Arthur Brühlmeier

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Pestalozzi: Die Sprache seiner Gebeine

Hansueli F. Etter: Johann Heinrich Pestalozzi – Sein Erscheinungsbild und seine Leiden. Pestalozzianum Zürich 1984

Ein weissblühender Rosenbusch sollte auf sein Grab gepflanzt werden, so hatte es Pestalozzi selbst gewünscht. Man respektierte seinerzeit diesen Wunsch, und so zeigt denn ein zeitgenössischer Stich über dem Pestalozzi-Grab an der Westseite des Birrer Schulhauses einen schlichten Strauch. Wie man weiss, wurde dann aber anlässlich Pestalozzis hundertstem Geburtstag an der Nordseite des neuen Birrer Schulhauses ein Ehrenmal errichtet, und ein pathetischer Spruch aus der Feder Augustin Kellers erinnert an Pestalozzis wichtigste Lebensstationen.

Als man nun im Frühjahr 1984 im Zuge einer Neugestaltung des Ehrenmals den von Pestalozzi gewünschten Rosenstrauch pflanzen und daher eine Steinplatte versetzen wollte, kam zur grossen Überraschung aller eine unverfüllte Gruft zum Vorschein, in der Pestalozzis Gebeine lagen. Man hatte seine sterblichen Überreste, wie spätere Nachforschungen ergaben, durch einen «Übersarg» aus dem Grab heraufgehoben, sie während des Baus provisorisch an der Südseite des Schulhauses bestattet und sie dann im Zuge eines feierlichen Aktes in die neuerstellte Gruft an der Nordseite des Neubaus zur Ruhe gelegt.

Nicht jedermann war davon überzeugt, dass es sinnvoll sei, jetzt diese Ruhe des grossen Pädagogen zu stören. Jedoch der aargauische Kantonsarchäologe fasste auf Anregung des Pestalozzianums den Entschluss, Pestalozzis Gebeine anthropologisch untersuchen zu lassen. Mit der Ausführung der wissenschaftlichen Arbeit wurde der Anthropologe Dr. Hansueli Etter betraut.

Dr. Etter hat eine vorzügliche Arbeit geleistet, weshalb sich das Pestalozzianum dazu entschloss, den abschliessenden Bericht einer breitern Öffentlichkeit in Buchform zugänglich zu machen.

Das Buch liegt vor mir: eine wirklich gediegene, reich bebilderte und auch für den anthropologischen Laien lesbare Arbeit; kein Wälzer: mit allem Drum und Dran gegen 70 Seiten. Für mich ist es eine spannende Lektüre, nicht nur, weil ich als Laie hier den beinahe kriminalistischen Methoden der archäologischeu Anthropologie begegne, sondern weil es dem Verfasser gelungen ist, die toten Gebeine Pestalozzis zum Leben zu erwecken. Was im Titel versprochen wird – «Sein Erscheinungsbild und seine Leiden» – findet in einer prägnanten Darstellung seinen Niederschlag. Zuerst stellt der Autor den Grabfund in Wort und Bild vor, weist dann die Identität der Gebeine, insbesondere anhand einer aus dem Jahre 1809 stammenden Lebendmaske, aber auch anhand biographischer Eigenheiten, nach und nimmt dann eine Reihe bekannter Pestalozzi-Portraits im Hinblick auf ihre Originaltreue unter die Lupe. Aufgrund des praktisch vollständig erhaltenen Schädels und der Lebendmaske rekonstruiert dann Dr. Etter Pestalozzis Schattenriss und weist ohne Schwierigkeiten nach, dass der überlieferte Schattenriss aus Pestalozzis Jugend auf einer Verwechslung beruhen muss.

Besonders interessant ist das Kapitel über die pathologischen Befunde, wo Etter nachweisen kann, dass Pestalozzi über Jahrzehnte an zahlreichen, schmerzhaften Gebresten litt. Nicht ohne Mitgefühl blickt man da auf ein Loch im Schädel hinter dem rechten Ohr, das Pestalozzi in einer Operation (ohne Narkose!) 1812 vom Chirurgen zugefügt wurde, um dem Eiter aus dem durch eine unvorsichtige Manipulation mit einer Stricknadel verletzten Mittelohr einen Abfluss zu ermöglichen. Pestalozzi schrieb damals seine Schrift «Der kranke Pestalozzi an das gesunde Publikum», wovon allerdings nur noch ein Fragment erhalten ist.

Nicht selbstverständlich und besonders sympathisch ist die Tatsache, dass sich Dr. Etter nicht nur mit Pestalozzis Gebeinen, sondern auch intensiv mit seinem Werk und seinem Leben auseinandergesetzt hat. Es wird spürbar, dass hier eine Begegnung stattfindet und dass – trotz untadeliger Wissenschaftlichkeit – der Autor zu seinem Gegenstand keine kühle Distanz wahrt, sondern sich davon ergreifen lässt. Er legt nicht nur Fakten vor, sondern vermag sie einzuordnen in einen grössern geistigen Zusammenhang. Aufgrund des schriftlich Überlieferten wissen wir nämlich wenig über Pestalozzis körperliche Leiden, und es passt durchaus zur ganzen Grundhaltung Pestalozzis, dass er seinen eigenen Leiden kaum Beachtung schenkte.

Für den psychologisch interessierten Leser hat Dr. Etters Nachwort, in welchem er – legitimiert durch sein Studium am C. G. Jung-Institut – den Versuch unternimmt, Pestalozzi mit Hilfe der Jung‘schen Typologie zu sehen, seinen besondern Reiz. Man mag vorerst überrascht sein, dass Etter den grossen Pädagogen, der sich selbst stets als Mann des Gefühls verstand, als introvertierten Denktyp bezeichnet. Die zahlreichen von Jung stammenden Zitate sind aber derart überzeugend, dass man den Eindruck gewinnt, sie wären Pestalozzi auf den Leib geschrieben worden.

Das auch in graphischer Hinsicht sehr ansprechende Bändchen wird umrahmt durch ein Vorwort des Direktors des Pestalozzianums, Dr. Hans Wymann, und einer Gedenkrede von Prof. Dr. Heinrich Roth, die er in der Kirche Birr am 26. Oktober 1984 anlässlich der Wiederbestattung der Gebeine Pestalozzis hielt. In seinen Gedenkworten stellt Prof. Roth die neugewonnenen Erkenntnisse, so interessant sie an sich sind, in den ihnen zustehenden grössern Rahmen. Er zeigt in kurzen Worten, was Pestalozzis innigstes Anliegen war: dem Menschen zu helfen, Mensch zu werden.

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