Arthur Brühlmeier

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Für den erfahrenen und berufenen Lehrer ist es nicht schwierig zu erkennen, ob jemand, dem er bei der Arbeit über die Schultern guckt, auf der Basis eines tragfähigen Begriffs des ‚Elementaren‘ unterrichtet oder ob ihm dieses didaktische Grundkonzept fremd geblieben ist. Wer ‚elementar‘ unterrichtet, schafft eine förderliche Lernatmosphäre; die Schüler machen im allgemeinen gerne mit, da sie sich angesprochen und ernst genommen fühlen; der Lehrer reagiert immer konstruktiv auf ‚falsche‘ Schüleraussagen oder Antworten; er nimmt jede Gelegenheit wahr, um Grundlagen jeglicher Art zu festigen; er verfügt fast in jeder Situation über geeignetes Anschauungsmaterial und weiss damit auch richtig umzugehen; stets weiss er den Bezug zum praktischen Leben und zum kindlichen Lebensalltag herzustellen; er ist ein Meister im sog. Gelegenheitsunterricht, da er einer unerwarteten Situation rasch das Bildende abgewinnen kann; er kennt sich auch selber historisch und geographisch aus in seinem Schulort und ist mit der örtlichen Tier- und Pflanzenwelt im Wesentlichen vertraut; er kann seine Hände gebrauchen und weiss bei fast allem, was die Schüler in die Hand nehmen, worauf es ankommt. Zugegeben: Kurz nach der Grundausbildung ist man noch nicht so weit, aber wer das Gespür für das Elementare mitbringt und daraus die Konsequenzen für seine Lehrtätigkeit, aber auch für seine eigene Lebensführung zieht, wird allmählich die Meisterschaft erlangen.

Doch was ist das ‚das Elementare‘? Um dieser Frage nachzugehen, mache ich zuerst einen Sprung in die Erkenntnis-Psychologie und wende mich anschliessend Pestalozzi zu, um von seiner Sicht aus Konsequenzen für die Praxis abzuleiten.

Als Erstes gilt es zu bedenken, dass es die dingliche Welt, so, wie wir sie im Alltag mit aller Selbstverständlichkeit erfassen, nicht an sich, als etwas gewissermassen von der Natur her Vorgegebenes gibt. Vielmehr lernen wir im Zuge unserer geistigen Entwicklung gewisse Ausschnitte dessen, was mit unseren Sinnesorganen in Berührung kommt, in einer zumeist durch die Sprache vorgegebenen Weise zu gruppieren und von anderen Sinnesreizen abzugrenzen, sie also im eigentlichen Sinne zu begreifen. Dadurch bilden sich in unserem Bewusstsein die Begriffe, womit das in unserem Innern repräsentiert wird, was wir im weitesten Sinne als ‚Welt’ empfinden. Die Begriffe sind zugleich Instrumente der Wahrnehmung, Elemente des Denkens und Bedeutungsträger der Wörter.

Wesentlich ist nun, dass die Begriffe kein isoliertes Eigendasein fristen, sondern stets in irgendeiner Weise zueinander in Beziehung stehen, etwa im Sinne von Einordnung, Überordnung, Unterordnung, Verwandtschaft oder Gegensatz. Dieses im Laufe eines individuellen Lebens sich unausgesetzt entwickelnde Gefüge und Gespinst von Begriffen bezeichnen wir als kognitive Struktur, wobei es insofern legitim ist, im Plural von kognitiven Strukturen zu sprechen, als man jeweils einzelne Sachzusammenhänge in den Blick nimmt. (Ausführlicher eingegangen bin ich auf das Wesen und die Bedeutung der Begriffe unter Der sprachliche Vortrag des Lehrers/Kapitel 2.1.1.)

Der Lehrer, der um diese Gesetzmässigkeit weiss, sieht stets seine Aufgabe, durch die Anreicherung und sachlogisch korrekte Ausdifferenzierung der kognitiven Strukturen des Schülers dessen intellektuelle Entwicklung zu stützen. Und im eigentlichen Sinne ‚elementar’ ist sein Wirken in dem Masse, wie es ihm gelingt, einerseits auf den bereits bestehenden kognitiven Strukturen des jeweiligen Schülers aufzubauen und andererseits neue Be­griffe zu bilden und sachlogisch korrekt in dessen kognitive Struktur einzubauen. Als ‚nicht elementar’ ist demnach jede Lehrunternehmung zu bezeichnen, die verschwommene Begriffe entstehen lässt und/oder die mit Begriffen operiert, die nicht korrekt in die bestehenden kognitiven Strukturen eingeordnet werden oder vom Schüler nicht eingeordnet werden können.

Diese Zusammenhänge liegen Pestalozzis Kritik an einem Unterricht zu Grunde, der sich durch das unverstandene Reden über eine Sache (was meistens auf blosses Nachplappern oder Auswendiglernen herauskommt) charakterisiert und den er als „Lirilariwesen“ und als „Maulbrauchen“ gegeisselt hat. Es überrascht daher nicht, dass in seiner Erziehungslehre der Begriff des Elementaren absolut im Zentrum steht, und zwar so sehr, dass er sie in den letzten rund 20 Jahren seines Lebens stereotyp als „Idee der Elementarbildung“ oder einfach als „Elementarbildung“ bezeichnet. Dieser Ausdruck findet sich in seinem erhaltenen Schrifttum gegen tausend Mal. Daneben bemüht er sich, sein pädagogisches Grundanliegen in immer neuen Wortverbindungen mit dem Adjektiv ‚elementar‘ zu umreissen („Elementarbildungsmittel, Elementaralgebra, Elementarhandbuch“ usf.) und schafft nach diesem Muster insgesamt 170 verschiedene Termini. In seiner Schrift ‚Das Wesen der Naturgemässheit in der Erziehung‘  aus dem Jahre 1812 lesen wir, weshalb er diesen Begriff gewählt hat: „Wir haben dem Entscheidenden unseres Tuns den Namen Elementarbildung gegeben, weil unsere Bemühungen, die Erziehung zu vereinfachen und naturgemäß zu begründen, uns mit der Kraft gereifter Erfahrung überzeugt haben, dass die Basis aller wahren Erziehung einerseits von den Anfangspunkten der Anlagen und Kräfte der menschlichen Natur, andererseits von den Elementen jeder einzelnen Wissenschaft und Kunst ausgehen muss.“ (PSW 23, S. 187) Es geht also ums Grundlegende: einerseits im zu bildenden Menschen, andererseits im zu vermittelnden bzw. zu erarbeitenden Stoff. Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass ein derart umfassender Be­griff elementarer Bildung, der eigentlich alles in der Erziehung und Bildung Wünschenswerte umfasst, nicht so einfach in die didaktische Praxis umzusetzen ist. Und doch: Ein Lehrer, der – nach Pestalozzis Forderung einerseits mit Blick auf die Schüler und das einzelne Kind, andererseits mit Blick auf die zu wählenden Stoffthemen – ein Sensorium für das Elementare entwickelt und seine Arbeit danach ausrichtet, wird erfolgreicher sein und nachhaltiger wirken, als jemand, dem alles gleichwertig ist. Denn tatsächlich liegt im Anspruch, elementar zu unterrichten, eine Wertung, aus der etwa die folgenden Forderungen ableiten lassen:

  • Schau, welche Fertigkeiten und welche Wissensstoffe grundlegend sind für das Leben des Kindes – jetzt und für die Zukunft!
  • Wähle aus der unüberblickbaren Fülle des Wissbaren jene wenigen Ecksteine aus, auf denen später weitergebaut werden kann und die am besten geeignet sind, das Interesse des Schülers zu erregen und seinen Blick auf das Ganze zu weiten.
  • Verdeutliche in allem, was in deinem Unterricht zur Sprache kommt, jene Aspekte, in denen Allgemeingültiges aufscheint! Lass die Schüler jene Erkenntnisse gewinnen, die sich auch in andern Bereichen als gültig erweisen!
  • Zäume das Pferd nicht am Schwanz auf, entwickle alles von den logischen Grundlagen her, baue solide einen Stein auf den andern, beginne mit dem Einfachen und gehe erst dann zum Verwickelten. Und fahre erst weiter, wenn die Grundlagen wirklich gefestigt sind.
  • Nutze jede Gelegenheit, um im Schüler die Begriffe zu differenzieren und ihre Einordnung in kognitive Strukturen zu ermöglichen, denn im Bereich von Sprache und Denken sind tragfähige Begriffe das Elementare.

Diese Sätze nähren die Vermutung, das Elementare liesse sich in einer Stoffliste dingfest machen. Ein Stück weit stimmt dies, und daher existiert diese Stoffliste auch: Es ist der offizielle Lehrplan. Deren Erfinder liessen sich zweifellos von der Idee einer elementaren Bildung leiten. Nur: Betrachtet man das Elementare einseitig von den Lerninhalten her, türmt sich vor einem sehr bald eine nicht zu bewältigende Stoffmenge auf. Wer daher den meist zu optimistischen Lehrplanvorstellungen voll gerecht werden will, wird vermutlich eben gerade nicht elementar unterrichten. Dies kann man nur durch Gründlichkeit und geistige Strenge, und beides erfordert, dass man bei einer Sache lange verweilt. Und das wiederum geht nur, wenn man aus der angebotenen Fülle klug auswählt und Schwerpunkte setzt.

So stellt denn der Anspruch, elementar zu unterrichten, zuerst einmal ein Kriterium für die Stoffwahl dar. Angenommen, ich wähle als Thema auf der Unter- oder Mittelstufe die Ernährung des Menschen und möchte mich im Zuge dieses Projekt speziell mit einem bestimmten Nahrungsmittel befassen. Würde ich vor der Wahl stehen, mich mit der Klasse nun gründlich mit Brot oder mit Erdbeerkonfitüre zu beschäftigen, zögerte ich nicht einen Augenblick, mich für das Brot zu entscheiden. Rund um dieses Phänomen könnte ich bedeutend Gewichtigeres und für das Menschsein Wesentlicheres sichtbar machen als im andern Fall. Exkurse in die Geschichte, in das Brauchtum verschiedener Völker, in die Religion, in die Kunst (Literatur, Malerei) drängen sich beim Thema ‚Brot‘ wie von selbst auf.

Aber selbstverständlich bin ich sofort bereit zu akzeptieren, dass man auch über Erdbeerkonfitüre elementar unterrichten kann. Aber das Thema ‚Brot‘ wird dem hier diskutierten Anspruch eher, leichter, selbstverständlicher gerecht als das andere. Wenn ich somit verschiedene Themen alternativ gegen einander abzuwägen habe, fragt sich nicht „was ist elementar“, sondern „welches ist elementarer“.

Die Forderung, elementar zu unterrichten, gilt aber nicht bloss für die Wahl der Stoffe, sondern auch für die Art der Erkenntnisgewinnung. Dazu kennen wir grundsätzlich zwei Wege:

  • Entweder beginnen wir beim Konkreten, Speziellen, beim sinnlich erfahrbaren Phänomen und schreiten fort zum Abstrakten, Allgemeinen, Begrifflichen. Dies ist der induktive Weg.
  • Oder wir beschreiten den umgekehrten Weg: Wir gehen aus vom vorausgesetzten ab­strakten Prinzip und leiten das Einzelne, Konkrete davon ab. Die ist der deduktive Weg.

Je älter die Schüler sind, desto mehr sind sie zur deduktiven Vorgehensweise fähig. Aber für Schüler der Volksschule sind die beiden Wege nicht in gleicher Weise elementar. Elementarer ist der induktive Weg. Daraus ergibt sich die Forderung, sich so viel und so gründlich wie möglich immer wieder der Sache selbst, dem lebendigen und sinnlich erfahrbaren Phänomen zuzuwenden. Wenn (wie wirklich geschehen) Zweitklässler z.B. im Rahmen der Thematik ‚Huhn und Ei‘ als Haupttätigkeit Querschnitte durch Ei und Huhn und ein Knochenskelett auf vorgedruckten Arbeitsblättern beschriften und gescheite Be­griffe wie ‚Keimscheibe’ und dergleichen auswendig lernen, so ist dies wirklich nicht elementar. Anders jener Lehrer, der im Brutkasten Küken schlüpfen und die Kinder die lebendigen Tiere wirklich erleben und das Erlebte sprachlich fassen und gestalterisch (z.B. im Zeichnen oder Werken) verarbeiten lässt.

Man wird einwenden: Man lernt doch als Lehrer dies alles in der Ausbildung. Ich nehme das auch an, sehe aber, dass in der Praxis oft das Papier und die blosse trockene Information (als im Gedächtnis festzuhaltendes Wissen) gegenüber der wirklichen Sache und den aus Anschauung gewonnenen Erkenntnissen in unguter Weise überwiegen.

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