohte Sicherheit. Sein Tun und Lassen ist auf den Augenblick ausgerichtet, Vergangenheit und Zukunft kümmern ihn nicht. Seiner Selbstsucht stellen sich keine Hindernisse in den Weg, sie dient lediglich seiner Selbsterhaltung, was ihm aber von niemandem erschwert oder strittig gemacht wird. Selbstsucht und Wohlwollen sind also harmonisch ausgeglichen. Der Mensch lebt ohne Schuld, denn er gehorcht dem natürlichen, noch nicht verdorbenen Instinkt. Sein natürlicher Freiheitsdrang wird von niemandem gehemmt und ist deshalb nicht gewalttätig.

Wir erkennen in dieser Vorstellung des unverdorbenen Naturmenschen unschwer Rousseaus Bild vom guten Wilden, ein Bild übrigens, das auch heute noch nichts von seiner verführerischen Kraft eingebüsst hat. Aber Pestalozzi distanziert sich klar von seinem geistigen Ahnherrn und betont, dass der unverdorbene Naturzustand nicht real erfahrbar ist. Er geht „mit dem ersten Schrei verloren“, denn dieser beweist ja sinnenfällig das Missverhältnis zwischen dem Bedürfnis des Säuglings und seinen wirklichen Kräften. Der unverdorbene Naturzustand lässt sich somit bloss denken, aber gerade deshalb wird er wirksam, weil sich der Mensch dadurch die verlorene und wieder anzustrebende Harmonie vorzustellen vermag. Freilich weiss Pestalozzi, dass diese rein natürliche, auf Instinkt beruhende Harmonie unwiederbringlich und notwendigerweise verloren ist. Eine Rückkehr zur tierischen Einfalt und Problemlosigkeit gibt es nicht. Die verlorene Harmonie muss mit andern Mitteln wiederhergestellt werden: durch Sittlichkeit aus innerer Freiheit, wie wir später sehen werden.

Was wir somit real erleben und am Menschen kennen, ist der verdorbene Naturzustand. Pestalozzi versteht darunter den Menschen, insofern er physischen Bedürfnissen unterliegt und seiner Sinneslust frönt, somit den Menschen als Trieb- und Instinktwesen, als ichbezogenes ‘Tier’. In diesem verdorbenen Naturzustand ist nun die Harmonie zwischen den Wünschen und Bedürfnissen und den zu ihrer Befriedigung erforderlichen Kräften zerbrochen. Der Mensch erlebt – anders als im bloss erdachten unverdorbenen Naturzustand – seine Unzulänglichkeit, seine Hilfsbedürftigkeit, seine Schwäche. Sein Leben ist gekennzeichnet durch Angst, Anstrengung, Sorgen, Kampf. Soweit ihm niemand in die Quere kommt, ist er immer noch natürlich wohlwollend, denn dies entspricht seiner Trägheit und dem Umstand, dass er sich im allgemeinen in der Eintracht wohler fühlt als im Streit. Da jedoch die täglichen Sorgen die Selbstsucht anstacheln, streben doch alle mehr oder weniger nach Macht, woraus der Kampf aller gegen alle resultiert. Der Einzelne – insofern er bloss verdorbener Naturmensch ist – scheut sich nicht, seine egoistischen Macht- und Besitzansprüche auf Kosten der andern durchzusetzen. Er beansprucht ‘Naturfreiheit’, das heisst: zu tun und zu lassen, was ihm beliebt, und greift wenn nötig zur Gewalt.

Der gesellschaftliche Zustand

Eine erste Antwort auf die Mühseligkeit des verdorbenen Naturzustandes findet der Mensch im Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand. Der Prozess der Vergesellschaftung gerät Pestalozzi auf zweifache Weise in Blick: Erstens handelt es sich um ein weit zurückliegendes, aber unumkehrbares historisches Geschehen, das gekennzeichnet ist durch die Erfindung des Eigentums mit all seinen Folgen, insbesondere der Schaffung des sog. positiven Rechts, eines Rechts also, das das Naturrecht übersteigt. Darüber hinaus ist ‘Vergesellschaftung’ eine zeitunabhängige, d.h. je und je sich ereignende Antwort des denkenden Menschen auf das Erleben seiner verdorbenen Natürlichkeit. Verdorbener Naturzustand ist danach bloss gedanklich vom gesellschaftlichen Zustand zu trennen, denn der egoistische Kampf des blossen Naturmenschen um Macht und Besitz setzt das Eigentum voraus. Dabei sind die Eigentumsbegriffe und die Eigentumsregelung ‘gesellschaftlich’; ‘tierisch’ jedoch ist die selbstsüchtige, rücksichtslose Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten der andern. Weil in der Alltagserfahrung tierische Selbstsucht und Eigentum fast nicht zu trennen sind und der selbstsüchtige Mensch ohne weiteres alle ihm möglichen gesellschaftlichen Mittel, einschliesslich des positiven Rechts, zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen in Anspruch nimmt, hat denn auch Pestalozzi den gesellschaftlichen Zustand als ‘modifizierten Naturzustand’ definiert.

Erinnern wir uns, was den Menschen überhaupt zur Vergesellschaftung veranlasste: Es war und ist stets die Suche nach Sicherheit und Erleichterung bzw. Sicherstellung der Bedürfnisbefriedigung durch kollektive Mittel wie Erwerb, Besitz, Arbeitsteilung usf. Aufgabe des Rechts ist es, dies zu regeln und die Früchte der Vergesellschaftung allen zu gewährleisten.

Nun gehört es zum Wesen des Rechts und damit jeder gesellschaftlichen Ordnung, dass es dem Einzelnen, um ihm den Rechtsgenuss sichern zu können, auch Pflichten auferlegen und seine Naturfreiheit beschneiden muss. Dadurch gerät der Mensch in Widerspruch mit sich selbst, denn seine Selbstsucht ist durch den blossen Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand nicht ausgelöscht. Es ist dieselbe Selbstsucht, die ihn zur Vergesellschaftung antreibt, um deren Vorzüge zu geniessen, wie diejenige, die ihn immer wieder veranlasst, die Konsequenzen dieses Schritts abschütteln zu wollen. Das hat zur Folge, dass der Mensch den Zweck, um dessentwillen er in den gesellschaftlichen Zustand eingetreten ist, in eben diesem Zustand niemals wird erreichen können. Der Mensch vergesellschaftet sich nämlich in der Hoffnung, dadurch die verlorene Harmonie zwischen Bedürfnis und Kraft wiederzugewinnen, und genau diese ersehnte Harmonie wird er im gesellschaftlichen Zustand niemals erreichen. Im Gegenteil: Der gesellschaftliche Prozess weckt auf der einen Seite immer neue Bedürfnisse und stellt deren mögliche Befriedigung in Aussicht, macht aber auf der andern Seite den Einzelnen durch die immer komplizierteren Abhängigkeiten immer unfreier und durch die zunehmende Arbeitsteilung und Entlastung immer schwächer.

Da der bloss vergesellschaftete Mensch sich folglich alles andere als gesellschaftlich zuverlässig verhält, ist der gesellschaftliche Zustand stets labil. Seine Qualität ist davon abhängig, inwieweit er durch gerechte Gesetze geregelt ist und inwieweit sich die Einzelnen an diese Gesetze halten. Anerkennt der Mensch – sei er nun Gesetzgeber, Regierender oder einfacher Staatsbürger – das gesellschaftliche Recht, so festigt er damit den gesellschaftlichen Zustand und schafft Bedingungen dafür, dass sich der Einzelne zur Sittlichkeit erheben kann. Missachtet er aber die Gesetze und das gesellschaftliche Recht, so untergräbt er den gesellschaftlichen Zustand und droht als Einzelner ständig wieder in den Tierzustand abzusinken: Er wird, um Pestalozzis Ausdrücke zu zitieren, Tyrann, Sklave oder Barbar.

Für Pestalozzi ist es undenkbar, dass sich der Mensch mit der blossen Kollektivierung und Zivilisierung zufrieden geben kann, nicht zuletzt auch deshalb, weil der gesellschaftliche Zustand gar nicht in der Lage ist, dem Einzelnen Erfüllung seiner Existenz zu garantieren. Dessen ungeachtet ist der gesellschaftliche Zustand unumgänglich und zwar als eine notwendige Zwischenstufe für den Gang des Menschen vom Naturzustand zum sittlichen Zustand. Was nämlich den gesellschaftlichen Menschen vor dem Naturmenschen auszeichnet, ist seine Fähigkeit, die instinktiven Regungen im Zügel zu halten, sei dies auch nur auf gesellschaftlichen Druck hin. Diese Gewöhnung an den äusseren Gehorsam gegenüber den Gesetzen ist eine Vorstufe für den inneren Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen. Zu dieser Fertigkeit des Menschen gesellt sich seine Denkkraft. Dank ihr vermag er die Sinnlosigkeit des unheilvollen Schwankens zwischen tierischer Verdorbenheit und gesellschaftlichem Ungehorsam bzw. gesellschaftlicher Nötigung zu erkennen. Nach Pestalozzi muss der Mensch den ‘Unwert’ des bloss gesellschaftlichen Vereinigtseins ‘so lange tief fühlen’, bis er erkennt, dass er die verlorene Harmonie nur wieder herzustellen vermag, wenn er die Möglichkeit der sittlichen Freiheit ergreift und das Gute und die eigene Vervollkommnung aus eigenem Antrieb will.

Der sittliche Zustand

Damit erhebt sich der Mensch in den sittlichen Zustand. Dieser beruht auf einer selbständigen Kraft im Menschen, auf dem ‘göttlichen Funken’. Die in ihrem Wesen von den tierischen und gesellschaftlichen Bedingungen unabhängige Kraft ermöglicht es dem Menschen, sich selbst zu vervollkommnen. Pestalozzi wörtlich: „Ich (er meint den Menschen allgemein) besitze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, unabhängig von meiner tierischen Begierlichkeit und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen, und dieselbe nur in diesem Gesichtspunkt zu verlangen oder zu verwerfen. Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbständig, ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgendeiner anderen Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin, und ich bin, weil sie ist. Sie entspringt aus dem mir wesentlich einwohnenden Gefühl: ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will.“ Diese selbständige Kraft ist indessen ganz individuell, „sie besteht nicht unter zweien“, und darum ist auch die Sittlichkeit individuell, denn „kein Mensch kann für mich fühlen: ich bin; kein Mensch kann für mich fühlen: ich bin sittlich.“

Für Pestalozzi ist also Sittlichkeit nicht dasselbe wie das objektiv Gute, das sich in guten gesellschaftlichen Einrichtungen, in gerechten Gesetzen und in angewöhnten guten Gepflogenheiten verfestigt haben mag. Sittlichkeit ist stets einzelnes Handeln, ist stets aus freiem Gewissensentscheid heraus gewollte Tat des Individuums und daran zu erkennen, dass der Handelnde aus freien Stücken seine eigene Selbstsucht überwindet. Nur durch dieses sittliche Wollen gelingt es dem Menschen, die verlorene Harmonie mit sich selbst wieder herzustellen und die Widersprüche in sich selbst zu überwinden, weil er eben das, was ihm Vernunft und Gewissen als erforderlich anmahnen, selber will. Durch die freie, sittliche Tat ist er ‘Werk seiner selbst’, im eigentlichen Sinne ‘Mensch’. Und ‘Mensch’ zu werden ist die vornehme, aber unabdingbare Aufgabe und Bestimmung jedes Einzelnen, und er wird an den Widersprüchen seiner Natur und an gesellschaftlichen Unvollkommenheiten und Erfordernissen so lange leiden, bis er erkennt, dass er für ein erfülltes Dasein unter allen Umständen selber verantwortlich ist.

Wie also ersichtlich, ist die Sittlichkeit ganz an die Entscheidung des Einzelmenschen gebunden. Niemand kann einen Menschen sittlich machen als er sich selbst; die Mitmenschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse können dies bloss erschweren, erleichtern oder ihm nahelegen. So schreibt Pestalozzi unter anderem: „Rein sittlich sind für mich nur diejenigen Beweggründe zur Pflicht, die meiner Individualität ganz eigen sind. Jeder Beweggrund zur Pflicht, den ich mit anderen teile, ist es nicht, er hat im Gegenteil insoweit für mich immer Reize zur Unsittlichkeit, das ist, zur Unaufmerksamkeit auf den Trug meiner tierischen Natur und das Unrecht meiner gesellschaftlichen Verhärtung in seinem Wesen. Je grösser die Zahl derer ist, mit denen ich meine Pflicht teile, je stärker und vielfältiger sind die Reize zur Unsittlichkeit, die mit dieser Pflicht verbunden sind … Alles was ich als Glied eines Korps, einer Gemeinde – noch mehr, was ich als Glied einer Innung (Gewerkschaft), einer Faktion (Partei) zu fordern habe, das entmenschlicht mich immer mehr oder weniger. Je grösser das Korps, die Gemeinde, die Innung oder Faktion, von der sich mein Recht und meine Pflicht herschreibt, je grösser ist auch die Gefahr meiner Entmenschlichung, das ist, meiner gesellschaftlichen Verhärtung gegen alle Ansprüche der Sittlichkeit auf diese Pflicht und auf dieses Recht.“ Zusammenrottungen, um die eigenen, als gut deklarierten Interessen durchzusetzen, mögen manche erfreuliche gesellschaftliche Veränderung bewirken, aber nach Pestalozzi haben solche Kollektiv-Handlungen nichts mit wahrer Sittlichkeit zu tun.

Es könnte nun nichts falscher sein, als Pestalozzi deswegen eines asozialen Individualismus’ zu bezichtigen. Das Grundanliegen der Sittlichkeit – die Selbstvervollkommnung durch die Überwindung des eigenen Egoismus – ist seinem Wesen nach schon sozialer Natur. Sittlichkeit ist für Pestalozzi nie anders denkbar und möglich als in der persönlichen Hingabe des Einzelnen an das Du und an die Gemeinschaft in der tätigen Liebe. Darüber hinaus wirkt der Einzelne gerade durch seine sittlichen Handlungen aufbauend in die Gesellschaft hinein.

Wenn nun Pestalozzi den Menschen unmissverständlich zu sittlichem Leben auffordert, so ist er doch kein Utopist. Er gesteht unumwunden, dass es dem Menschen unmöglich ist, rein sittlich zu handeln, da er stets im Gesellschaftlichen verstrickt und auch als natürliches Wesen mit Trieben und Bedürfnissen ausgestattet ist, deren Befriedigung gegenüber der sittlichen Tat oft Vorrang haben muss, wenn er nicht zugrunde gehen will. Damit spricht Pestalozzi ein klares Ja zur ursprünglichen Konflikthaftigkeit und Spannung des Menschen. Dem Menschen können innerer Friede und Harmonie mit sich selbst und der Welt niemals als dauerhafter Besitz, sondern immer bloss als neues Geschehnis zuteil werden.

Die Nutzanwendung

Auf der Basis der dreifachen Sicht menschlicher Existenz lassen sich alle menschlichen Lebensvollzüge differenziert analysieren und damit besser verstehen, insbesondere, was die Widersprüche und deren Lösungen betrifft. Pestalozzi selbst zeigt dies an mehreren Beispielen, wovon hier jenes der Religion angeführt werden soll. Als natürliche Wesen reagieren wir mit Angst vor dem Numinosen und machen uns sinnliche Bilder von Gott und Jenseits. Das Gesellschaftliche im Bereiche des Religiösen zeigt sich in kirchlichen Vereinigungen mit je eigenen Sitten, Normen und Machtverhältnissen. Wahrhaft sittlich ist das Religiöse indessen erst als persönliches Innewerden des Göttlichen, als existentielle Antwort auf das im eigenen Innern erfahrene Göttliche. Typisch für Pestalozzi ist nun – da er ja um die Unmöglichkeit reiner Sittlichkeit weiss –, dass er trotz der klaren Wertung in dieser dreifachen Sichtweise das Natürliche und Gesellschaftliche nicht etwa ablehnt. Vielmehr schätzt er sie als ‘Einlenkungsmittel’ für das Sittliche, dies allerdings nur so lange, als das, was Mittel sein sollte, nicht den Zweck verhindert.

Pestalozzis Beispiele legen es nahe, grundsätzlich alle menschlichen Existenzphänomene hinsichtlich ihrer dreifachen Bedingtheit zu analysieren. So bedeutet etwa ‘Ehe’ natürlicherweise die selbstbezogene Suche nach Geborgenheit, Sicherheit und Lust; gesellschaftlich ist sie geregelt durch das Eherecht. Zur wahren Erfüllung kommt sie aber erst als sittliche Lebensform: als Liebe, Treue und Wille zur gemeinsamen Reifung. Weder die Trieb-Natur noch das gesellschaftliche Recht vermögen diese Erfüllung zu gewährleisten. Sie ist ganz dem freien Wollen der Partner anheimgestellt. Trotzdem würde sich Pestalozzi dagegen wenden, wollte man eines gegen das andere ausspielen.

Wesentlich bei dieser Analyse ist, dass ein Phänomen unter natürlichem, gesellschaftlichem oder sittlichem Aspekt je anders zu beurteilen ist hinsichtlich der jeweils wirksamen Gesetzmässigkeiten. Was sich im einen Zustand als angemessen erweist, widerspricht womöglich den Gesetzmässigkeiten eines andern. So gehört beispielsweise die institutionelle Macht wesentlich zum gesellschaftlichen Zustand, der ohne sie gar nicht bestehen kann, aber zur Erweckung sittlichen Lebens ist sie unbrauchbar.

Besonders bedeutungsvoll sind die Unterschiede zwischen gesellschaftlichem und sittlichem Zustand. Pestalozzi hat diese in einem späteren Werk unter den Begriffen ‘Kollektivexistenz’ und ‘Zivilisation’ bzw. ‘Individualexistenz’ und ‘Kultur’ zu fassen verstanden und daraus weitreichende politische Konsequenzen gezogen. Von hier aus ist auch leicht eine Brücke zu schlagen zu moderneren philosophischen Konzepten: Alles Gesellschaftliche ist dem ‘Bereich des Habens’ und alles Sittliche demjenigen des ‘Seins’ zuzuordnen. Entsprechendes – diesmal allerdings unter psychologischem Aspekt – ist hinsichtlich verdorbenem und unverdorbenem Zustand möglich.

Die in den ‘Nachforschungen’ entwickelte Sichtweise des Menschen liegt allen späteren Schriften Pestalozzis unausgesprochen zu Grunde. Sein Bemühen dreht sich stets um die Frage: Wie gelingt es, aufbauend auf der Natur des Menschen und unter Einbezug der gesellschaftlichen Verhältnisse, die natürlichen Triebe und Bedürfnisse auf eine solche Art befriedigen zu können, dass sie die höheren Möglichkeiten des Menschen nicht überwuchern, sondern vielmehr zur Grundlage werden können für die Entwicklung der Anlagen der höheren Natur und deren Weiterentwicklung zur Sittlichkeit? Seine ganze politische Philosophie und seine ganze Erziehungslehre sind ein immerwährender Versuch, diese Frage zu beantworten.

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