Arthur Brühlmeier

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Vieles von dem, was wir Menschen tun, dient ganz einfach dazu, uns oder unsere Art zu erhalten. Die entsprechenden Handlungen sind rein zweckhaft: Wir führen uns Kalorien zu, wir bewegen uns vom Punkt A nach B, wir sprechen, um Informationen weiterzugeben, wir hören hin, um solche zu erhalten, wir errichten Wohnungen, um uns zu schützen, bauen fahrbare oder flugfähige Vehikel, um bequem voranzukommen, usf. Eine wesentliche Möglichkeit des Menschen besteht nun darin, dass er unter bestimmten Bedingungen seine zweckhaften Tätigkeiten hinaufheben kann auf eine neue Stufe, womit dieses Tun in sich selbst sinnvoll und für den Tätigen erfüllend wird. Diese höhere Stufe ist im weitesten Sinne das Ästhetische. So bewegt sich ein Mensch nicht bloss unter Einsatz der geringstmöglichen Energie von A nach B, sondern er verleiht seiner Gehbewegung eine neue Qualität, indem er tanzt und dadurch in sich oder auch im Betrachter ein seelisch-geistiges Erlebnis erzeugt, das nichts mehr mit dem blossen Überwinden einer Distanz zu tun hat. Oder wir essen und trinken nicht bloss, um Hunger und Durst zu stillen, sondern bereiten mit allem Drum und Dran ein Mahl, das auch Geist und Seele erfreut. Dieses Hinaufheben einer Verhaltensweise aus dem bloss Zweckhaften auf die Stufe des Ästhetischen ist eine besondere Art der menschlichen Kultur, und dieses Kultivieren garantiert dem Menschen im Allgemeinen das Erlebnis von wirklicher oder höherer Lebensqualität. 

Die Unterscheidung einer Verhaltensweise als bloss zweckgerichtet oder ästhetisch kultiviert wirft auch ein Licht auf den Begriff ‚Bildung’. Man kann darunter ja vieles verstehen. Unter anderem lässt sich dieses Hinaufheben einer Tätigkeit auf die ästhetische Stufe wesensmässig als ‚Bildung’ erfassen, wogegen dann das Einüben in die bloss zweckhafte Tätigkeit als ‚Ausbildung’ zu bezeichnen wäre. Gewiss ist eine gute und gründliche Ausbildung nicht zu verachten, aber eine Schule, die sich im weitesten Sinne der Aufgabe der ‚Menschenbildung’ verpflichtet fühlt, darf dabei nicht stehen bleiben. Tut sie dies, leistet sie keinen konstruktiven Beitrag gegen die geistige Verarmung, die sich als Folge eines blossen Nützlichkeitsdenkens ergeben muss. Für einen Lehrer lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche von jenen Tätigkeiten, die seinen Unterricht ausmachen, kultiviert und damit dem Bereich des rein Zweckhaften enthoben werden können.

Ich möchte mein Anliegen am Beispiel der Sprache verdeutlichen. Ohne Zweifel ist schon viel erreicht, wenn unsere Schüler in ihrem Denken Informationen bereitstellen und diese mittels der Sprache angemessen übermitteln können. Wer darüber verfügt, ist ausgebildet, aber gebildet im Vollsinne ist er eben noch nicht. Wahrhafte Bildung erfordert eine Kultivierung von Sprechen und Sprache im Sinne eines Emporhebens auf die höhere Stufe des Ästhetischen. Das beginnt bereits bei der Artikulation. Natürlich dient auch das lautrichtige Sprechen zuerst einmal dem Zweck der besseren Verständlichkeit, aber dessen Sinn erschöpft sich nicht darin. In der korrekten und gepflegten Artikulation meldet sich bereits eine andere Dimension, nämlich die Musik, und damit eine neue Erlebnismöglichkeit – sowohl für Sprecher wie für Hörer – als ein Ausdruck des menschlichen Geistes. Letztlich geht es ja im Bilden immer darum, das Geistige zu spüren und zu fördern, und der bildungs- und qualitätsbewusste Lehrer nimmt diese Aufgabe bei jeder Gelegenheit wahr.

Zum kultivierten Sprechen gehört indessen nicht bloss die korrekte Artikulation, sondern gehören auch Atmung, Stimmführung, Modulation, Tempo, Pausen, Akzentsetzungen, Betonungen. Letztlich handelt es sich hierbei sowohl um eine Wissenschaft wie um eine Kunst, die professionelle Sprecher – etwa Schauspieler – beherrschen müssen. Im Moment möchte ich noch nicht auf didaktische Einzelheiten eingehen, sondern es beim Hinweis bewenden lassen, dass der gesamte Sprachunterricht und auch die Sprachpflege in allen andern Fächern eine völlig andere Qualität bekommen, wenn einem Lehrer die Bedeutung der ästhetischen Dimension bewusst ist und er entsprechende Ziele setzt. Ihm wird sofort auffallen, dass die heute gängige Definition von ‚Lesen’ (‚Lesen’ gleich Sinnentnahme) unter pädagogischem Aspekt zu kurz greift. ‚Lesen’ ist wesentlich mehr, nämlich auch: Sinn vermitteln, Sprechen gestalten. Sind einem diese Zusammenhänge in ihrer wirklichen Bedeutung klar geworden, wird man sich niemals damit zufrieden geben, dass die Schüler z.B. ein Gedicht oder irgend einen Prosatext verstanden haben. Vielmehr wird man erkennen, dass die eigentliche Hauptarbeit – die Sprech-Gestaltung – erst noch bevorsteht. Dabei ist das Kind in einer wesentlich anderen und intensiveren Art selbst tätig als beim bloss verstandesmässigen Aufnehmen eines durch den Text vermittelten Inhalts. Erst durch diese gestaltende Tätigkeit macht es sich dann den Text – das Gedicht, die Geschichte, die Schilderung – seelisch-geistig zu eigen. Und erst diese aktive Aneignung eines Werks verdient es, ‚Bildung’ genannt zu werden.

Eindrücklich bestätigt finden wir dieses Anliegen im Roman „Öppi, der Narr“ des Schweizer Schriftstellers Arnold Kübler. Er erzählt in diesem vierten Band seiner Autobiographie (S. 229), wie er in Berlin tagelang übte, die Werke der grossen Schriftsteller in reinem Bühnendeutsch zu sprechen, und dieses lautreine und kreative stimmliche Gestalten geschriebener Sprache als höchste Lust empfand: „Lesen? Armseliger Notbehelf. Sprechen war leben. Sprechen war gestalten. Welche Lust war das, so ein Wort dem Grabe des Buches zu entreissen, es in die Luft zu werfen, farbig, einmalig, scharf oder weich, je nach Bedarf, je nach Laune oder Eingebung, ihm andere zu gesellen, gedehnte, gehäufte, geballte und rasende, sie zusammenzufügen, sich entfalten zu lassen wie die Blätter, Knospen und Blüten eines Baumes. Dass der Sinn strahlend sich aus dem Ganzen erhob und der Leib begeistert war von der Lust des schaffenden Atems.“

Was hier anhand der Sprache gezeigt wurde, findet seine Entsprechung bei der Pflege der Kommunikation, aber auch in Fächern wie Schreiben, Zeichnen, Musik, Gymnastik und ganz allgemein bei der schriftlichen und zeichnerischen Darstellung irgend eines Sachverhalts. In jedem Falle geht es darum, über das bloss Zweckhafte hinauszugehen und den Schüler in den Bereich der Kultur, auf die Ebene des Ästhetischen hinein- bzw. hinaufzuführen. In dem Masse, wie dies gelingt, gewinnt unsere Bildungsarbeit an Qualität.

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