Arthur Brühlmeier

Website für Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Schule und Familie

Arthur Brühlmeier
Seite wählen

Ursachen und Lösungen von Konflikten

Grundsätzliche Erwägungen für die Erziehungspraxis in Schule und Elternhaus

Vorbemerkung:

Ich sehe von allen gesellschaftlichen Konflikten zwischen Gruppen und Institutionen ab und konzentriere mich in dieser Arbeit ausschliesslich auf personale Konflikte.

Vom Wesen des Konflikts

Wo Menschen zusammenleben, gibt es Konflikte. Wir erleben sie zumeist als belastend, und treten sie gehäuft auf, ohne dass wir sie bewältigen können, werfen sie einen dunkeln Schatten auf unser Leben. Aber ebenso wahr ist: Konflikte wirken als treibende Kräfte, uns selbst stets in Frage zu stellen und in unserer Selbstentwicklung nicht stehen zu bleiben. Die Fähigkeit, Konflikte auf eine menschliche, psychologisch richtige Weise zu lösen, schafft mehr Lebensqualität. Ob sich ein Mensch in seinem Leben glücklich oder unglücklich fühlt, hängt weitgehend davon ab, ob er auf Konflikte richtig reagieren und sie für seine Persönlichkeitsentwicklung fruchtbar machen kann.

Hören wir zuerst einmal einem Streitgespräch zwischen Mutter und Sohn zu:

Mutter:        Wo warst du gestern abend?

Sohn:          Was kümmert dich das?

Mutter:        Man wird doch noch fragen dürfen?

Sohn:          Deine ewige Fragerei geht mir auf die Nerven.

Mutter:        Hast du ein schlechtes Gewissen?

Sohn:          Jetzt halte aber das Maul.

Mutter:        Du, Bürschchen, werde nicht frech.

Sohn:          Du bist mir zuerst frech gekommen.

Mutter:        Saubub, mit dir ist nichts anzufangen.

Sohn:          Jetzt reicht’s mir aber. (Türe knallt.)

Auf Anhieb scheint es, ein Konflikt sei im wesentlichen eine dramatische Auseinandersetzung. Das ist indessen bloss die sichtbare Oberfläche, d.h. der manifeste Konflikt. Der eigentliche (latente) Konflikt liegt in der Tiefe und ist nicht ein einmaliger Vorgang (Prozess), sondern ein andauernder Zustand.

Blicken wir in die Tiefe, so erkennen wir zuerst, dass Mutter und Sohn über gewisse Belange unterschiedliche Ansichten und Absichten haben: Die Mutter vertritt die Ansicht, dass sie als Erzieherin für das Tun ihres Sohnes zumindest mitverantwortlich sei. Sie hat die Absicht, ihn zu kontrollieren, weil sie Angst hat, er könnte auf Abwege geraten. Sie vermutet, dass er in schlechten Kreisen verkehrt, die ihn verderben könnten. Im Gegensatz dazu hat der Sohn die Absicht, selbst über sich und seine Zeit zu entscheiden, und vertritt die Ansicht, dass er in seinem Alter der Mutter keine Rechenschaft mehr über sein Tun schuldig sei.

Eigentlich könnten diese Ansichten und Absichten in einem vernünftigen Gespräch offengelegt werden. Es handelt sich folglich um den rationalen Aspekt des latenten Konflikts.

Höchst wahrscheinlich lagen aber dieser heftigen Auseinandersetzung andere Ursachen zu Grunde, die den beiden kaum je bewusst werden und die in der Regel ganz aus dem Bereiche des Unbewussten wirken. Es ist hier so gut wie sicher, dass die Beziehung zwischen Mutter und Sohn durch negative Gefühle erheblich gestört ist. Fast alles ist möglich: gegenseitige Antipathie, Angst, Aggressionsgefühle, Schuldgefühle, Unterlegenheitsgefühle, verdrängte Triebansprüche, unerfüllte Erwartungen. Es handelt sich hier somit um den irrationalen Aspekt des latenten Konflikts.

In einem Streit (dem manifesten Konflikt) sind oft beide Aspekte des latenten Tiefen-Konflikts erkennbar: In den Argumenten, die man sich gegenseitig an den Kopf wirft, drückt sich der rationale Aspekt, in der Heftigkeit und in der Wahl der Angriffsmittel (verletzende Worte, Tätlichkeiten) zeigt sich mehr der irrationale Aspekt des latenten Konflikts.

Schematisch liesse sich demnach die Struktur eines personalen Konflikts wie folgt darstellen:

manifester

Konflikt

Der rationale Aspekt eines manifesten Konflikts ist jener Prozess, in welchem unterschiedliche Ansichten oder Absichten aufeinanderprallen.
Der irrationale Aspekt eines manifesten Konflikts ist jener Prozess, in welchem aversive Gefühle zur Entladung kommen.

 

 

Latenter Konflikt

Der rationale Aspekt eines latenten Konflikts ist jener Zustand, in welchem die Ansichten oder Absichten von zwei oder mehreren Individuen einander widersprechen.
Der irrationale Aspekt eines latenten Konflikts ist jener Zustand, in welchem die Beziehung zwischen Menschen durch Schuldgefühle, Aggressionsstrebungen, Unterlegenheitsgefühle, verdrängte Triebansprüche, Ablehnung, Angst, unerfüllte Erwartungen usf. belastet ist.

Eigen-Konflikte und Fremd-Konflikte

Wenn ich mich durch die Unterscheidung der Konflikte in Eigen- und Fremd-Konflikte um klare Begriffe bemühe, so ist dies keineswegs eine müssige Gedankenspielerei. Klare Begriffe sind vielmehr die Voraussetzung, um Konflikte praktisch bewältigen zu können. Führen wir uns zwei Beispiele aus dem Alltag vor Augen:

  1. a) Daniel möchte sich einen Radioapparat kaufen und macht dem Vater eine Szene, weil angeblich sein Taschengeld zu klein ist. Seine Mitschüler hätten teilweise das Drei- oder gar Vierfache.
  2. b) Die Mutter ist am Bügeln und hört im Zimmer nebenan, dass eines der Kinder laut zu schreien beginnt. Sie sind am Spielen, und der Ältere versucht dem Jüngeren einen Bauklotz zu entreissen.

In beiden Fällen prallen die Ansichten oder Absichten der Konfliktpartner aufeinander, aber Vater und Mutter sind in zwei grundsätzlich verschiedenen Konflikt-Situationen. Damit sie bei der Lösung des Konflikts angemessen reagieren, müssen sie die beiden Konflikt-Typen klar voneinander unterscheiden können:

  • Konflikte, die uns selber betreffen (z.B. Ehe-Konflikte, Auseinandersetzung mit den Kindern oder mit Mitarbeitern) bezeichne ich als ‘Eigen-Konflikte’.
  • Konflikte, die uns zwar belasten, die wir aber eher als Zuschauer erleben (Kinder untereinander; ein Kind gegen unsern Ehepartner) nenne ich ‘Fremd-Konflikte’.

Wir werden später sehen, dass wir uns bei der Lösung der beiden Konflikt-Typen je anders zu verhalten haben. Die Lösung von Eigen-Konflikten, in die wir selber verstrickt sind, ist ungleich schwieriger als die Lösung ‚beobachteter‘ Fremd-Konflikte.

Typische Konflikt-Anlässe

Wer ein Problem durchschaut, ist auf dem Weg zur Lösung. Zwar sind Konflikte noch lange nicht bewältigt, wenn man einsieht, woher sie kommen, aber eine gute Übersicht über mögliche Konflikt-Anlässe ist ein erster Schritt.

a) Konflikt-Anlässe im Bereiche der Ansichten

Jeder Mensch hat ein Anrecht auf eigene Ansichten. Solche sind allerdings nicht durchwegs ein Ausdruck eigenständigen Denkens, sondern entstehen sehr oft aus gefühlsmässigen und auch unbewussten Bindungen an Identifikations-Objekte, die ausserhalb des betreffenden Menschen liegen. Durch solche Bindungen werden wir Teile einer Gruppe oder Strömung. So vertreten wir oft Meinungen, die zum kollektiven Ideengut einer Gruppe, einer Partei, einer Kirche gehören; wir schliessen uns Modeströmungen an; wir finden uns einig in der Verehrung bestimmter Persönlichkeiten oder Idole; wir treten für gemeinsame gesellschaftliche Normen ein usf. Darüber hinaus hat jeder Mensch seine eigene Weltsicht, und je reifer er ist, desto stärker ist er mit seiner ganzen Existenz – mit seinem Denken, Fühlen und Handeln – in einem ihm bewussten Wertsystem verankert, für das er mit Überzeugung gerade steht.

Nun ist es eine kaum zu bestreitende Tatsache, dass es uns Menschen ganz allgemein Mühe macht, die persönlichen Ansichten der andern mit Gelassenheit zu ertragen.Vielmehr neigen wir dazu, die Ansichten der andern anzugreifen und unsere Mitmenschen von unseren eigenen Ansichten zu überzeugen. Das kann – in diktatorischen Verhältnissen – so weit gehen, dass jemand wegen seiner Ansichten diskriminiert, gequält oder gar physisch vernichtet wird. Angesichts dieses Sachverhalts drängt sich die Frage auf: Warum tun wir Menschen das? Was ficht es uns an, wenn die andern anders denken? Ist das nicht ihre Sache?

Ich sehe dafür drei gewichtige Gründe:

  1. Das Denken ist ja nicht bloss ein l’art pour l’art-Spiel, sondern strebt stets hin zum Handeln. Die Handlungen eines Menschen haben aber – wohl in jedem Falle – Konsequenzen für die Mitmenschen. Auf die Ansichten der Mitmenschen zu achten, heisst daher: das Entstehen von Handlungen im Keime zu beobachten. Es ist darum mehr als verständlich, dass wir den Kampf bereits im Anfangsstadium aufnehmen, wenn wir beim Mitmenschen Ansichten sich entwickeln und festsetzen sehen, die in ein für uns nachteiliges Handeln auszumünden drohen. Da gilt: Wehret den Anfängen! Alle Schlachten auf dem ideologischen Kampffeld werden unter diesem Gesichtspunkt nicht bloss verständlich, sondern zeigen sich in ihrer Unvermeidlichkeit.
    Mit andern Worten: Da wir wissen, dass Ansichten in Absichten umzuschlagen pflegen, fürchten wir uns vor all jenen Ansichten, die in eine für uns als nachteilig empfundene Absicht ausmünden könnten. Uns fremde Ansichten erzeugen Angst und oft genug auch begründete Angst. Wenn beispielsweise ein Ehepartner plötzlich die Ansicht vertritt, freie Liebe sei eigentlich normal, so argwöhnt der andere Partner zu Recht, diese Ansicht könnte in eine für ihn inakzeptable Handlung umschlagen, weshalb er eben bereits dieser Ansicht mit Vehemenz widerspricht.
    Angesichts dieser Sachlage könnte man versucht sein, sämtliche möglichen Ansichten in zwei Gruppen einzuteilen: Auf der einen Seite stünden jene, die, sobald sie in Handlungen umschlagen, eine Bedrohung für andere darstellen, und auf der andern Seite fänden sich jene, deren Handlungskonsequenzen grundsätzlich nicht bedrohlich sind. Als Beispiel: Vertritt einer die Ansicht, der Staat sollte den Alkoholkonsum verbieten, so fühlen sich alle Weinliebhaber und Winzer zu Recht bedroht. Äussert hingegen ein anderer die Ansicht, für ihn selbst sei es wohl am besten, keinen Alkohol zu trinken, so müsste sich eigentlich durch diese Haltung niemand bedroht fühlen. In der Praxis lassen sich natürlich die meisten Ansichten nicht so säuberlich in die beiden Gruppen trennen.
  2. Der Gedankengang im vorstehenden Abschnitt hat immerhin bewusst gemacht, dass nicht alle Ansichten bedrohlich sind. Es lässt sich aber unschwer feststellen, dass sich viele Menschen auch über harmlose Ansichten – teilweise sehr heftig – streiten. Um das zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass – wie Alfred Adler gezeigt hat – jeder Mensch mit tiefsitzenden Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen hat. Je grösser diese sind, desto stärker fühlt sich ein Mensch bedroht, wenn er feststellt, dass jemand seine Ansichten nicht teilt, denn damit wird ihm signalisiert, er könnte allenfalls falsch informiert sein, nicht konsequent genug denken oder anfechtbare Wertvorstellungen haben. Von unseren eigenen Überzeugungen abweichende Ansichten erwecken somit nicht bloss – wie oben gezeigt – Angst, sondern nähren auch die latent vorhandenen Minderwertigkeitsgefühle, was zu oft heftigen Abwehrreaktionen führt.
  3. Für alle, die erzieherische Verantwortung tragen, kommt noch ein Drittes hinzu: Ein erziehender Mensch fragt sich nämlich nicht bloss, ob vom Kinde oder Jugendlichen geäusserte Ansichten für ihn (den Erzieher) nachteilige Konsequenzen haben könnten, sondern erwägt stets auch, ob diese Ansichten allenfalls für den jungen Menschen selbst schädlich sein könnten. Ich gebe ohne weiteres zu, dass ich als Vater auch mit heftiger Gegenwehr reagieren würde, wenn eines unserer Kinder plötzlich die Ansicht verträte, eigentlich sei es völlig gleichgültig, ob jemand Drogen nehme oder nicht. Und ich täte dies nicht bloss, weil dies für mich selbst belastende Konsequenzen hätte, sondern weil ich nicht möchte, dass mein Kind – verführt durch eine solch fatale Ansicht – sein Leben zerstört.

Ich bin überzeugt, dass wir in den Familien manches Streitgespräch fruchtbarer führen könnten, wenn wir uns – gemeinsam mit den Kindern – ehrlich bemühten herauszufinden, ob die zur Diskussion stehende Ansicht

  • in ihren Handlungskonsequenzen für andere bedrohlich ist,
  • lediglich die Minderwertigkeitsgefühle der Beteiligten nährt oder
  • einer erzieherischen Verantwortung entspringt.

Dabei sei gleich angemerkt, dass wir Erzieher sehr leicht dazu neigen, unsere Gegenwehr gegen unliebsame Ansichten und unsere Belehrungen als „aus erzieherischer Verantwortung entsprungen“ zu erklären, obwohl sie – genau und ehrlich betrachtet – häufig eben auch nur Abwehrreaktionen gegen aufkeimende Minderwertigkeitsgefühle und Ängste darstellen. Die Kinder haben dafür zumeist ein sehr feines Gespür und rebellieren dann.

b) Konflikt-Anlässe im Bereiche der Absichten

Der grössere Teil der Konflikte lässt sich wohl auf den einfachen Nenner zurückführen: Du willst nicht das, was ich will. Auf der einen Seite steht ein Anspruch, auf der andern die Verweigerung. Der Anspruch kann lauten: Befriedige mein Bedürfnis, erfülle meinen Wunsch, gib mir mein Recht, erfülle deine Pflicht! Und dem allem steht zumindest ein Nein gegenüber, häufig aber darüber hinaus noch ein entgegengesetzter Anspruch des andern.

Auch hier gibt es wiederum drei Gründe, weshalb sich diese Konflikte in oft dramatischen Auseinandersetzungen entladen können:

  1. Sowohl Anspruch wie auch Verweigerung können blankem Egoismus entspringen: Jeder möchte seinen eigenen Vorteil, seine Lust, sein Wohl, sein Recht. Das Erlebnis, etwas nicht zu erhalten, das man gerne hat, oder etwas tun zu müssen, das man nicht will, verursacht ganz allgemein Unlust. Der entbrannte Kampf dient letztlich der Vermeidung dieses ‘primären Frustrationsgefühls’.
  2. Möglicherweise wesentlich belastender als dieses primäre Frustrationsgefühl sind die begleitenden (sekundären) Gefühle der Machtlosigkeit, Rechtlosigkeit, Hilflosigkeit und Schwäche und das Erlebnis, nicht ernst genommen zu werden, nicht akzeptiert zu sein, nicht so viel wert zu sein wie die andern (Eifersucht), nicht so viel zu erhalten wie die andern (Missgunst, Neid) usf. Wenn ich etwas, das ich beanspruche, nicht erreiche, so schmerzt mich nicht bloss, dass ich auf das Angestrebte verzichten muss, sondern zusätzlich erhalten meine Minderwertigkeitsgefühle Nahrung und wecken die Bereitschaft zur Kompensation. Alfred Adler hat schlüssig gezeigt, dass diese Kompensationen in allen möglichen Formen des Ringens um Geltung, Überlegenheit und Macht in Erscheinung treten, in Verhaltensweisen also, die geeignet sind, den Kampf gegen den Konfliktpartner zu intensivieren.
  3. Auch beim Aufeinanderprall von Absichten erwächst dem Erzieher zusätzlich in gewissen Situationen das Erfordernis, aus seiner erzieherischen Verantwortung heraus dem jungen Menschen mit Ansprüchen oder Verweigerungen entgegenzutreten. Im Gegensatz zur gelegentlich propagierten Antipädagogik, die dem Erzieher (Eltern und Lehrerschaft) rundweg das Recht absprechen will, dem Kinde gegenüber einen Anspruch zu erheben, denke ich, dass ich z.B. als Vater durchaus das Recht habe, vom Kind zu verlangen, dass es wieder aufräumt, wo es eine Unordnung hinterlässt. Das Prinzip ist für mich gültig, und deshalb ist es bloss noch eine Frage des Tons und des Weges, den ich zur Erreichung meines Zieles einschlage. Andererseits ist es ja selbstverständlich, dass wir die natürlichen Bedürfnisse des Kindes befriedigen, aber Kinder unterscheiden sich in einem Punkt durchaus nicht von uns Erwachsenen: Sie haben nicht bloss Bedürfnisse, sondern auch noch ziemlich viele Wünsche, und wir täten den heranwachsenden Menschen (und uns) einen schlechten Dienst, wenn wir ihnen jeden Wunsch erfüllen würden. Wer erzieht, kommt deshalb zwangsläufig in die Lage, dem Kinde gelegentlich mit Ansprüchen und Verweigerungen zu begegnen. Auf der andern Seite ist es von der Natur des Kindes her ohne weiteres erklärbar, dass es seinerseits Widerstand leistet, d.h. seinerseits verweigern will und seine Ansprüche steigert. Konflikte zwischen Erziehern und Kindern sind somit grundsätzlich unvermeidlich, und es ist an uns Erziehern, mit ihnen so umzugehen, dass alle Beteiligten daran wachsen.

c) Konfliktanlässe auf der Basis gestörter Gefühle

Wie oben gezeigt, handelt es sich beim Aufeinanderprallen unterschiedlicher Ansichten und Absichten um den rationalen Aspekt des Konflikts. Dieser ist, sofern man sich wieder beruhigt, vergleichsweise einfach zu erhellen und darum noch am ehesten vernünftig lösbar. Wesentlich schwieriger zu bewältigen sind Konflikte, bei denen der irrationale Aspekt relativ stark einwirkt. Wenn eine Begegnung zwischen Menschen belastet ist durch Antipathie, unbewusste Schuldgefühle, Ängste, Aggressionsstrebungen, Triebansprüche, Unter- oder Überlegenheitsgefühle, enttäuschte Erwartungen und alle möglichen Vorurteile und Projektionen, so genügt oft der kleinste Anlass, um in heftigen Streit zu geraten. Da genügt es, dass jemand schief blickt, forsch auftritt, sich schlaff hinsetzt, etwas lange redet, das Essbesteck falsch hält, die Krawatte schief trägt, Lust auf eine Zigarette hat oder einen leicht unpassenden Witz macht – und schon ist Feuer im Dach. Da hat es natürlich keinen Sinn mehr, über widerstrebende Ansichten oder Absichten zu diskutieren, sondern man muss den Problemen auf den Grund gehen. Grundsätzlich stellen sich folgende Fragen:

  • Gelingt es mir, in mir selber die latenten negativen Gefühle gegenüber dem Konfliktpartner zu erkennen?
  • Vermag ich zu erahnen, welche negativen Gefühle in meinem Konfliktpartner als dauernder Anlass zum Streit vorhanden sind?

Kann ich beide Fragen bejahen, so weist mir die Methode von Thomas Gordon einen Ausweg aus der belastenden Konfliktsituation. Im andern Fall steht man vor der Entscheidung, ob ein weiteres Zusammenleben mit einem Menschen, mit dem man sich auf der Gefühlsebene so schlecht verträgt, sinnvoll ist. Das mag als Resignation aufgefasst werden, aber es führt doch nichts an der Einsicht vorbei, dass Friede im zwischenmenschlichen Bereich eben in dem Masse erschwert ist, als die Beteiligten psychisch unausgeglichen sind. Wer den Frieden will, muss sich darum in erster Linie um eigene psychische Gesundheit bemühen.

Dramatisierung des Konflikts

Ist ein Konflikt einmal ausgebrochen (manifest geworden), so besteht erfahrungsgemäss die Gefahr, dass er an Intensität zunimmt und schliesslich in eine ‘szenische Entladung’ ausartet. Jeder, der schon in handfeste Streitereien verwickelt war, weiss, welche Dramen das Leben gelegentlich schreibt. Der psychische Mechanismus, der zu dieser Entladung führt, ist einfach zu durchschauen:

  • Sowohl das primäre Frustrationsgefühl wie auch das sekundäre Minderwertigkeitsgefühl (und allenfalls auch die Sorge und Angst des Erziehers) und ebenso jede Art unbewusster Ressentiments motivieren zum Streit, zum Machtkampf, zur Verhärtung.
  • Da dies bei beiden Konfliktpartnern geschieht, wird die Auseinandersetzung immer heftiger.
  • In der ‘szenischen Entladung’ versucht jeder stets, den Konflikt zu seinen Gunsten zu entscheiden und so zu lösen. Es ist gewissermassen der Versuch einer Lösung mit der Brechstange. Weil bei dieser Art von „Konfliktlösung“ stets der Stärkere siegt, wenden alle ein Maximum an Kraft und Energie auf.

Die ‘szenische Entladung’ löst eigentlich nichts, sondern heizt im Gegenteil den latenten Konflikt zumeist noch mehr an. Man muss darum – sofern man mehr Lebensqualität wünscht – nach andern Konfliktlösungs-Modellen suchen und handeln. Beide Modelle, die ich hier vorstellen werde und die sich gegenseitig ergänzen, führen zu einer Praxis, die auf eine szenische Entladung grundsätzlich verzichtet.

Umgang mit Konflikten aus der Sicht Pestalozzis

Da Pestalozzis Lehre, dass der Mensch eigentlich in drei Zuständen lebt bzw. leben kann, ein klärendes Licht auf das Problem der Konfliktlösung zu werfen vermag, gestatte ich mir, diese Theorie hier in kürzestmöglicher Form zu entwickeln:

Ausgehend von der Feststellung, dass wir Menschen sehr häufig im Widerspruch mit uns selbst, mit den Mitmenschen oder der Gesellschaft leben, und auf der Suche nach den Ursachen dieser Widersprüche, kommt Pestalozzi zur Erkenntnis, dass der Mensch einerseits im Naturzustand, andererseits im gesellschaftlichen Zustand und schliesslich, sofern er will, auch im sittlichen Zustand lebt.

  • Natürlich existieren wir Menschen, insofern wir an unsern physischen Organismus gebunden sind, insofern wir physische und psychische Bedürfnisse befriedigen, insofern wir Trieben und Instinkten unterliegen, insofern wir Unlust vermeiden und Lust suchen; ganz allgemein: insofern wir uns als Einzelwesen behaupten, unsern eigenen Vorteil suchen, uns durchsetzen und uns selbst erhalten wollen.
  • Gesellschaftlich existieren wir, insofern wir Teile eines funktionierenden Kollektivs, einer Institution sind, insofern wir Rechte beanspruchen und Pflichten erfüllen, insofern unser Handeln durch Gesetze oder ungeschriebene Regeln des Kollektivs bestimmt ist.
  • Sittlich existieren wir als wahrheitsuchende, liebende, verantwortungsbewusste, freie, kreative, sich selbst entwickelnde, dem Gewissen gehorchende Einzelwesen.

Die Widersprüche des Menschen erklären sich nun daraus, dass in jedem der drei Zustände andere Gesetzmässigkeiten herrschen. So ist z.B. im gesellschaftlichen Zustand das Misstrauen durchaus am Platz, während es in einer personalen Kommunikation, die sich vom Sittlichen her gestalten möchte, eine massive Störung darstellt. Oder: Als natürliche Wesen stellen wir notwendigerweise unser eigenes Wohlergehen an erste Stelle, aber als sittliche Wesen fördern wir in erster Linie das Wohlergehen des andern. Oder: Gesellschaftliche Regelungen bedürfen der Absicherung durch staatliche Macht, wenn sie wirksam werden oder bleiben sollen, aber in personalen zwischenmenschlichen Beziehungen wirkt der Anspruch der Bemächtigung des andern stets zerstörerisch.

In unserem Zusammenhang der Konfliktbewältigung ist Pestalozzis Drei-Zustände-Modell insofern fruchtbar, als es bewusst macht, dass uns grundsätzlich drei Wege der Konfliktlösung zu Gebote stehen:

  • Konfliktlösung im Naturzustand bedeutet, den personalen Machtansprüchen und Machtmitteln der Konfliktpartner freien Lauf zu lassen. Der Stärkere gewinnt.
  • Konfliktlösung im gesellschaftlichen Zustand bedeutet, die vorgesehene gesellschaftliche Macht in Anspruch zu nehmen, um jene Regelung durchzusetzen, die theoretisch in den Gesetzen für den konkreten Konfliktfall vorgesehen ist. Wer das Recht auf seiner Seite hat, gewinnt.
  • Konfliktlösung im sittlichen Zustand bedeutet, den wahren Konfliktursachen durch Ernstnehmen des jeweiligen Individuums auf den Grund zu gehen, sich für die Bedürfnisse und Anliegen des Partners unter Verzicht auf egoistische Vorteile zu öffnen, sich ihm in Verständnis und Liebe zu nähern und eine kreative, für alle Beteiligten annehmbare Lösung zu finden. Es gibt grundsätzlich keine Verlierer, da alle Beteiligten die gefundene Lösung wollen.

Es leuchtet wohl sofort ein, dass im familiären Zusammenleben stets sittliche Konfliktlösungen anzustreben sind. Die Erfahrung zeigt, dass dann, wenn dies scheitert, entweder zurückgegriffen wird auf eine „gesellschaftliche“ Regelung (Rückzug auf fixe Abmachungen ohne Bezug zum konkreten Konflikt) oder oft auch auf eine handfeste Auseinandersetzung im Naturzustand. Oft genug wird eine Lösung im sittlichen Sinne schon gar nicht angestrebt, ganz einfach, weil man dies nicht kennt oder die Gesprächstechniken, die dies ermöglichen, nicht gelernt hat. Ich komme auf diese später zu sprechen.

Ein Beispiel: Zwei Kinder können sich nicht einigen über Art und Lautstärke der Musik im Schlafzimmer vor dem Einschlafen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass sie diesen Konflikt auf der Ebene des Naturzustandes lösen wollen: Nach erfolglosem Wortgeplänkel, das bis zum Anschreien ausufern kann, dreht der eine dem andern die Musik ab; der Angegriffene verteidigt sein Gerät und dreht wieder auf, worauf sich der Angreifer auf das Stromkabel stürzt, um das Übel an der Wurzel zu unterbinden. Es ist klar: Hier gewinnt der Stärkere; und es ist ebenso klar: Der Unterlegene wird bei der nächstbesten Gelegenheit auf seine Weise zurückschlagen. Die Beziehung zwischen den beiden wird belastet, sogar vergiftet, und schliesslich finden sie kaum noch eine Gemeinsamkeit.

Nun treten oft die Eltern auf den Plan, und sind sie ungeschickt genug, versuchen auch sie es auf der Ebene des Naturzustandes. Das äussert sich so, dass sie gar nicht auf die Kinder hören, sondern schon alles wissen, sie vielleicht auch beschimpfen oder ohne viele Umstände bestrafen (vielleicht stossen sie die beiden Köpfe gegeneinander, weil dann jeder gleichviel abbekommt). Vielleicht auch ergreifen sie unverhohlen für die eine Seite Partei, um sich weitere Scherereien zu ersparen. Dass damit keine Konflikte bewältigt, sondern im Gegenteil neue geschaffen werden, liegt auf der Hand.

Ein gutes Stück geschickter sind wohl Eltern, die den Konflikt so schlichten, dass sie nach einem Kompromiss suchen und diesen als klare Regelung durchsetzen. Eine solche „gesellschaftliche“ Lösung könnte etwa so aussehen: Bis 21 Uhr ist Musikhören auf Lautstärke 2 gestattet, dann noch eine halbe Stunde auf Lautstärke eins, und dann gibt’s Ruhe. Der Nachteil dieser Regelung liegt darin, dass eigentlich keines der beiden Kinder dies will und dass darum die Eltern stets wieder ihre Macht einsetzen müssen, um das labile Gleichgewicht zu erhalten. Zwar ist nun einigermassen Ruhe, aber der wahre Konflikt ist bloss verdrängt, nicht gelöst.

Eine Lösung auf der sittlichen Ebene beginnt damit, dass jedes der beiden Kinder auf das andere hört, dass jedes dem andern offen sagt, welches seine Bedürfnisse sind und woran es sich stösst. In der Regel kommen solche Gespräche nur unter dem Beistand kundiger Eltern zustande. Getragen wird ein solches Gespräch durch das Grundgefühl der gegenseitigen Achtung und des gegenseitigen Wohlwollens, das sich etwa im Satz artikulieren könnte: „Ich will, dass es nicht nur mir, sondern auch dir gut geht; ich komme dir darum so weit wie möglich entgegen.“ Wie dann die Lösung schliesslich aussieht, ist ganz von der konkreten Situation der beiden Kinder abhängig. Vielleicht sagt eines: „Jeweils am Montag- und Donnerstagabend bin ich im Training, dann kannst du all das – und so laut, wie du willst – abspielen, was ich nicht mag. Wenn ich da bin, hörst du jene Stücke, die ich auch gerne höre, oder solche, die ich ausgewählt habe.“ Und dann erwidert vielleicht der andere: „Ja, und an den andern Tagen kann ich ja den Kopfhörer benutzen, um dich nicht zu ärgern.“ Es ist klar, dass solche Gespräche nicht bloss den aktuellen Konflikt lösen, sondern die beiden Kinder einander auch freundschaftlich annähern, wodurch die Wahrscheinlichkeit stark sinkt, dass man sich an jedem kleinsten Ding reibt.

Die Konfliktlösungsmethode von Thomas Gordon

Thomas Gordon ist besonders durch seine Bücher ‘Familien-Konferenz’ und ‘Lehrer-Schüler-Konferenz’ sowie durch weitere Schriften ähnlichen Inhalts bekannt geworden. Sein Anliegen ist es, dass Konflikte so gelöst werden, dass es weder Sieger noch Besiegte gibt. Die Methode ist so angelegt, dass sie sich bei allen drei erwähnten Konfliktanlässen – Aufeinanderprallen von Ansichten, widerstreitende Absichten, Streit auf der Basis gestörter Gefühle – bewährt. Immerhin ist es eine Hilfe, wenn man sich des Konfliktanlasses bewusst ist. Ist er zu Beginn einer Konfliktlösung noch nicht geklärt, so wird er zumeist durch die Anwendung der Gordon-Methode deutlich.

Wer Gordons „niederlagelose Konfliktlösungs-Methode“ anwenden will, muss im Wesentlichen über fünf Fertigkeiten verfügen:

a) Guten Willen mobilisieren können

Aus Pestalozzis Sicht ist die Anwendung der Methode Gordons nichts anderes als der Wille, Konflikte statt auf der natürlichen bzw. gesellschaftlichen auf der sittlichen Ebene auszutragen. Dies macht deutlich, dass man niemanden nötigen oder gar zwingen kann, nach Gordons Methode zu handeln, denn Sittlichkeit beruht auf Freiheit und ist letztlich wiederum nichts anderes als der gute Wille.

Das ist logisch rasch erkannt, aber der praktische Vollzug im Leben ist – mindestens für viele Menschen – oft sehr schwer. Es ist wesentlich leichter, seine ganze Energie auf die Durchsetzung eigener Interessen zu konzentrieren, als sich immer und immer wieder zu fragen, ob es einem mit dem Entschluss ernst ist, sich so zu verhalten, dass schlicht und einfach das Gute geschieht, ganz gleich, ob sich dies mit dem eigenen Egoismus verträgt. Der gute Wille ist ja nichts anderes als die Entschlossenheit, das Gute ohne Rücksicht auf eigene Vor- oder Nachteile zu wollen. Alles, was hier weiter folgt, ist darum nur für Menschen geschrieben, die guten Willens sind. Menschen mit schlechtem Willen kann auch Gordon nichts nützen.

b) Du-Botschaften vermeiden

Unter einer Du-Botschaft verstehen wir eine Aussage, die den Konflikt-Partner direkt aufs Korn nimmt, sei es durch eine simple Frage, eine Kritik, einen Befehl, eine Drohung, eine Klassifizierung bzw. Abstempelung oder durch eine Verletzung (Beschimpfung, Blossstellung usf.). Es gibt Du-Botschaften, die unter allen Umständen zu meiden sind (Beispiel: Verletzung), und es gibt solche, die in konfliktfreien Kommunikationen durchaus zulässig sind (z.B. Frage, Befehl). Im Rahmen der Bewältigung eines Konflikts – gleichgültig, ob ein Eigen- oder Fremd-Konflikt vorliegt – gilt die Regel: Keine Du-Botschaften! Wer sich daran hält, tut dies natürlich nicht, um eine Vorschrift zu befolgen, sondern im eigenen Interesse: Die Erfahrung zeigt nämlich immer wieder, dass Du-Botschaften in Konflikt-Gesprächen den Partner behindern, sich zu öffnen, und darum die Konfliktlösung erschweren oder gar unmöglich machen.

c) Eigen- von Fremdkonflikten unterscheiden

Wie bereits gezeigt, muss man, um diese beiden Konflikt-Typen unterscheiden zu können, darauf achten, ob man als Erzieher (bzw. als Mensch, der den Konflikt lösen will) selbst in den Konflikt verwickelt ist. Anfänger haben hier oft beträchtliche Mühe. So neigen sie beispielsweise dazu, die zu späte Heimkehr eines Sohnes oder einer Tochter als Fremd-Konflikt zu betrachten, obwohl es ja sie selbst sind, die sich durch dieses Verhalten gestört fühlen. Eigen-Konflikte sind leicht zu erkennen, sobald man sich angewöhnt, auf die eigenen Gefühle zu achten. Sind diese aus Anlass des Verhaltens der andern verstört, so liegt stets ein Eigen-Konflikt vor. Fremd-Konflikte betreffen uns nie direkt und können darum bei uns auf der Gefühlsebene höchstens Mitgefühl, Mitleid auslösen, aber nie etwa Verärgerung, Angst, Verletztheit, Wut usf.

d) Bei Eigen-Konflikten: Ich-Botschaften senden

Die psychologisch angemessene Verhaltensweise bei Eigen-Konflikten besteht darin, dem Konfliktpartner mitzuteilen, wie man sich in der Konfliktsituation selbst fühlt. Gordon bezeichnet solche Aussagen als ‘Ich-Botschaften’. Eine Ich-Botschaft kann man erst dann formulieren, wenn man gelernt hat, auf seine eigenen Gefühle zu achten. Echte Gefühlsäusserungen tönen etwa so:

Ich mag fast nicht mehr.

Ich fühle mich abgelehnt.

Ich bin verärgert.

Ich habe eine Wut im Bauch.

Ich möchte am liebsten davonlaufen.

Deine Bemerkung tut mir weh.

Wer eine Ich-Botschaft formuliert, deckt ein Stück seelischer Wahrheit auf. Er setzt sich damit aus, wird möglicherweise auch verletzbar, und das macht oft Angst. Es braucht darum einen gewissen Mut, seine verletzten und verstörten Gefühle einem andern – und ausgerechnet demjenigen, mit dem man ein Problem hat – mitzuteilen. Die Erfahrung zeigt aber, dass in der Regel durch eine Ich-Botschaft beim Konflikt-Partner die Bereitschaft erhöht wird, seinerseits von seiner Gefühlslage zu berichten.

In diesem Zusammenhang soll aber nicht verschwiegen werden, dass der masslose Gebrauch von Ich-Botschaften bei den andern unangebrachte Schuldgefühle und damit wiederum Abwehrreaktionen wecken kann. Der Fachmann kann auch sehr oft beobachten, dass psychisch wenig ausgeglichene Menschen die Ich-Botschaften als eigentliches Druck- und Machtmittel missbrauchen und damit ihre Umgebung tyrannisieren. Wer sich gedrängt fühlt, bei jedem nur erdenklichen Anlass Ich-Botschaften zu formulieren, sollte sich wohl fragen, was mit ihm los ist, dass seine Gefühlswelt so rasch aus dem Gleichgewicht geraten kann. Überhaupt möchte ich ganz allgemein raten, immer dann, wenn man sich veranlasst sah, zur Ich-Botschaft zu greifen, in sich zu gehen und seinen eigenen Anteil an der Verstörung seiner Gefühlswelt herauszufinden. Man dürfte wohl in den meisten Fällen fündig werden.

e) Bei Fremd-Konflikten: Aktiv zuhören können

Es dürfte eine alte Lebensweisheit sein, dass in einem Konflikt das Zuhören wichtiger ist als das Reden. Wenn ich jemandem wirklich zuhöre, beweise ich ihm, dass ich ihn ernst nehme und akzeptiere, und bloss schon durch dieses Verhalten leiste ich einen Beitrag zur Verständigung. „Ich will nichts hören“, dieser so häufig verwendete Satz hingegen demütigt, verletzt, entwertet und verschärft damit das Problem.

Um zu verstehen, was Gordon unter aktivem Zuhören versteht, muss man sich zuerst vergegenwärtigen, dass jede Aussage einen sachlichen und einen gefühlsmässigen Gehalt hat. Wer das aktive Zuhören nicht gelernt hat, achtet zumeist ausschliesslich auf den sachlichen Inhalt einer Aussage. Wenn ich aber einen Mitmenschen wirklich verstehen will, muss ich darüber hinaus auf die in einer Aussage mitschwingenden Gefühle achten. In einem Konflikt, wo eben diese Gefühle verstört sind, ist dies besonders wichtig. Aktives Zuhören besteht nun darin, dass ich die Gefühle meines Gegenübers wahrzunehmen versuche und dies dann in der Form einer Vermutung oder vorsichtigen Feststellung ausspreche. Treffe ich es, was sehr oft der Fall ist, fühlt sich mein Partner wirklich verstanden und ist zumeist bereit, selbst auf seine Gefühle zu achten und sie auszusprechen. Aktives Zuhören ist darum so etwas wie Geburtshilfe für Ich-Botschaften beim andern. Dies erreiche ich selbst dann, wenn ich mit meiner Mutmassung teilweise oder sogar ganz daneben treffe, weil nämlich der Partner meine Bemühung erkennt, ihn wirklich verstehen zu wollen. Er ist es dann selbst, der mit seinen Ich-Botschaften sein Inneres öffnet.

Es liegt wohl auf der Hand, dass nur jemand zu dieser anspruchsvollen Form der Kommunikation fähig ist, der selbst gefühlsmässig hinlänglich ausgeglichen ist. Das aktive Zuhören ist darum in erster Linie bei der Lösung von Fremd-Konflikten am Platz. Leidet z.B. ein Jugendlicher an einem Beziehungsproblem (Freund, Freundin), so kann ich ihm durch aktives Zuhören und unter Verzicht auf Du-Botschaften helfen, selbst einen Ausweg zu finden.

Aktives Zuhören kann allerdings auch in Eigen-Konflikten zur Anwendung kommen, aber erst dann, wenn sich die Gesprächssituation durch die Formulierung von Ich-Botschaften beruhigt und damit die eigene Gefühlslage einigermassen geglättet hat. Der Wechsel vom Formulieren von Ich-Botschaften zum aktiven Zuhören (und zurück) ist schon recht schwierig und bedarf beharrlicher Übung.

Aufbauend auf den hier genannten Fertigkeiten, hat Gordon seine Konfliktlösungs-Methode ausdifferenziert. Wer das Wesen dieser Fertigkeiten erfasst hat und die Geistesgegenwart aufbringt, sie in den entscheidenden Momenten auch wirklich einzusetzen, wird – vielleicht mit Überraschung – feststellen, dass er damit Erfolg hat. Eine wesentliche Hilfe ist es natürlich, eines der Bücher Gordons zu studieren, und am wirksamsten ist wohl der Besuch eines einschlägigen Kurses. Weltweit sind schon zwei Millionen Bücher Gordons verkauft worden, und deutlich mehr als eine Million Menschen haben einen Gordon-Kurs besucht. Ich kann Eltern, die an einer guten Familien-Atmosphäre interessiert sind, nur empfehlen, ebenfalls einen solchen Kurs zu besuchen.

Konfliktvermeidung und weitere Hilfen

Zwar ist es richtig, dass Konflikte immer dann, wenn man sie bewältigen konnte, fruchtbar gemacht sind, und trotzdem ist es wohl berechtigt, die Zahl der Konflikte möglichst klein zu halten. Es gehört darum zur Klugheit, sich so zu verhalten, dass Konflikte gar nicht entstehen. Wohl die meisten heftigen Auseinandersetzungen wären eigentlich gar nicht nötig.

Grundsätzlich lassen sich viele Konflikte durch geschickte Organisation des Lebensalltags vermeiden. Das betrifft die Einteilung der Zeit, die Gestaltung der Räume, die ständig sich wiederholenden Tätigkeiten. Da dies alles von der jeweiligen Situation abhängig ist, möchte ich mich hier auf die Erwähnung des Grundsatzes beschränken und nicht ins Detail gehen.

Sodann haben wir in den meisten Situationen die Möglichkeit, uns eines freundlichen, entgegenkommenden, sogar herzlichen Umgangstons zu bedienen. Das hat nichts mit süsslichem Theater, wohl aber etwas mit Sprach- und Herzenskultur zu tun. Ich sage damit keineswegs, dass man nicht gelegentlich übellaunig oder barsch werden kann, aber es sollte eben doch eher die Ausnahme sein. Wer mit seinen Kindern von klein auf in einem höflichen Ton verkehrt, schafft damit eine Atmosphäre der Achtung, in der nicht sofort aus jeder Mücke ein Elefant gemacht wird. In einer solchen Atmosphäre sind dann auch die tatsächlich entstehenden Konflikte wesentlich leichter zu bearbeiten.

Des weiteren sollte man es sich abgewöhnen, seine Kinder immer ausgerechnet dann erziehen zu wollen, wenn sie mitten in einem Konflikt stecken und aufgebracht sind. Grundsätzliche Erwägungen, in die Zukunft weisende Entschlüsse, allgemeine Verhaltensnormen usf. sollten nicht in Konflikt-Situationen, sondern in konfliktfreien Gesprächen (bei Tisch, am Abend, auf Wanderungen usf.) zur Sprache gebracht werden. Dann kann man die Gedanken in Ruhe entwickeln, und die Kinder können sich mit ihnen in Ruhe auseinandersetzen.

Letztlich ist natürlich die ganze Art und Weise, wie wir als Erwachsene mit den Kindern von klein auf umgehen, entweder konfliktsteigernd oder konfliktabbauend. In dem Masse, wie es uns z.B. – nicht zuletzt durch unser Vorbild – gelingt, in den Kindern ein tragfähiges Wertgefühl und allgemeine Kommunikationskultur zu entfalten, werden Konflikte weniger zahlreich und weniger destruktiv. So kommt z.B. durch die Beachtung der Gordonschen Regeln eine ganz andere Atmosphäre auf, als wenn man nach alter Manier alle Konflikte mit Macht bereinigt. Man erlebt dabei, dass man nicht nur die kindliche Eigen-Art ganz allgemein besser annehmen kann, sondern dass man auch als Erzieher selber wächst und damit auch das Vertrauen auf die selbstregulierenden Kräfte im Kinde stärker wird. Je mehr aber das Kind dieses Vertrauen spürt, desto mehr erstarkt es und desto besser gelingt es ihm, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Zum Schluss sei mir gestattet, auf eine Hilfe hinzuweisen, die gewiss nicht alle Menschen in Anspruch zu nehmen gewillt sind, die ich aber für wesentlich betrachte. Es handelt sich um jene Kräfte, die uns aus einem unsichtbaren Bereich zufliessen, sofern wir uns ihnen öffnen. Die Aufgabe, Kinder in ihrem Erwachsenwerden zu betreuen und zu begleiten, ist so anspruchsvoll und erfordert so viel Kraft und eine so grosse Fähigkeit, sich nicht entmutigen zu lassen, dass ich mir eigentlich nicht so recht vorstellen kann, wie dies alles geht oder gehen soll ohne höheren Beistand. Ich denke, dass es sich lohnt, diesen immer wieder zu erbitten, auch und gerade im konkreten Konfliktfall.

Weitere Themen: