Arthur Brühlmeier

Website für Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Schule und Familie

Arthur Brühlmeier
Seite wählen

Gedenktafeln müssen sich kurz fassen. So lesen wir auf einer solchen an der Untergasse 4 in Biel, einem ehemaligen Pfarrhaus: „In diesem Hause wirkte Heinrich Pestalozzi vom Herbst 1767 bis Frühling 1768 als Erzieher.“ Aber in der Kürze liegt oft nicht bloss die Würze, sondern auch die Ungenauigkeit. Genau müsste es heissen: „In diesem Hause wohnten anno 1767 und 1768 der zweite Pfarrer Johann Jakob Eldin sowie der Pfarrhelfer Abraham Friedrich Bluntschli, die den zwanzigjährigen Goldschmiedelehrling Heinrich Lavater in Kost und Logis aufgenommen hatten. Dieser war ein unbezähmbarer Lümmel, weshalb sein um sechs Jahre älterer Bruder Johann Caspar Lavater, der in Zürich bereits ein angesehener Prediger war, den aus der Studentenzeit befreundeten Heinrich Pestalozzi bat, den missratenen Heinrich auf den Weg der Tugend zurückzubringen“. Es waren zwei Gegebenheiten, die den Pfarrer Lavater auf die Idee brachten, den einundzwanzigjährigen Pestalozzi in diese heikle Aufgabe einzuspannen: Einerseits hatte Heinrich Lavater offensichtlich noch eine gewisses Zutrauen zum um ein Jahr älteren Pestalozzi, andererseits verweilte dieser seit dem 8. September 1767 zum Zweck einer landwirtschaftlichen Ausbildung bei Johann Rudolf Tschiffeli in Kirchberg (Bern), das aus der Sicht eines Zürchers einigermassen in der Nähe von Biel liegen musste.

Pestalozzi, dem es nicht gegeben war, jemandem ohne sehr guten Grund eine Bitte abzuschlagen, liess sich auf dieses Abenteuer ein, offensichtlich in der Hoffnung, mehr ausrichten zu können als die beiden Pfarrherren und Heinrichs Lehrmeister, der Goldschmied Abraham Breitner. So unterbrach er, vermutlich viermal, für einige Tage oder gar wenige Wochen, seine Lehre in Kirchberg und nahm an der Untergasse 4 in Biel Wohnsitz. Heute würde man allenfalls einen Psychologen mit einer solchen Aufgabe betrauen, aber damals kannte man angesichts der moralischen Verwahrlosung eines Jugendlichen keine andern Methoden als Bestrafung oder – wie hier – den moralischen Appell. Es ist nicht daran zu zweifeln, dass auch Pestalozzi dem Tunichtgut gut zuredete, durch bestgemeinte Ermahnungen an sein Gewissen appellierte und ihn so zur Umkehr zu bewegen versuchte, doch es fruchtete alles nichts. Pestalozzi erntete bloss Spott und Hohn. Bereits am 17. Dezember richtete er sich an seinen Auftraggeber, an Pfarrer Lavater, und beschreibt ihm anschaulich die Verworfenheit seines Bruders.

Man fragt sich, was Pestalozzi denn noch in Biel hielt. Nun muss man wissen, dass er sich damals im Zustand höchster Verliebtheit befand und sich mit seiner Geliebten, der reichen Zuckerbäckerstochter Anna Schulthess, gegen den Willen ihrer Eltern in aller Heimlichkeit verlobt hatte. Unter freundschaftlicher Mithilfe von Annas Bruder, der damals im Hause seiner künftigen Gattin in Neuenburg weilte, war es nun den beiden möglich, einander nicht bloss in geheimen Briefen, sondern auch von Angesicht zu Angesicht zu begegnen: Anna reiste nach Neuenburg zu ihrer künftigen Schwägerin, und Pestalozzi konnte sie von Biel aus verhältnismässig leicht besuchen, oder dann trafen sie sich auf halbem Weg in La Neuveville. So hatte der Bieler Aufenthalt für Pestalozzi, auch wenn er beim missratenen Heinrich Lavater nichts ausrichten konnte, doch einen tieferen Sinn, und insgeheim dürfte er den Gebrüdern Lavater dankbar gewesen sein, nach Biel geschickt worden zu sein.

Weitere Themen: