Arthur Brühlmeier

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Die ideale Lebensform

(Zitiert wird aus der Kritischen Ausgabe: PSW = sämtliche Werke, PSB = sämtliche Briefe)

Fassen wir den Organismus von Pestalozzis grundlegenden Ideen nochmals zusammen – der Mensch in seiner Entwicklung vom natürlichen zum sittlichen Wesen unter Respektierung des unaufhebbaren Naturzustandes und unter weiser Benutzung und Weiterentwicklung der unausweichlichen gesellschaftlichen Existenz; der Staat als gesellschaftliche Institution, welche dem Menschen ein gesichertes Leben im Rahmen von Recht und Gesetz, das heisst unter Wahrung der Menschenwürde und der aus dem Wesen der Menschennatur ableitbaren Rechte, Pflichten und Freiheiten garantieren soll; die notwendige Beseitigung des Elends als grundlegendem Hemmnis zur Versittlichung des Menschen und zugleich die positive Einschätzung bescheidener Lebensverhältnisse als ideale Voraussetzung für die harmonische Kräftebildung im Dienste der Sittlichkeit; ein im Göttlichen verwurzeltes Innenleben des Einzelnen, das der Wahrheit und der Liebe verpflichtet ist und sich so befruchtend und heilend im Gesellschaftlichen auswirkt – , so kann nicht übersehen werden, dass damit zur Hauptsache ein an sich formales Lebenskonzept entworfen wird, das es mit konkreten Inhalten zu füllen gilt.

Das formale Lebenskonzept, das im wesentlichen auch ein Modell des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft darstellt, ist – auch nach Pestalozzis eigener Intention – grundsätzlich als überzeitlich zu betrachten. Es übersteigt freilich den Rahmen dieser Abhandlung, aufzuzeigen, wie unendlich fruchtbar Pestalozzis Denken bei einer kreativen Umsetzung auf die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse ist und sein kann.

Noch zu klären ist indessen Pestalozzis eigene Vorstellung der idealen konkreten Lebensform. Gewiss steht sie in einem unlösbaren Zusammenhang mit der oben entwickelten Wesensbestimmung des Menschen, aber sie ist – im Rahmen dieses Zusammenhanges – auch abhängig einerseits von der historischen Situation, in welcher Pestalozzi lebte, und anderseits von seinen persönlichen Lebenserfahrungen und seiner persönlichen Interpretation dessen, was er rein formal als Sittlichkeit definiert hatte.

Wie sich Pestalozzi das ideale Leben vorstellt, können wir in wesentlichen Zügen bereits in der schmucklosen Geschichte vom ‘Bauernschuhmacher’ (1782) entnehmen, die in dieser Ausgabe wiedergegeben ist. Das Leben dieses einfachen Menschen zeichnet sich insgesamt aus durch weise Selbstbeschränkung. Der Mensch soll nicht jedem denkbaren Reichtum und nicht jedem vorstellbaren Genuss nachjagen, sondern beharrlich, geordnet, erfüllt mit stiller Freude und verwurzelt im religiösen Glauben seine Alltagspflichten erfüllen, um sich so einen bescheidenen Wohlstand selbst erarbeiten und in diesem selbst geschaffenen häuslichen Glück ein Leben in gegenseitiger Liebe und Wertschätzung führen zu können.

Diese Lebensform lässt sich mit Bestimmtheit in vielen der heutigen Gesellschaften nicht oder nicht mehr verwirklichen. Die Entwicklung einer sehr komplizierten und arbeitsteiligen Wirtschaft lässt an vielen Orten den Wunsch nach einer Gesellschaft selbständiger kleiner Unternehmer als Illusion erscheinen. Der eigentliche Handwerker ist vielerorts praktisch verschwunden, und eine Verbindung von Handwerk mit einem bescheidenen Landbau bleibt im Rahmen der modernen Industriegesellschaft ein romantischer Wunschtraum. Auch eine Bescheidung auf das häusliche Glück im Rahmen der eigenen Familie, die zugleich Produktionsstätte ist, kann heute kaum mehr als allgemein anzustrebende Lebensform ausgegeben werden. Zwar zeigt sich, dass überall dort, wo die Familie zerfällt, die sozialen Probleme fast ins Unendliche wachsen, aber es ist trotzdem eine Tatsache, dass sie, weil sie in vielen Ländern klein und durch die zunehmenden Scheidungszahlen der Ehen oft auch unvollständig geworden ist, darum nicht mehr in dieser unbedingten Weise der zentrale Bezugspunkt des Menschen sein kann. Die Überwindung der eigenen Armut durch Fleiss, Zuverlässigkeit, Ordnungssinn und treue Hingabe an seinen festen Platz und seine feste Aufgabe ist gewiss in den wirtschaftlich schwächeren Gebieten der Erde nach wie vor eine wünschbare Lebensform, aber in den reichen Staaten, wo die Menschen im Überfluss leben, muss eine solche Vorstellung des Lebens als überholt erscheinen. Auch die Beschränkung des Wissens auf das in den nächsten Lebensverhältnissen Notwendige erscheint als unzeitgemäss angesichts der allgegenwärtigen Einflüsse der Massenmedien und der Notwendigkeit, dass der Mensch immer kompliziertere Zusammenhänge verstehen können sollte, wenn er das gesellschaftliche Leben und sogar das Leben auf diesem Planeten ganz allgemein nicht zerstören will. Von Arbeit befreite Zeit war etwas, das das Volk zu Pestalozzis Zeiten kaum kannte und mit deren Ausfüllung sich Pestalozzi daher höchstens am Rande beschäftigte. Heute aber ist die sinnvolle Gestaltung der Freizeit durch nichtproduktive Arbeit in den wohlhabenden Landstrichen dieser Erde zu einem der grössten Probleme geworden.

Es muss daher mit aller Entschiedenheit festgestellt werden: Wenn es heute noch sinnvoll erscheint, sich intensiv mit Pestalozzis Gedankenwelt auseinanderzusetzen, so nicht deshalb, weil er uns eine konkrete Lebensform vorgezeichnet hätte, die es in allen Zeiten und in allen Gesellschaften aufrechtzuerhalten gilt. Pestalozzis Philosophie ist vielmehr darum fruchtbar, weil seine Grundgedanken ein formales Lebenskonzept beschreiben, das konsequent auf der unveränderlichen Natur des Menschen beruht, das es in jeder Gesellschaft schöpferisch mit konkreten Lebensinhalten zu füllen gilt und an dem sich der Mensch immer dann orientieren kann, wenn er sich in Widersprüche und Probleme verstrickt.

Angesichts der Tatsache, dass sich einerseits die Gesellschaft in eine andere Richtung entwickelt hat, als es Pestalozzi wünschbar schien, dass sich aber anderseits Pestalozzis grundlegende philosophische Gedanken in jeder gesellschaftlichen Situation als Mittel zur Analyse und als Hilfe zur Problembewältigung bewähren müssen, halte ich es für sinnvoll, gewissen Vorstellungen Pestalozzis, die als widersprüchlich erscheinen, etwas näher nachzuspüren. Dabei geht es mir insbesondere um die Wechselwirkungen zwischen dem subjektiven Gewinn der Arbeit hinsichtlich der Kräfte-Entfaltung und den objektiven gesellschaftlichen Auswirkungen des Arbeitsertrags:

Pestalozzi selbst weist immer wieder darauf hin, dass durch die oben beschriebene Lebensauffassung auch der allgemeine Wohlstand des Landes steigt. Damit zeichnet sich aber bereits ein erster Widerspruch ab: Schon die nächste Generation wird nicht mehr jene bescheidenen Verhältnisse vorfinden, die sich bei den Vätern hinsichtlich ihrer Kräftebildung so segensreich auswirkten. Es kann aber auch nicht Aufgabe des Staates sein, diese dürftigen Verhältnisse als besonders günstige Grundlage für die Entwicklung des Einzelnen künstlich herbeizuführen.

Eine solche Feststellung muss heute angesichts des verbreiteten Hungers als recht sinnlos erscheinen. Aber die Frage, ob der Staat den Luxus verhüten solle, stellte sich zu Pestalozzis Zeiten tatsächlich, allerdings nicht aus den angetönten pädagogischen Überlegungen heraus, sondern aus vorwiegend moralischen Gründen: Man pflegte den Luxus an sich als verwerflich zu empfinden. So wurde 1779 die Preisfrage „Inwiefern ist es zweckmässig und berechtigt, dem Luxus in einem kleinen Freistaat, dessen Wohlstand auf dem Handel beruht, Schranken zu setzen?“ ausgeschrieben; Pestalozzi antwortete darauf und erhielt den 1. Preis. In seiner Jugendzeit hatte er jede Form des Luxus mit grösster Entschiedenheit abgelehnt, aber während seiner landwirtschaftlichen Lehre musste er allmählich erkennen, dass der Luxus auch seine guten Seiten hat und eben auch dem Armen etwas bringt. So schrieb er an seine Freundin: „Um mich her will ich nicht aus Liebe zur Einfalt und zu einer stillen, ruhigen Lebensart das Volk um mich her elend verhungern sehen.“ (PSW 1, 303) In der Antwort zur Preisfrage greift er diesen Gedanken wieder auf und stellt fest, dass die Produktion von Luxusgütern im Volk den inneren Sinn für Gewerbsamkeit, Anpassungsfähigkeit und Geschicklichkeit bildet und dass die Arbeiter dabei auch viele wertvolle Erfahrungen machen. Voraussetzung für die wohltätige Wirkung des Aufwands ist, dass er in gesunden Schranken bleibt.

Auch hier fragt sich sogleich: Woher sollen die Schranken kommen? Pestalozzi sieht sie vor allem in der Erneuerung der Lebenssitten, welche ihrerseits vom guten Beispiel der Regierenden abhängt. Insofern sich diese Sitten nun im einzelnen Menschen als Hilfe zur bewussten Lebensgestaltung erweisen, sind sie zugleich ‘Einlenkungsmittel’ zur Sittlichkeit. Damit wird klar: Der sittliche Mensch beschränkt sich selbst und hält sich im Gebrauch des Luxus an ein gesundes Mass.

Aber die Frage bleibt: Wenn der Wohlstand etwas ist, das den Fleiss und die Geschicklichkeit des Arbeiters erhöht, so steigt er doch ganz allgemein, weil der geschickte und fleissige Arbeiter eben wiederum Wohlstands-Güter produziert, und er erreicht zuletzt unvermeidlich jene Grenze, wo das Leben zum Grossteil in Genuss umschlägt und der Grossteil der Arbeit zur Erhöhung des Luxus dient. Wenn man in dieser Situation die Mässigung des Luxus aus sittlichen Beweggründen heraus praktiziert, so stellt sich eine neue Frage: Womit soll jetzt der Mensch seine Zeit ausfüllen und woran soll er jetzt seine Kräfte bilden, wenn seine Arbeit nur noch zu einem kleinen Teil einer wirklichen Lebensnotwendigkeit entspricht? Werden seine Kräfte überhaupt noch richtig gebildet, wenn keine äussere Nötigung mehr zu deren angestrengtem Gebrauch vorhanden ist? Ja, wozu sollen Kräfte überhaupt noch gebildet werden, wenn objektiv für deren Einsatz kaum mehr ein Bedürfnis besteht? Diese Fragen mögen den meisten der heute lebenden Menschen, deren Schicksal Hunger, Krankheit und Elend ist, als überflüssig erscheinen. In der Schweiz indessen, im Lande Pestalozzis, wo der Fleiss – und wohl auch das Glück – des Volkes zu einem Wohlstand geführt hat, der alle Vorstellungen der meisten Menschen auf dieser Erde übersteigt, kann man diesen Fragen nicht mehr aus dem Wege gehen, um so mehr, als der Wohlstand ein Problem geschaffen hat, das Pestalozzi überhaupt noch nicht sah: nämlich die Zerstörung der Natur durch die Zivilisation.

Aus allem zu entnehmen, würde Pestalozzi antworten: Der Mensch, der ein gesundes Mass an Wohlstand erreicht hat, soll sein häusliches Glück in Ruhe geniessen und seine Kräfte anstrengen, um dem Mitmenschen zu helfen. Im Dienst an der Gemeinschaft kann er das Wesentlichste der Sittlichkeit verwirklichen: die Liebe.

Aber schon stellt sich wieder die Frage: Der Dienst am Mitmenschen setzt doch seine Hilfsbedürftigkeit voraus. Was soll man da helfen, wenn schon alle den Wohlstand erreicht haben?

Eine erste Lösung des Widerspruchs zwischen dem Erreichthaben eines bestimmten Wohlstandes und dem daraus folgenden Mangel an Beweggründen zur Arbeitsamkeit (und damit zur Kräfteentfaltung) und zum Liebesdienst ergibt sich aus der Erfahrung heraus, dass in dieser Gesetzmässigkeit nicht nur eine Aufwärtsentwicklung, sondern eben auch ein Zerfall enthalten ist. Pestalozzi beschreibt dies sehr klar in seiner Schrift ‘Ja oder nein’ (1793; in dieser Ausgabe wiedergegeben), und er stellt ausdrücklich fest, dass diese Gesetzmässigkeit nicht nur für Familien, sondern auch für Staaten gilt: „Das ist das Schicksal aller gesellschaftlichen Geniessungen und Vorzüge. Der arme Mann zieht seinen Sohn in den Schranken des Bedürfnisses zur Weisheit und Tugend. Seine Kinder, in den Sitten des Vaters erzogen, dehnen seinen Beruf aus und benutzen den Wohlstand des Hauses mit Kraft und mit Segen. Der Wohlstand der Kindeskinder wird gross, aber sie misskennen die Schranken ihrer Geburt, sie schämen sich der Arbeit ihrer Väter, sie geniessen mit Mutwillen, was diese mit Schweiss zusammengebracht (haben) und legen so den Grund zum Ruin des Hauses, den denn ihre Kinder vollenden. Diese, im Mutwillen der Väter erzogen, sehen tausend Geniessungen, deren Quellen schon erschöpft sind, als ihr angeborenes Recht an und wissen kaum, dass sie fehlen, indem sie in aller Hausverwirrung fortleben, in der sie erzogen worden (sind). Ihr Schicksal ist zu bedauern, aber die Welt mag den Fortgang ihres Familienlebens nicht tragen. Der hohe Gang der Natur, der, indem er alle Wesen durch Genuss zur Erschöpfung und durch Erschöpfung zum Tod führt, alles Leben erhält, dieser hohe Gang der Natur stürzt auch Könige in Lagen, die allein fähig sind, sie wieder zur Weisheit und Tugend ihres Standes zurückzuführen.“ (PSW 10, 132)

Nun stellt Pestalozzi dieses Auf und Ab zwar fest, aber er hält es natürlich nicht für wünschbar. Die Frage stellt sich somit: Wie kann es vermieden werden, wenn doch die Armut den Menschen zum Wohlstand tüchtig macht, aber der Reichtum den Menschen wieder schwächt und wieder in die Armut stürzt?

Die Erlösung aus diesem ermüdenden Kreis von Aufbau und Zerstörung ergibt sich einzig daraus, dass der Mensch akzeptiert, dass es nicht nur materielle Probleme zu lösen gibt. Liebesdienst ist eben nicht nur Hilfe in der materiellen Armut, sondern ebenso sehr im naturnotwendigen Leiden und in seelischen und geistigen Nöten. Krankheit und Tod werden in jeder Gesellschaft bedrängende Probleme bleiben, denn sie sind unabdingbar mitgegeben durch die menschliche Natur. Der Mensch, der von materiellen Sorgen weitgehend frei ist, hat also schon hier einen Wirkungskreis für seine Liebe. Wesentlicher aber ist wohl die Erfahrung, dass nicht nur die materielle Not Probleme schafft, sondern genau so sehr der materielle Wohlstand. Die reichen Staaten können davon ein langes Lied singen. Der Mensch, der sich folglich in der Vergrösserung seines eigenen Wohlstandes sittlich beschränkt, findet stets Wege, um jenen Menschen seelisch und geistig beizustehen, die sich in ihrer Jagd nach immer grösserem Wohlstand selbst als Menschen zu verlieren drohen.

Damit sind polar auf einander bezogene Kräfte gefunden, die auf einen labilen Gleichgewichtszustand hin zu tendieren vermögen: auf der einen Seite die jeweils vorhandene Armut, insofern sie als Belastung erlebt wird, sowie das Zurücksinken des Menschen in einen weniger entwickelten Zustand aufgrund seiner Verwöhnung – und auf der andern Seite die in der Armut liegenden Anreize zur Selbstentwicklung des Menschen und das sittliche Wirken von Menschen, die ihre eigenen materiellen Ansprüche bewusst einschränken. Denkbar wäre das Erreichen eines idealen Zustandes, in welchem alle Menschen einen massvollen Wohlstand geniessen und miteinander ein glückliches Leben führen. Pestalozzi weiss indessen sehr genau, dass dieser Gleichgewichtszustand bloss als Ideal denkbar ist, dass er sich praktisch aber nie verwirklichen lässt, weil eben die Versittlichung des Menschen an die Freiheit des Individuums gebunden ist und es daher immer Menschen geben wird, welche den Weg der Versittlichung nicht oder nicht entschlossen genug zu gehen bereit sind.

Der blosse Gedanke an diesen idealen Gleichgewichtszustand eröffnet allerdings den Blick auf noch eine weitere Problematik, nämlich das seelisch-geistige Leben in der Musse. Pestalozzi hat diesen Bereich wohl deswegen wenig erhellt, weil ihm eine Gesellschaft ohne Armut kaum vorstellbar war und weil die liebende Hinneigung zum Armen für ihn selbst den zentralen Lebensinhalt darstellte. Es kann indessen nicht übersehen werden, dass der Mensch in dem Masse, wie er es sich leisten kann, sich freiwillig im Gebrauch materieller Güter einzuschränken, die Sittlichkeit noch auf andere Arten verwirklichen können muss, als einzig durch die helfende Liebe. Kunst und Wissenschaft – beide jetzt nicht verstanden als Dienerin der Ökonomie –, aber auch die Religion – auch diese jetzt nicht bloss verstanden als Antrieb zur Nächstenliebe –, Bereiche also, die sich dem Wesentlichen des Schönen, des Wahren und des Heiligen nähern wollen, werden ebenso wichtig wie die Erlösung des Armen und Leidenden aus Elend und Schmerz. Daraus ergibt sich dann auch die Forderung nach einer Pädagogik, welche die harmonische Kräfteentwicklung und die dadurch zu erzielende Versittlichung des Menschen nicht einseitig als Hinbildung zum sozialen Dienst und zur mitfühlenden Liebe versteht. Harmonische Kräftebildung ist dann ebenso sehr auch zu verstehen als Weckung schöpferischer Kräfte: Damit soll der Mensch frei von materiellen oder ehrgeizigen Interessen an den Erkenntnissen der Menschheit teilnehmen und ihnen neue Erkenntnisse beisteuern, er soll auch die Sprache der Kunst empfinden lernen und seinen eigenen Teil zur Gestaltung einer nicht nur guten, sondern auch schönen Welt beizutragen verstehen, und er soll schliesslich auch in einer zweckfreien Beziehung zum Göttlichen leben und in der unmittelbaren Erfahrung dieser Beziehung Erfüllung des Lebens erfahren können.

So zeigt es sich denn, dass die Beschränkung auf das zuträgliche Mass beim Erwerb und Besitz materieller Güter, wie es Pestalozzi vorschwebte, in jeder Gesellschaft ihre Berechtigung hat: In der Situation der allgemeinen Armut ist die Beschränkung des eigenen Besitzes ein Dienst am Mitmenschen, mit dem man seinen Überfluss teilt, in der Situation des Reichtums ist die Beschränkung des Erwerbs ein Akt der Bescheidung, um den tieferen Möglichkeiten des Menschseins Raum zu gewähren.

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