Arthur Brühlmeier

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Alles für andere, für sich nichts?

Gedanken zur „Gemeinnützigkeit“ von Pestalozzis Tätigkeit

Nachlese zu meinem in freier Rede gehaltenen Referat anlässlich der Gesellschaftsversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) am 30. 10. 1998 in der Kirche Birr

Im Hinblick darauf, dass sich die Gemeinnützige Gesellschaft am Grabe Pestalozzis, also jenes Menschen versammelt, der nicht bloss ihr erster Präsident war, sondern dem Volk als Inbegriff von Gemeinnützigkeit gilt und dem die Gemeinnützigkeit im kernigen Denkmalsspruch („Alles für andere, für sich nichts“) bestätigt ist, scheint es angezeigt, über diese Gemeinnützigkeit bei Pestalozzi etwas nachzudenken.

Der erwähnte Satz erscheint uns heute pathetisch, zu absolut und darum unglaubhaft. Er reizt zum Widerspruch. So betitelt etwa Otto Wollschläger seine psychologisch fundierte und stark auf den Narzissmusbegriff zentrierte Analyse von Pestalozzis Biographie mit „Alles für andere, alles für sich“. Oder von marxistischer Seite wird im Zuge einer Diskussion über den politischen Pestalozzi die These vertreten, dieser habe auf dem Neuhof die Interessen der ländlichen Oberschicht vertreten. Peter Stadler, Autor der neusten Pestalozzi-Biographie, sieht Landwirtschaftsbetrieb und Armenanstalt als eine Einheit und signalisiert seinen Zweifel am klassischen Bild des Armenvaters schon in der entsprechenden Kapitelüberschrift: „Gutsbetrieb zwischen Kommerz und Kindererziehung.“ Und neuerdings steht Fritz Osterwalder dafür ein, Pestalozzi vor allem als eine mythische Figur zu sehen, die im letzten Jahrhundert für politische Zwecke instrumentalisiert wurde.

Das verdienstvolle Bemühen, Pestalozzi nicht als einen Heiligen, sondern als einen Menschen zu sehen, der – wie alle andern – am Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen zu leiden hatte, läuft allerdings gelegentlich Gefahr, übers Ziel hinauszuschiessen, womit dann eine Unwahrheit durch eine andere ersetzt ist. Dazu ein paar Beispiele.

Am Beginn von Pestalozzis Laufbahn steht der Landwirtschaftsbetrieb, dessen gemeinnützige Zwecksetzung wohl am leichtesten in Zweifel zu ziehen ist. Darüber bemerkt Peter Stadler: „Also nichts von Menschen- und Armenliebe, sondern kühles Renditedenken – dies als Korrektur einer herkömmlichen Ansicht, die gerne eine philanthropische Leitlinie durch dieses Leben gezogen sähe. Davon ist auf dieser Stufe seiner Existenz noch nichts zu erkennen; er hätte sich solche Überlegungen auch gar nicht leisten können.“ Nun belegt aber der Briefwechsel zwischen Pestalozzi und seiner künftigen Gemahlin aus der Brautzeit ganz klar das Gegenteil. So schreibt Heinrich an Anna Schulthess: „… wie wohl wird uns nicht sein, wenn wir bei unseren Spaziergängen niemand mehr fürchten müssen und uns jeden Schritt ein bekannter Nachbar darum kennt, dass wir ihm gut sind, dass wir ihn lieben, einem Mann, dem wir Gefälligkeiten erwiesen, dann ein Weib, das Du in einer Krankheit, die sie erst verlassen, besucht, dann Kinder, denen wir tausend kleine Freuden machen, dann ein Greis, der, unvermögend, dennoch kein Almosen bittet, aber uns kennt, dann frohe Arbeiter, die uns segnen, dass wir ihnen durch unseren Beruf nützen. … Mein Kind, ist es möglich, wirst Du Dich nicht gerne einschränken, wenn tausend um uns her des Benötigten mangeln? … Ach, Segen und Freude um sich her zu verbreiten, welche Wollust, welche Entzückung! Und aus einer unbemerkten niederen Hütte der Segen des Landes sein, o Geliebte, wie überfliesst mein Herz von Hoffnungen! … O Freundin, wie soll die reine Quelle mir schmecken, und wenn ich Wein habe, soll er den schwachen Kranken erquicken und nicht die Sünden üppiger Gastmahle veranlassen! Nein, jede Besucher sollen es sehen, dass ich den Reichtum und die Wollust verachte, dass ich den Armen helfe, wie ich kann.“ Und auch Anna wäre falsch beurteilt, glaubte man, sie hätte sich vom künftigen erfolgreichen Geschäftsmann faszinieren lassen. Pestalozzis soziale Zielsetzungen waren ihr nicht bloss bewusst, sondern galten ihr als eigentliche Bedingung, sich mit ihm ehelich zu verbinden. So schreibt sie an ihren Geliebten, nachdem sie mitangesehen hatte, wie ihre Mutter eine künftige Schwiegertochter umarmte: „‘Ach‘, sagte ich zu mir selbst, ‚so wird sie mich einst segnen, so wird sie meinen Freund lieben, wenn sie von seiner Tugend und der Grösse seiner Seele überzeugt ist, wenn sie durch ihn selbst weiss, dass der Endzweck seiner Unternehmungen das Glück vieler seiner Nebenmenschen zur Absicht hat, so liebt sie ihn.‘ Ja, gewiss liebt sie Dich! Ich erwarte mit Dir die Tage der Zukunft, mit unaussprechlicher Ruhe erwarte ich sie. Diese Tage sollen jedermann überzeugen, dass wir glücklich seien, weil wir unser Glück in der Tugend suchen.“

Die Realität war dann freilich nüchterner und bedrückender: Pestalozzi musste gegen die Nachbarn, denen er Segen und Freude zu sein erträumt hatte, seine Unternehmerrechte gerichtlich einfordern und scheiterte insgesamt kläglich.

Nun ein Wort zur Armenanstalt: Natürlich war es nicht so, dass Pestalozzi bankrott ging und dann – als wäre diese Möglichkeit vom Himmel gefallen – eine Anstalt gründete, um – gemäss dem Spruch auf dem Denkmal – „Retter der Armen“ zu werden. Zwischen der ersten und zweiten Unternehmung ist der Übergang fliessend. Pestalozzi sah in der aufkommenden Baumwollindustrie zusätzliche Verdienstmöglichkeiten als Fergger: Er besorgte die rohe Baumwolle, brachte sie den Bauern zum Spinnen und Weben und erhoffte sich durch den Verkauf der Tücher einen Gewinn. Angesichts vieler verwahrloster und bettelnder Kinder kam ihm dann der Gedanke, solche in sein Haus aufzunehmen, sie dort das Spinnen und Weben zu lehren, ihnen aber auch eine elementare Bildung und eine sittliche Erziehung angedeihen zu lassen.

Will man bös, kann man Pestalozzi vorwerfen, er hätte sich sein Brot mit Kindern verdienen und diese überhaupt ausbeuten wollen – und dann löst sich der „Retter der Armen“ in blauen Dunst auf. Wahr ist indessen, dass Kinderarbeit damals vollkommen selbstverständlich war, dass Pestalozzi Kinderarbeit auch lebenslang im Rahmen seines pädagogischen Konzepts positiv beurteilte, dass er seine Anstalt lediglich selbsttragend gestalten und dabei die Kinder ganzheitlich erziehen und sie so wirksam auf ihr Leben vorbereiten wollte. Wäre er profitorientiert eingestellt gewesen, hätte er gewiss nicht schwer behinderte Kinder aufgenommen. So spricht denn auch aus Pestalozzis Schrift „Aus der Geschichte der niedrigsten Menschheit“ (1778), wo er der Öffentlichkeit Rechenschaft über sein Tun ablegt, alles andere als ein Ausbeuter: „Fridli Mind von Worblauffen, Berngebiet, ein sehr schwaches Kind, aber voll entscheidender Talente zum Zeichnen. Soviel ich kann, gebe ich mir Mühe, dieses Talent in ihm zu entwickeln. Susette und Marianne Mind, seine Geschwister, zeichnen sich durch stille anhaltende Arbeitsamkeit aus. Marianne scheint in diesem niederen Beruf zu leiden, emporzustreben zu mehr Freiheit. Es ist vom feinsten Gefühl, aber in sich geschlossen, zurückhaltend, und äussert sein Leiden nicht. Es würde viel Gutes oder Böses aus dem Kind werden, wenn es zu der Entwicklung seiner Anlagen gelangen könnte! Susette hat weniger Fähigkeiten, aber offen, ruhig und zufrieden mit seiner Lage und seiner Arbeit. Alle drei Kinder einer bernerischen Stadtmagd sind sehr schwächlich. – Noch muss ich Maria Bächli und Lisabeth Arnolds gedenken. Das erste ist gänzlich blödsinnig im höchsten Verstand des Wortes, so stark, dass ich keinen grösseren Grad von Blödsinnigkeit bei eingesperrten Narren gesehen. Dabei hat es ein bewundernswürdiges musikalisches Gehör. Das zweite, voll Fähigkeiten, aber von der höchsten Armut entkräftet, Krummzwerg, konnte es im neunten Jahr noch nicht gehen. Beide diese Kinder verdienen ihr Brot und gehen einem Leben entgegen, in welchem sie ruhig eines ihre Wünsche befriedigenden Unterhalts sicher sind. Und es ist grosse tröstende Wahrheit: Auch der Allerelendeste ist fast unter allen Umständen fähig, zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit (= Menschlichkeit) befriedigenden Lebensart zu gelangen. Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursache genug, solche mit Beraubung ihrer Freiheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen. Sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist. So wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual, sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe, sondern Gewinn werden. Und ich fühle die Wichtigkeit dieser Wahrheit so sehr, dass ich der Bestätigung derselben durch mehrere Erfahrung mit Sehnsucht entgegen sehe, und wirklich wünsche ich noch einige Kinder von diesem Grade des Blödsinns und körperlicher Schwäche, wenn selbige nicht mit Auszehrungskrankheit behaftet ist, in meiner Anstalt zu haben.“

Dass Pestalozzi Kinderarbeit im Sinne der Ausbeutung leidenschaftlich ablehnte, lesen wir in einem der berühmten Tscharner-Briefe: „Nein, der Sohn der Elenden, Verlorenen, Unglücklichen ist nicht da, bloss um ein Rad zu treiben, dessen Gang einen stolzen Bürger emporhebt. Nein! Nein! dafür ist er nicht da! Missbrauch der Menschheit, wie empört sich mein Herz!“ Peter Stadler ist offensichtlich nicht bereit, ihm diese Empörung zum Nennwert abzunehmen, indem er etwas maliziös schreibt: „… ja er (Pestalozzi) steigert sich ins Pathetische …“

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Stans, wo ihn der Grabspruch als „Vater der Waisen“ rühmt. Tatsächlich legte sich Pestalozzi mit voller Kraft und fast wie im Fieber ins Zeug. Seiner Frau schrieb er: „Ich unternehme eine der grössten Ideen des Zeitpunkts.“ Er schuftete sich halb tot, wollte alles alleine machen, weil er niemanden finden zu können glaubte, der seine pädagogischen Ideen verstünde. Aber natürlich stellen sich auch da wieder Fragen, die am Bild des „Vaters der Waisen“ etwas kratzen. Tat er all das nicht aus schlechtem Gewissen? Bekanntlich hatte er als Redaktor des Helvetischen Volksblatts, dem eigentlichen Sprachrohr der Regierung, den Einmarsch der französischen Besatzungsmacht in Nidwalden im voraus gutgeheissen. Hatte er sich dadurch nicht am Tod vieler Väter und Mütter moralisch mitschuldig gemacht?

Die wenigen Gedankensplitter mögen gezeigt haben: Die Gemeinnützigkeit von Pestalozzis Wirken wird stets umstritten bleiben. Mir stellt sich indessen eine ganz andere Frage: Gibt es nicht ein gemeinnütziges Wirken über das Grab hinaus? Im Pestalozzi-Jahr 1996 war es fast chic, Pestalozzi als für unsere Zeit irrelevant zu halten. Ich meine jedoch: Tragende Gedanken, die Lebenswirklichkeit zu erhellen vermögen und andere Menschen in ihrem sozialen Tun befruchten, sind Ausdruck eines in weitestem Sinne gemeinnützigen Wirkens. Dies gilt auch für Pestalozzi, und zwar in dem Masse, wie es ihm gelang, sich der Wahrheit (was immer das sei) zu nähern und diese glaubwürdig zur Darstellung zu bringen.

Nach meiner Überzeugung sind es vor allem zwei – allerdings in logisch zwingendem Zusammenhang stehende – Konzepte, die auch für künftige Generationen eine Orientierungshilfe sein können: Vorab ist dies Pestalozzis Lehre vom Menschen, wie er sie in den ‚Nachforschungen‘ 1797 grundgelegt hat. Ausgehend vom Erlebnis des allgegenwärtigen Widerspruchs, in dem der Mensch offensichtlich zu leben bestimmt ist, geht Pestalozzi der Frage nach, worin dieser Widerspruch gründet, welchen Sinn er hat und wie er allenfalls zu überwinden ist. Er findet den Schlüssel dazu in der Erkenntnis, dass der Mensch – im Gegensatz zum Tier, das immer in Harmonie mit sich selbst ist – auf drei verschiedene Weisen existiert (und zwar gleichzeitig), nämlich natürlich, gesellschaftlich und – sofern er will – auch sittlich. Entscheidend ist, dass für diese dreifach verschiedenen Seinsweisen je andere Gesetzmässigkeiten konstituierend sind, was den erwähnten Widerspruch bedingt. Wer sich in Pestalozzis Denken vertieft, lernt die Komplexität individuellen und sozialen Menschseins verstehen und einsehen, dass der Mensch keine Chance hat, sein Heil in irgend einer Art des Entweder-Oder finden zu können.

Aufbauend auf diesem Menschenverständnis zeigt Pestalozzis Idee der Elementarbildung, welche pädagogischen, sozialen und psychologischen Bedingungen und Einwirkungen der Versittlichung des einzelnen Menschen förderlich (bzw. hinderlich) sind. Er weist nach, dass dies nur eine Pädagogik leisten kann, die die Natur des Menschen ernst nimmt, eine Erziehungsweise also, die sich als ein personales, dialogisches Geschehen versteht und jedes Individuum ganzheitlich – als Einheit von Geist, Seele und Leib – erfasst. Soweit sich Menschen durch dieses Gedankengut anregen lassen, erweist sich auch noch nach Jahrhunderten Pestalozzis Wirken als gemeinnützig.

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