Arthur Brühlmeier

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Schulreform zwischen Haben und Sein

Der wissenschaftliche, technische, finanzielle und organisatorische Aufwand zur Verbesserung des Bildungswesens hat in den letzten rund 50 Jahren in den Industriestaaten ein geradezu unbeschreibliches Ausmass angenommen. Aber dieser enorme Einsatz hat, soweit ich sehe, kaum zur erhofften Steigerung des Bildungserfolgs geführt. Insbesondere auf den Sekundar-Stufen I und II lässt sich sogar eine verbreitete Lernunlust der Schüler feststellen. Angesichts dieses schmerzlichen Missverhältnisses zwischen Aufwand und Ertrag drängt sich eine kritische Analyse der Grundlagen der gesamten Bildungsreform-Bewegung auf. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass der mehr oder weniger deutliche Misserfolg der bereits ein halbes Jahrhundert andauernden permanenten Bildungsreform durch die folgende Feststellung grundsätzlich erklärbar ist:

Wissenschaft, Technik und Wirtschaft werden getragen und in Gang gehalten durch Denkmodelle, die eine erfolgreiche Entwicklung zumindest in grossen Zügen garantieren. Nun wurden und werden diese Denkmodelle von Erziehungswissenschaftern, Schulpolitikern, Behörden und Lehrern – unreflektiert, wie mir scheint – auf das Gebiet der Pädagogik übertragen, offensichtlich in der selbstverständlichen Annahme, dass sich auch im Bildungswesen als fruchtbar erweise, was in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft den Erfolg sicherstellt. Dies trifft aber nicht zu. Im Bereich von Bildung und Erziehung müssen grundlegend andere Denkmodelle wegleitend sein, wenn sich ein wirklicher Erfolg einstellen soll.

Um diesen Gedanken einsichtig machen zu können, werde ich zuerst abrisshaft den Unterschied zwischen den beiden menschlichen Lebensmodalitäten ‘Haben’ und ‘Sein’ darstellen. Im Anschluss daran versuche ich zu zeigen, dass in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft solche Denkmodelle wirksam und berechtigt sind, die sich aus der Haben-Modalität ergeben, dass sich aber im Gegensatz dazu wirkliche Bildung nur dort ereignet, wo der Bildungsprozess durch die Seins-Modalität konstituiert ist. Daraus erwächst dann die Einsicht, dass eine Schulreform, die einseitig durch das ‘Haben’ charakterisiert ist, stets mehr oder weniger am Wesentlichen vorbeizielt.

A. Haben und Sein

Anders als das Tier, ist der Mensch ein schaffendes Wesen. Er lebt nicht nur in und mit der Natur, er gestaltet sie auch um. Der Mensch schafft Werke. Die Fähigkeit des Denkens erlaubt ihm aber nicht nur das Erschaffen konkreter Gegenstände (Häuser, Strassen, Maschinen), sondern auch abstrakter Gebilde (Institutionen, Systeme, Gesetze, Wissen). Die Werke des Menschen werden nicht durch die Zeit verweht wie sein Gesang, wie seine Gebärden der Zärtlichkeit und der Angst, wie sein Staunen und Erkennen. Seine Werke überdauern. Sie sind da, zwar als tote Gebilde, aber mit einem Anspruch: Sie erheischen Raum, vielleicht auch Pflege, sie machen den, der über sie verfügt, zum Besitzer und Mächtigen, sie erfordern eine Ordnung der Verfügungsgewalt. Kurz: Sie machen den Menschen zu einem Habenden. Der Mensch kann seine Habe aufhäufen, tauschen, weitergeben, abändern, verbessern, zerstören.

Als Habender fühlt sich der Mensch vorerst sicher. Der Besitz, obwohl an sich tot, bietet Lebensmöglichkeiten. Aber Besitz bindet auch, engt ein, kanalisiert und lässt erstarren. Oft richten sich des Menschen Werke gegen ihren Schöpfer und untergraben dessen Kreativität und Freiheit. Darum ist die Habe zugleich Segen und Fluch. Sie verführt den Menschen immer neu, Freiheit gegen Sattheit, mutiges Wagen gegen Sicherheit einzutauschen.

Das Haben verleiht auch dem menschlichen Schatten deutlichere Konturen. Habgier, Geiz, Neid, Eifersucht, Sattheit, Hochmut, Hinterlist, Betrug, Raub, Totschlag, Unterdrückung, Sklaverei und Krieg sind ins Dasein des Menschen gekommen, weil er haben kann und will.

Erfüllung erfährt der Mensch im Sein. Sein ist ein Tun, ein Tun freilich, das nicht blosses Mittel zum Zweck des Habens ist, sondern in sich ruhende Bewegtheit. Als Habende sind wir auf Zwecke ausgerichtet, im Sein erfahren wir Sinn und Lebensfülle. Das Sein vergegenständlicht sich nicht, es kann nicht gehabt und nicht weitergereicht, daher auch nicht angehäuft, verbessert oder zerstört werden. Es ist ausserhalb der Dauer und aktualisiert sich in jedem Lebensaugenblick aufs neue.

Die Sehnsucht nach dem reinen Sein ist ein Traum. Das Haben ist in seiner ganzen Zwielichtigkeit des Menschen Geschick. Sinkt ihm der Mut zum Sein, flieht er ins Haben, um dann zu erkennen, dass es ihn einschnürt und nicht hält, was es versprochen hat. Zum Haben ins rechte Verhältnis zu kommen, es zu benützen, ohne ihm zu verfallen, den vom Haben ausgehenden Illusionen nicht zu erliegen, Sicherheiten stets wieder preiszugeben, um Freiheit zu gewinnen, dies sind die Aufgaben, die sich dem Menschen immer aufs neue stellen.

Mit diesen Zusammenhängen hat sich auch Pestalozzi lebenslang befasst, wenn er auch andere Begriffe verwendet. Er bezeichnet die ganze menschliche Geschäftigkeit, die auf das Haben ausgerichtet ist, als Zivilisation. Deren Erzeugung, Pflege, Weiterentwicklung und Verteilung ist der eigentliche Inhalt des gesellschaftlichen (nicht ‘gemeinschaftlichen’) Lebens. Besitz, mag er noch so geist-trächtig sein wie etwa Bachs ‚Kunst der Fuge‘, Leonardos ‚Abendmahl‘ oder Goethes ‚Faust‘, bleibt tot, solange er bloss besessen, getauscht oder weitergereicht wird. Zu geistigem Leben erweckt wird er erst im Verstehen und Erleben des einzelnen Menschen. Pestalozzi nennt diese Geistigkeit, die stets nur im Individuum erwachen kann, Kultur. Dieses eigentliche Sein ist das Wesen des sittlichen Lebens.

Mit Pestalozzis Begriffen formuliert, lautet meine Grundthese: Bildung und Erziehung gedeihen nur als Prozesse der menschlichen Kultur. Eine Bildungsreform erweist sich darum nicht im erhofften Masse als fruchtbar, wenn sie sich zu einseitig auf den zivilisatorischen Aspekt des Bildungswesens konzentriert und dadurch wahrhafte Bildungskultur mehr verhindert als fördert.

B. Denkmodelle des Habens und des Seins

Um Habbares (Informationen, Systeme, Güter) zu erzeugen, aufrecht zu erhalten, weiterzuentwickeln und dem Konsum zur Verfügung zu stellen, erweisen sich im Prinzip die folgenden Denkmodelle als angemessen und fruchtbar:

  • Die tragende Einheit ist das funktionierende System.
  • Die Elemente des Systems sind auswechselbar.
  • Motive des Handelns sind Perfektionierung und Weiterentwicklung und des Status quo (Fortschritt) sowie Genuss und Vermehrung allfälliger Erträge.
  • Das Handeln ist zweckbestimmt. Die Zwecke sind die Produkte.
  • Die Mittel zur Realisation der Produkte sind: rationale und zentrale Planung, Steuerung und Kontrolle (Normierung, Koordination) sowie Absicherung in juristischen und organisatorischen Strukturen.
  • Gültig ist das Messbare, wichtig das Quantitative.
  • Wegleitend ist das Ökonomie-Prinzip: grösstmöglicher Erfolg mit knappsten Mitteln.
  • Als Regel gilt die Proportionalität von Aufwand und Ertrag.
  • Der Kampf um Positionen wirkt als Antriebsmotor.
  • Fehlerhafte Elemente sind zu eliminieren.

Im Bereich des Seins hingegen wirken die obgenannten Denkmodelle stets mehr oder weniger als Störung, Trübung und Hemmung. Das Sein beruht auf anderen Grundstrukturen:

  • Die tragende Einheit ist das Individuum in seiner Einmaligkeit.
  • Die Ungleichheit (nicht Ungerechtigkeit) ist Ausdruck der Vielfalt des Lebens.
  • Handlungsmotive sind Sinn-Erfahrung und Sinn-Stiftung.
  • Spontanes, kreatives und freies Handeln erwachsen aus dem Vertrauen in die Kraft des Geistes.
  • Anregend wirkt das Unwägbare und Qualitative.
  • Regulative des Handelns sind Werte (das Gute, Wahre, Schöne, Heilige).
  • Selbst-Annahme, die Fähigkeit zu vertrauen, Liebe, Offenheit und Verzicht auf Absicherungen stiften Gemeinschaft.
  • Fehlerhaftes wird als zum Menschen gehörend angenommen.

C. Bereiche des Habens und des Seins

Grundsätzlich gehören Technik und Wirtschaft in den Bereich des Habens. Sie produzieren und perfektionieren das Habbare und sorgen für dessen Verteilung. Aber auch die Wissenschaft als solche gehört in den Bereich des Habens. Zwar befasst sie sich mit der Erkenntnis der Wahrheit, aber Erkenntnis hat zwei Aspekte: Der eine ist der individuelle Akt des Erkennens und als solcher ein Ausdruck des Seins. Der andere ist die zutage geförderte Erkenntnis, die durch die Institution Wissenschaft als Information weitergereicht und weiterverwertet werden kann. Solche Erkenntnisse sind objektiviert, zumeist in Buchstaben oder Formeln verfestigt und daher ein Ausdruck des Habens.

Wenn festgestellt werden muss, dass Wissenschaft, Technik und Wirtschaft dem Bereich des Habens zuzuordnen sind, heisst das natürlich nicht, dass es den einzelnen Menschen, die in diesen Bereichen tätig sind, nicht immer wieder gelingen mag, in ihrer Tätigkeit wahre Erfüllung im Sinne des Seins zu finden. Wesentlich ist aber, dass die erwähnten Haben-Denkmodelle für die drei erwähnten Bereiche konstituierend sind.

Im Gegensatz dazu ist für den Bereich der Bildung und Erziehung die Modalität des Seins konstituierend. Ich gehe in meiner Argumentation von der Überzeugung aus, dass sich der Auftrag des Volksschule nicht in der Ausbildung des heranwachsenden Menschen für die Befriedigung wandelbarer gesellschaftlicher Bedürfnisse (Leben in Beruf und Staat) erschöpft, sondern dass deren zentrale Aufgabe in der allgemeinen Menschenbildung besteht. Dies ist gleichbedeutend mit Pestalozzis Forderung nach harmonischer Entfaltung aller körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte und Anlagen. Dabei kommt der sittlichen Bildung insofern das Primat zu, als sich die Kräfte der Hand und des Kopfs den gebildeten Herzenskräften unterzuordnen haben. Daraus erwächst der Schule die vordringliche Aufgabe der sittlichen Bildung des Menschen. Diese ist aber gemäss Pestalozzis tiefsinniger Feststellung, dass „das Leben bildet“, nur dadurch zu erreichen, dass das Leben in der Schule als sittliches Leben gelebt wird. Das ist gleichbedeutend mit der Forderung, dass im Bildungswesen nicht Denkmodelle der Haben-Modalität (Wissen anhäufen, sich ans Sichtbare und Messbare verlieren, dem Fortschrittsglauben verfallen, Berechtigungen erwerben, Individualitäten gleichschalten, aufgrund juristischer Positionen gegeneinander kämpfen, Konkurrenzgeist entfachen, ‘fehlerhafte’ Schüler eliminieren, Lehrer und Schüler als austauschbare Objekte betrachten) wegleitend sein dürfen, sondern solche der Seins-Modalität: in liebender Weise der Sache begegnen, in beharrlichem Gebrauch die Kräfte entfalten, persönliche Verantwortung fördern, in Freiheit geistig-seelisches Leben entfalten, in zwischenmenschlichen Beziehungen Wertbewusstsein entwickeln, aufgrund individueller Veranlagung eigene Wege beschreiten, in Ehrfurcht vor dem Geschaffenen die Gesetze des Geistes erspüren, in Geduld die menschlichen Ungleichheiten und Beschränkungen ertragen.

Wenn nun hier der Bildungsprozess in den Bereich des Seins verwiesen wird, so heisst dies allerdings nicht, dass das Bildungswesen insgesamt auf alle Mechanismen und Denkmodelle des Habens verzichten kann. Die Schule ist an sich ebenfalls ein System, weshalb das Haben-Denken eine gewisse, wenn auch beschränkte Berechtigung hat.

D. Bildung zwischen Haben und Sein

Die zurückliegende und aktuelle Bildungsreform ist meines Erachtens gekennzeichnet durch eine weit übertriebene Perfektionierung des didaktischen, technischen und organisatorischen Bereichs. Die im Bildungswesen entscheidenden Kräfte scheinen von einem sehr hohen Sicherheits- und Absicherungsbedürfnis geleitet zu sein. Dies ist stets ein Anzeichen für ein geschwundenes Vertrauen in die konkreten Menschen, die für die Bildung der Jugend verantwortlich sind: vorab die Lehrer, dann auch Eltern und örtliche Behörden. Es ist tatsächlich so: Freiheit ist stets mit Risiken verbunden und schafft auch ungleiche Verhältnisse. Wer dies nicht erträgt, flüchtet sich in die Sicherheit des Habens. Perfekte Systeme sollen dann gewährleisten, was eigentlich nur durch personales Engagement zu erwirken ist. Je vorschreibender und einengender aber Systeme sind, desto mehr lähmen sie die Kreativität und Einsatzfreude der konkret Tätigen und schaffen damit Zustände, die erneutes Eingreifen und Reglementieren als ratsam erscheinen lassen. Es geschieht also alles aus bestem Willen. Aber man missachtet eine unumstössliche Gesetzmässigkeit: Jede Problemlösung im Bereich des Habens schafft grundsätzlich neue Probleme, und zwar ausnahmslos. Das erfordert neue Problemlösungen, womit eine ermüdende Kettenreaktion aufrechterhalten wird. Eine Chance, diese Kette zu durchbrechen, besteht einzig darin, die Problemlösung auf der Ebene des Seins anzugehen. Damit gibt man freilich den Anspruch auf, das Problem auf die Dauer gelöst zu haben, und entlässt die Problematik in die Freiheit der konkreten Menschen. Das ist das beherzte Ja zur Vielfalt des Lebens und der mutige Verzicht auf ein reibungsloses Funktionieren des Systems. Es sind die funktionierenden Systeme, die Freiheit und Kreativität permanent untergraben.

Um nicht zu sehr im Allgemeinen zu bleiben, möchte ich nun einige Denkmodelle des Habens und des Seins in ihren konkreten Auswirkungen auf die Schule einander gegenüberstellen:

a) Verwirklichung des Fortschritts versus Suche nach dem Ursprung

Alle organisatorischen, didaktischen und technischen Neuerungen empfehlen sich der Schule stets als Fortschritt. Genau genommen, dürfte man allerdings nur im technischen und wissenschaftlichen Bereich von Fortschritt sprechen, denn hier wird Habbares (technische Systeme und Wissen) tradiert und – auf dieser Tradition aufbauend – perfektioniert und erweitert. Im Bereich der Organisation und der Didaktik sollte man richtiger von Veränderungen sprechen, denn die Beurteilung ihrer besseren Tauglichkeit hinsichtlich dessen, was man als Bildung verstehen will, unterliegt stets einer Bezugnahme auf Werte, auf einen Bereich also, in welchem subjektive Setzungen gelten und es darum kaum legitim ist, von Fortschritten zu sprechen. Oft sind diese nämlich kaum etwas anderes als dem jeweiligen Zeitgeist entsprungene Moden und halten in aller Regel nicht das, was man sich von ihnen erhofft. Was versprach und verspricht man sich nach wie vor doch nicht alles etwa vom Programmierten Unterricht, von der integriert-differenzierten Gesamtschule, von den audiovisuellen Fremdsprach-Lehrmethoden und Sprachlabors, von Frühfranzösisch und Frühenglisch, von der neuen Mathematik und neuen Grammatik, von den wissenschaftlichen Lehrplankonstruktionen (heute natürlich vom Lehrplan 21), von der behavioristischen Lernziel-Formulierungskunst, von erweiterten Lernformen inkl. Werkstattunterricht, vom Computer am Arbeitsplatz des Schülers, vom Internet, vom selbstgesteuerten Lernen und von der Orientierung an Vorgaben der OECD (PISA-Studie), von institutionalisiertem Monitoring, von Qualitätssicherungsabläufen und auf den höheren Stufen vom Bologna-System!

Ganz unabhängig davon, ob nun die notwendig scheinenden Reformprojekte auf wirklichen technischen oder wissenschaftlichen Fortschritten beruhen (wie z.B. der Ersatz veralteter Sprachlabors durch moderne Computer oder die Anpassung der Lehrplaninhalte an neue wissenschaftliche Erkenntnisse) oder ob es sich bei ihnen um modische Veränderungen handelt, die von andern Standpunkten aus allenfalls auch als untaugliche Rückschritte gewertet werden können, ist meines Erachtens zunehmend das Bewusstsein am Schwinden, dass keine einzige dieser Massnahmen im Haben-Bereich ursächlich verstanden werden darf für bessere Bildungsergebnisse. Damit wird das Wissen und werden die Bemühungen um das Ursprüngliche der Bildung zu sehr in den Hintergrund gerückt.

Dieses Ursprüngliche von Bildung und Lernen ist jedoch dem Seins-Bereich zuzuordnen und ereignet sich darum letztlich einzig in konkreten Existenzvollzügen des Lernenden, die charakterisiert sind durch Offenheit und Interesse für den Lerninhalt sowie durch den Willen zum Verständnis und zur Übung und die abhängig sind von den je individuellen Lernvoraussetzungen wie bereits vorhandener Wissens- und Könnensstand, Erlebnisfähigkeit, Sorgfalt, Ausdauer, Gründlichkeit u.a. Und was für den Schüler gilt, gilt auch für den Lehrer: Die raffiniertesten Lehrplan- und Lehrmittelsysteme, die ausgeklügeltsten Methoden und das grosszügigste Budget vermögen ihn nicht ursächlich dazu zu bestimmen, dass er die Schüler echt motivieren und kreativ auf ihre uneingeplanten Äusserungen, Schwierigkeiten und Vorschläge eingehen kann. Man sollte darum bei allem Glauben an den Fortschritt durch Reformen im organisatorischen und didaktischen Bereich immer wieder bedenken, dass die Schüler die Muttersprache, eine Fremdsprache, irgend ein Sachwissen, handwerkliche Fertigkeiten oder mathematisches Denken allemal am besten bei einem Lehrer lernen, den sie gern haben, der auch sie liebt, der sein Fach versteht und auch dieses liebt, der sich ins Kind hineindenken und hineinfühlen kann, der eine Fertigkeit Schritt für Schritt aufbauen kann und die Fähigkeit besitzt, im Schüler die Lernfreude zu wecken und zu erhalten. Dieses Ursprüngliche des Lernens bleibt sich immer gleich: Ist es da, tritt der Lernerfolg ein, fehlt es, sind alle noch so perfekten didaktischen Konzepte und technischen Mittel reine Augenwischerei.

b) Perfekte Mittel versus beschränkter Mensch

Für die Entwicklung und Perfektionierung von rechtlich fixierten Organisationsstrukturen, Lern-Apparaturen, psychologisch durchrationalisierten Didaktiken, Lehrplänen und Lehrmitteln wenden die Industriestaaten finanzielle Mittel in Milliardenhöhe auf. Dieser gewaltige Kapitaleinsatz ergibt aber nur einen Sinn, wenn man den Glauben der Investoren voraussetzt, auch in der Bildung gelte das Gesetz der Proportionalität von Aufwand und Ertrag. Dabei scheint man zu vergessen, dass all diese meist sehr perfekten, aber in ihrem Wesen eben toten Mittel zuerst durch Menschen zum Leben erweckt werden müssen, wenn sie in der Bildung überhaupt eine Wirkung haben sollen. Nun sind aber die zu dieser Verlebendigung berufenen Menschen – die Lehrer und Schüler – wie alle Menschen unvollkommen, beschränkt und schwach, und darum erweist sich der Glaube, ein beliebig gesteigerter Einsatz organisatorisch-technischer Mittel führe ebenso zu einem gesteigerten Bildungserfolg, als ein verhängnisvoller Aberglaube. Gegenüber diesen Mitteln wirken Lehrer und Schüler wie Filter mit einer bestimmten Kapazität; ist sie erreicht, fruchtet alles Pressen und Herumstochern nichts. Man mag den Lehrer mit den ausgeklügeltsten Lehrplänen und Lehrmitteln und seine Sammlung mit den raffiniertesten Apparaturen ausrüsten: für den Bildungserfolg wird immer nur so viel fruchtbar, als er geistig-seelisch assimilieren und dementsprechend pädagogisch und didaktisch umsetzen kann.

Aber auch die Schüler sind nicht einfach Objekte, an denen man nach Belieben planerisch handeln kann. Sie haben ein Eigenleben und können daher einem äussern Willen, der auf ihre Veränderung abzielt, einen Widerstand entgegensetzen. Dieser Widerstand gründet einerseits im Wesen der menschlichen Natur schlechthin: Unsere Lernkapazität ist nicht beliebig gross, wir ermüden und vergessen und brauchen zur Verarbeitung Zeit. Andererseits erwächst der staatlich verordneten Bildungskur stets ein gehöriger Widerstand aus der Eigenart jedes einzelnen Kindes. Da gibt es grosse Begabungsunterschiede, jedes bringt bestimmte Interessen, aber auch Abneigungen mit, jedes hat seine Lebensgeschichte, die das Lernen hemmen kann, und jedes lebt in einem anderen Milieu, was sich bekanntlich wiederum auf das Lernen auswirkt.

c) Die tragende Einheit: System versus Individuum

In Technik und Wirtschaft, wo hierarchische Strukturen reibungslose Abläufe zu gewährleisten haben, mögen Zentralisation, Koordination und Normierung ihre Berechtigung haben. Leider hat man sich aber auch im Bildungsbereich zunehmend von diesen Mechanismen eine positive Wirkung versprochen. Es scheint vernünftig und kostensparend, wenn möglichst viele Schüler gleichen Alters möglichst dasselbe mit möglichst denselben Methoden und Lehrmitteln lernen. Es muss daher immer wieder auf den fundamentalen Unterschied zwischen einem Produktionsbetrieb und einer Bildungsstätte hingewiesen werden: Fabriken erzeugen Objekte ohne Eigenleben, und es ist erwünscht, dass im gleichgeschalteten Produktionsprozess alle Produkte gleich herauskommen. In der Bildung haben wir es aber nicht mit dem Erzeugen oder Perfektionieren an sich gleicher Elemente zu tun, sondern mit der geistig-seelischen Entwicklung grundsätzlich ungleicher, einmaliger und unwiederholbarer Individualitäten mit einem Eigenleben. Diese können nur insoweit wirklich gebildet werden, als den Beteiligten die Kompetenz zusteht, den Bildungsprozess von ihren konkreten Gegebenheiten und Bedürfnissen her zu gestalten. Ohne Freiheit ist keine echte Bildung denkbar. Zentralistische, koordinierende und normierende Massnahmen bringen aber stets einen Verlust an Freiheit. Je verbindlicher sie sind, desto mehr drängen sie den Lehrer in eine blosse Funktionärs-Rolle und desto mehr werden die Schüler Opfer von Entscheiden, die er ihnen gegenüber nicht mehr personal zu verantworten hat.

d) Quantität versus Qualität

Das vorwiegend quantitative Interesse ist ein Ausdruck des Habens. Heute durchwuchert es auch das Bildungswesen wie ein Krebsgeschwür. Trotz dem Gerede vom Stoffabbau wird die Fächerliste länger, werden Lehrpläne und -bücher immer dicker und wird die Zeit für geruhsames Lernen in Musse immer knapper. Die sog. messbare Leistung wird immer wichtiger, und das Starren auf die Noten ist fast schon ein Kult. Insbesondere auf den oberen Stufen wird der Bildungsprozess durch Hektik und Hetze belastet. Es gälte daher einzusehen, dass der Mensch als solcher mit dem Tempo der wissenschaftlich-technischen Entwicklung nicht Schritt halten kann, weil der Zeitfaktor im Bereich der menschlichen Entwicklung keine beliebig manipulierbare Grösse ist. Das Bedürfnis nach Musse, um etwas zu verstehen, zu üben und zu integrieren, ist als eine Naturgegebenheit zu respektieren.

E. Ausblick

Nach der hier vorgetragenen Kritik wird man mir wohl die Frage stellen, ob ich mir ein Bildungswesen ohne rechtlich fixierte Strukturen, verbindliche Lehrpläne und Lehrmittel vorzustellen vermöge. Meine Antwort: Nein, denn ich habe bereits im Ansatz darauf hingewiesen, dass der Mensch nicht im reinen Sein leben kann. Aber die Haben-Seite der Bildung wird heute in einem solchen Masse überbewertet, dass es höchste Zeit ist, Gegensteuer zu geben. Knapp gefasst heisst dies:

  • Wiederherstellung verlorengegangener Freiräume
  • Beschränkung von Normierung, Koordination und Zentralisation aufs Allernotwendigste
  • Weg vom Papier, hin zu den Phänomenen
  • Freiere Stundenplangestaltung, weg von der 45-Minuten-Lektion, Epochen-Unterricht
  • Mehr Musse, mehr Vertiefung, mehr Übung
  • Verlagerung des finanziellen Einsatzes auf Lehrerbildung und -fortbildung
  • Lehrerbildung und -fortbildung als Persönlichkeitsbildung
  • Gewährung regelmässiger bezahlter Bildungsurlaube für Lehrer
  • Ausbau von Diensten für die spezielle Betreuung und Förderung benachteiligter Schüler

Schliesslich stellt sich die Frage, welches denn im Bildungswesen das steuernde Element sein soll, wenn nicht die Bildungsverwaltung, exakte Lehrpläne und obligatorische Lehrmittel. Will man die lähmende Bindung ans blosse Haben-Prinzip lösen und dem wirklich bildenden Sein Raum schaffen, lautet die Antwort: Das steuernde Element des Bildungsgeschehens ist eine tragfähige Bildungsidee, mit der sich die Lehrer identifizieren können. Ich habe eine solche in meinem Buch «Menschen bilden» dargestellt.

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