Arthur Brühlmeier

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Das Märchen vom Curriculum
oder: Vom Wegweiser zum Gefängnis?

Ein König hatte ein Reich erbaut, in dessen Gemarken sich niemand langweilen sollte. Wo immer man die Augen recht erhob: man stiess auf die anmutigsten Gebilde, die sinnreichsten Erfindungen und die lauschigsten Plätze mit stets überraschenden Ausblicken. Zu den Untertanen sagte der König: „Geht nun hin und erfreut euch an meinen Gaben, stillt eure Neugier und spielt, so lang der Tag ist. Seid aber auf der Hut, dass ihr nichts zerstört?“

Die Untertanen machten sich nun auf den Weg, durchschritten das Reich die Kreuz und die Quer, doch bald zeigte sich, dass sie darob nicht glücklich wurden. Der König, von dieser Kunde betrübt, mischte sich als einfacher Mann unters Volk. Da sah er mit eigenen Augen, wie seine Untertanen wie blind im Lande umherirrten, wie sie tatenlos den lieben langen Tag verschliefen und seine Werke in ihrem Unverstand, ja Mutwillen zerstörten.

Der König beschloss nun, den missleiteten Untertanen zu helfen. Er berief einige Männer, die er als hinreichend verständig befand, und sprach zu ihnen: „Mein Volk ist unglücklich. Geht nun hin, sammelt die Kinder um euch und öffnet ihnen die Augen für die Fülle meiner Gaben. Führt sie hinaus ins weite Land und erklimmt mit ihnen Hügel und Berge, damit ihr Atem frei wird und ihre Glieder erstarken. Weitet ihr Herz und lehrt sie das Spiel in der rechten Weise!“

Eine Zeit darauf nahm der König wieder sein graues Kleid und wanderte unerkannt durch sein Reich. Da sah er, wie die Männer, die er berufen hatte, sich zwar redlich mühten, aber doch mancher Verkehrtheit anheim fielen. Hier schritt einer mit einer Schar Kinder unentwegt im Kreise, da trug einer in einer Schachtel eine Handvoll der unbedeutendsten Steine, derweil am Wege die herrlichsten Kristalle funkelten, und dort hatte sich einer gar darauf versteift, mit seinem Trupp Kinder das ganze Reich zu durchtraben, um ja keinen Anblick zu verpassen.

Da berief der König seine verständigen Männer zu sich und sagte: „Euer Eifer ist gross, und doch will das Werk nicht fruchten. Darum mögen die Verständigsten unter euch überall im Lande Wegweiser anbringen, damit ihr nicht dem Unbedeutenden verfallt.“

Dies geschah, und jedermann fühlte die wohltätige Wirkung dieser königlichen Massnahme. Niemand verirrte sich mehr in unfruchtbare Einöden, niemand geriet mehr an gefährliche Abgründe, alle wurden auf lohnende Wege und zu lohnenden Zielen gewiesen. Allmählich verwitterten freilich die Wegweiser, aber das schmerzte niemanden, denn die Wege waren nun genugsam ausgetreten, so dass sie keiner mehr verfehlen konnte.

Aber wie es eben so geht im Leben: alles verliert doch einmal seinen Reiz. Viele der Verständigen, die ehedem die Wege, die ihnen gewiesen wurden, mit glühendem Herzen gesucht hatten, schleppten nun ihre Kinderschar und sich selbst in öder Laune in den ausgetretenen Wegen durchs Land. Der Wille ihres Königs, dass sich niemand langweilen sollte, erschien ihnen wie Hohn. Es musste sich also etwas tun, dies um so mehr, als es einige gewagt hatten, die vorgezeichneten Wege links und rechts zu verlassen.

Nun wusste einer der Verständigsten Rat: „Man sammle alle Wegweiser im Lande ein, durchforsche das ganze Reich nach lockenden Zielen und bringe dann die Wegweiser wieder auf neue Weise an.'“

Als dies geschehen war, begann ein lautes Murren unter den weniger Verständigen. Sie rotteten sich zusammen und begehrten laut auf. Der Lauteste unter ihnen rief: „Was taugen schon Wegweiser? Da geht doch jeder den Weg, der ihm beliebt.“ Und da er so laut gerufen hatte, wussten die weniger Verständigen, dass er wahr gesprochen hatte. Sie machten ihn zu ihrem Anführer und setzten es durch, dass der Pfahl eines jeden Wegweisers mit dem Pfahl des nächsten durch ein Seil verbunden wurde. So konnte sich denn jedermann auf seiner Reise durch das Königreich an diesen Seilen halten. Zwar zeigte es sich bald, dass man unterwegs keine Rast einlegen durfte, wollte man sich nicht der Gefahr aussetzen, von den nachdrängenden Reisenden, die alle derselben Spur folgten, niedergetrampelt zu werden. Aber das Opfer lohnte sich, konnte doch jeder am Ende der Reise dem andern bestätigen, genau dasselbe wie er erlebt zu haben.

Nun gab es freilich Verständige, die gelegentlich das leitende Seil los liessen und quer übers Feld nach andern Wegen und Zielen suchten. Sie hatten nämlich erkannt, dass es gar nicht der Wille des Königs war, die Kinder auf vorgegebenen Wegen an allen wichtigen Plätzen des Reichs vorbeizuführen, sondern ihnen die Augen zu öffnen, ihr Herz zu weiten, ihre Glieder zu stärken und sie die Art des rechten Spiels zu lehren. Aber dies eigenwillige Tun missfiel den weniger Verständigen, die die Seile gespannt hatten. Hatten sie denn die Seile nicht gewissenhaft angebunden? Waren die Seile nicht aus bestem Hanf? Hatten sie einen einzigen Wegweiser übergangen? Das war doch alles tüchtige Arbeit, die sich nicht verspotten lassen durfte. Und als sie dann gar mit ansehen mussten, dass einer, der mutwillig das leitende Seil losgelassen hatte, mit seiner ganzen Kinderschar in eine Grube fiel und sie nur mit grösster Anstrengung wieder aus derselben herausheben konnte, war ihr Entschluss gefasst: Es musste ein zweites Seil her, so dass sich jeder Reisende mit beiden Händen festhalten und ihm keine Unbekömmlichkeit mehr zustossen konnte.

Das Werk wurde in Angriff genommen, und es fanden sich viele, die am Seilspannen grossen Gefallen fanden. Der grosse Gedanke, dass hinfort keiner mehr einen Fehltritt tun und sich jeder auf seiner Reise völliger Sicherheit erfreuen konnte, beflügelte ihr Tun. Sie schlugen zwischen den Wegweisern in immer gleichen Abständen Pfähle ein, damit das Seil nicht etwa reissen und Unheil geschehen konnte. Sie liessen sich von sachverständigen Seilern die ausgeklügeltsten und sichersten Knoten zeigen und waren stolz, dieses Handwerk so schnell erworben zu haben.

Die Arbeit gedieh ohne merkliche Störung, nur einmal kam es zu einem peinlichen Auftritt: Einer jener uneinsichtigen Gesellen, die gelegentlich das Leitseil loszulassen wagten, sah ihrem Treiben eine Zeitlang zu und fragte sie beiläufig: „Was tut ihr da?“ Überrascht von dieser etwas unerwarteten Frage, antwortete der Anführer: „Wir planen die Freiheit.“

Lieber Leser, nach den Regeln der Erzählkunst käme nun, wie Du weisst, der Schluss. Doch ich bin in Verlegenheit, denn der Schluss liegt in der Zukunft, und diese birgt viele Möglichkeiten. Ich sehe deren drei:

Erster möglicher Schluss: Darauf nahm der eigenwillige Frager unter Tränen Abschied von seinen Kindern, überliess sie der Sicherheit des Seilwerks und ihrer Schöpfer und verschwand in den Bergen.

Zweiter möglicher Schluss: Diese Antwort verblüffte den eigenwilligen Frager, denn er hatte angenommen, die Seilknüpfer errichteten ein Gefängnis. Da sie nun aber von Freiheit sprachen, fühlte er sich ihnen nahe und erzählte ihnen eine Geschichte. Er begann: „Ein König hatte eine Reich erbaut, in dessen Gemarken … „

Dritter möglicher Schluss: Der eigenwillige Frager, von dieser Antwort überrascht, entgegnete: „Ich hätte eher an ein Gefängnis gedacht.“ Als dies einige der Seilknüpfer hörten, wurden sie nachdenklich und sprachen zu ihrem Anführer: „Wir wissen alle, dass dieser lästige Frager ein Narr ist. Aber Narren sagen manchmal – wie die Kinder – die Wahrheit. Wir wollen uns daher zufrieden geben, neue und gute Wegweiser angebracht zu haben, und auf die Pfähle und Seile verzichten.“

Erste mögliche Beendigung des dritten möglichen Schlusses: Als dies der Anführer hörte, schritt er auf den Tisch zu, worauf seine Seilpläne lagen, und schlug mit der Faust kräftig darauf. Da erschraken die Seilknüpf-Gehilfen so kräftig, dass sie sich unwillig vom lästigen Frager abwandten.

Zweite mögliche Beendigung des dritten möglichen Schlusses: Als dies der Anführer hörte, wurde er sehr, sehr nachdenklich, er überschlug auch die Kosten des ganzen Seilknüpf-Werks, gedachte der vielen Arbeit, die die Seilknüpfer mit grösster Hingabe geleistet hatten und

a) sagte dann kleinlaut: „Vielleicht hat er recht, aber wir haben A gesagt, nun muss auch B gesagt werden. Knüpft weiter!“

b) sagte dann, wie vom Geiste erleuchtet: „Recht hat er. Kosten und Arbeit hin oder her: Der Freiheit muss Raum gewährt werden?“ Da rissen die Seilknüpf-Gehilfen die Pfähle wieder aus und warfen die Hanfseile von bester Qualität auf die Seite. Der König aber, von dieser mutigen Tat gerührt, erhob sie alle in den Adelsstand.

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