Arthur Brühlmeier

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Johann Heinrich Pestalozzi

12. Januar 1746 – 17. Februar 1827

EIN LEBENSBILD

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus meiner Pestalozzi-Ausgabe für die Volksrepublik China. Im Originalmanuskript habe ich die chinesischen Leser mit vier grösseren, zwischen die ersten Kapitel eingeschobenen Exkursen mit der europäischen und schweizerischen Geschichte vertraut gemacht. Diese historischen Exkurse sind hier weggelassen.

So steht er da

Ein Mann ist unterwegs nach Basel, ungekämmt, schlecht gekleidet, mit Stoppelbart, rüstig ausschreitend. Ein Bettler liegt am Weg und streckt die Hand aus. Der Mann greift in die Tasche, findet nichts, blickt auf seine Schuhe, löst die silbernen Schnallen ab, reicht sie dem Bettler, sieht am Wege ein paar Halme von reifem Stroh, bindet damit notdürftig die Schuhe, blickt dem Bettler in die aufleuchtenden Augen und geht seines Wegs.

Wer ist dieser Mann?

Es ist Johann Heinrich Pestalozzi, der schon zu seinen Lebzeiten zu den grossen, leuchtenden Europäern gehörte und später einer der weltweit berühmtesten Schweizer werden sollte. Der Bettler kennt ihn nicht, aber Pestalozzi kennt den Bettler. Er kennt jeden Bettler, denn er weiss um die Not der Armen. Sein Herz ist für ihr Leiden so weit, dass er zu Zeiten selber in der Armut versinkt.

Ein unwiderstehlicher Zauber geht von diesem Manne aus. Man weiss: In praktischen Angelegenheiten hat er wenig Glück und wohl auch nicht eben viel Geschick. Er weiss es auch und leidet darunter. Und trotzdem will er praktisch Hand anlegen, er will helfen, Not lindern, den Menschen die Augen öffnen für ihre Aufgaben, für den Sinn ihres Lebens, für ihre eigene verschüttete Tiefe. Er erhebt seine Stimme, kraftvoll, erschüttert aus dem Grunde seiner Seele. Er ruft den Mächtigen der Staaten ihre Pflichten zu, mahnt sie, zeigt ihnen, was ihre Aufgabe ist. Er sieht die Not des Volks in seiner wirtschaftlichen und ebenso in seiner geistigen Armut. Er will helfen, erziehen, bilden.

Was treibt ihn an? Ehrgeiz, Ruhmsucht, Gewinnstreben, Machtgelüste? Nichts von alledem. Nur eines durchglüht ihn, von Kindsbeinen an bis zum letzten Atemzug: die Liebe, eine leidenschaftliche Liebe, die alle Menschen ergreift, umfasst, die sich an alle Menschen verschenkt. Pestalozzi gleicht einem Feuer, das niemals erlischt. Im Jahre 1805 schreibt er über sich selbst (er geht dem ‘ich’ aus dem Weg und schreibt über sich wie über einen fremden Menschen):

„Sein Wohlwollen und sein Vertrauen war durchaus nicht eine Folge seiner Einsichten und seiner Vorsätze. Es war eine Folge seiner physischen Organisation. So wie es Menschen gibt, die zum Misstrauen, zur Arglist und zur Verfänglichkeit gleichsam organisiert sind, Menschen, denen es Mühe und Überwindung kostet zu vertrauen, selbst wo überwiegende Vernunftgründe zum Vertrauen vor ihnen liegen, Menschen, bei denen die Ursachen ihrer Arglist und Verfänglichkeit gleichsam in der individuellen Eigenheit ihrer physischen Organisation selber liegen, so gibt es auch Menschen, bei denen die Ursachen ihrer Harmlosigkeit, Zutrauen und Wohlwollen ebenso in der individuellen Eigenheit ihrer physischen Organisation liegen. Wer Pestalozzi kennt, wird mit mir einstimmen, dass er einer dieser Menschen ist. Sein Wohlwollen ist durchaus nicht ein Resultat seines Denkens, es ist ganz ein Resultat seines Fühlens. Er muss vermöge seiner Organisation wohlwollen, er muss vermöge derselben vertrauen. Sein Verstand und seine Urteile gehen diesem Vertrauen, diesem Wohlwollen durchaus nicht voraus, im Gegenteil, sein Verstand und seine Urteile sind meistens Folgen seines Irrtums im Vertrauen und seines Anstossens im Wohlwollen.

In allem, was Pestalozzi tut, treibt ihn sein Herz, er wirkt ganz nur durch dasselbe. Nur später gibt ihm also Bestimmtes wirkliche Ansichten, Ideen, um welche sich seine geistige Tätigkeit lebendig bewegt. Aber in seinem Handeln bestimmen ihn nicht diese Ideen, in seinem Handeln bestimmen ihn nur die Gefühle seines Herzens. Diese sind es, die ihn zur Tätigkeit für die Menschen antreiben. Es ist unbedingt so, er hat nur durch sein Herz Einfluss auf die Menschen und vermag sie nur durch dieses zu leiten. Er hat keinen Sinn für das blosse Verstandeswirken der Liebe, und seine Liebe geht nicht von rechnender Vorsorge für das Ganze aus. Aber sie führt durch Aufmerksamkeit und Hingebung für die Bedürfnisse eine öffentliche Sorgfalt herbei, die das menschliche Herz zu ihrer Basis und menschliche Beruhigung zu ihrer Folge hat. Er will, er muss mit seiner Liebe ins Grosse, ins Allgemeine wirken. Aber er fasst dieses Grosse, dieses Allgemeine nicht nach willkürlichen konventionellen Gesichtspunkten ins Auge. Nein, er fasst dieses Grosse, dieses Allgemeine, er fasst die ganze Menschheit im reinen Bild des einzelnen Menschen ins Auge.“

Pestalozzis Äusseres wirkt unansehnlich, gar hässlich, sein Gesicht ist schon früh verrunzelt, zerrissen. Für alles, was nicht wesentlich ist, fehlt ihm der Sinn. Kleidung, Etikette, Bartputz, Frisur, Schuhwerk – alles ist Nebensache, darum immer vernachlässigt. Nicht, dass er sich damit rühmte, nein, er leidet darunter, weil er weiss, dass er seinen Mitmenschen Kummer bereitet; aber er bringt es nicht zustande, es wichtig zu nehmen. Er ist entweder in Gedanken, in Träumen, an der Arbeit oder in der Begegnung mit Menschen. Gelegentlich sammelt er auch Steine, denn er liebt ihren Glanz, ihre Farben, ihre Zeichen. Er trägt sie heim, legt sie auf ein Regal, zu andern, bis jemand, ohne dass er es bemerkt, wieder Ordnung macht. So sind denn seine Taschen meist zerrissen. Er trägt ohnehin fast stets dieselben Kleider, teils, weil es ihm an Geld mangelt, neue zu kaufen, teils, weil er keinen Sinn darin sieht, die Kleider zu wechseln. Jeder Prunk ist ihm fremd. Als junger Student und Stadtbewohner kleidet er sich mit dem einfachen, ungefärbten Rock des armen Bauern. In Yverdon, in seinem Erziehungsinstitut, trägt er jahrelang denselben braunen Mantel, oft Tag und Nacht.

Wenn er einen Menschen erblickt, sucht er sein Herz. Seine Augen strahlen aus dem ungepflegten Antlitz wie Brillanten aus schlechtem Gestein. Niemand kann sich diesen Augen entziehen. Sie sind das Tor, durch das die Liebe ein- und ausgeht. Lebenslang ist es seine Gewohnheit, kleine Kinder auf den Arm zu nehmen und grössere zärtlich an sich zu ziehen. Trotz seines abstossenden Äusseren wendet sich nie ein Kind ängstlich oder schreiend von ihm ab. Jedes fühlt sich glücklich auf seinem Arm und in seiner Nähe.

Pestalozzis Leben und Charakter sind erfüllt und geprägt durch Gegensätze und Spannungen:

  • Er liebt mehr als jeder andere, und doch lässt er sich hinreissen im Zorn, schlägt drein, ist ungerecht und kämpft und kämpft.
    Er weiss, wer er ist, er fühlt seine Kraft schon in jungen Jahren, aber er macht sich stets wieder unendlich klein, fühlt seine Schuld, fleht um Verzeihung, fleht um Liebe.
  • Er sieht auch, was not tut, packt es an, berechnet es klug – und scheitert. Er scheitert lebenslang, in allem – und steht immer wieder auf mit nicht zu brechender Kraft.
  • Er gerät im Unglück und im Misserfolg an den Rand der Verzweiflung, in Raserei, verliert oft fast den Verstand – und findet in sich stets wieder die Kraft zur Ruhe, zum Glauben an Gott, zum Glauben an die Menschen und an sich selbst, zum Glauben an den Sinn des Lebens.
  • Er ist vertraut mit Grossen und Kleinen. Er spricht mit dem russischen Zaren und spielt und lernt mit dem behinderten, schwachsinnigen Knaben. Die Grossen beachten seine Gedanken, seine Ideen. Die Kleinen leben in seiner Liebe.
  • Er schimpft gegen Bücherweisheit, gegen Buchstaben-Wahrheit, und schreibt sein ganzes Leben lang Bücher und Tausende von Briefen. Er schreibt eine Sprache, die höchste Ansprüche stellt, die höchste Intelligenz verrät – und lernt es sein Leben lang nie, die Wörter buchstabengetreu zu schreiben. Er hat eine Methode erfunden, um die Kinder gut und leicht schreiben zu lehren, aber seine Schrift ist meist so unleserlich, dass heute nur der Spezialist sie entziffern kann.
  • Er deckt die tragenden Grundsätze für eine menschengerechte und menschliche Erziehung und Bildung auf, legt sie immer neu dar, wird damit zum grossen Reformator des europäischen Bildungswesens, insbesondere der Volksschule – und doch stellt er sich ungeschickt an, wenn er als Lehrer vor einer Schulklasse steht. Seine Mitarbeiter bringen in Ordnung, was er verwirrt hat. Aber sie lauschen seinen Worten, um zu vernehmen, wie sie es richtig anstellen sollen.
  • Er besingt in seinen Schriften wie kein anderer den Segen und die hohe Bedeutung der Wohnstube – und setzt seine eigene Familie bei der Erfüllung seiner selbst gewählten öffentlichen Pflichten an zweite Stelle und gibt zeitweise seinen eigenen Sohn ausser Hauses zur Erziehung.
  • Er betrachtet die Schule als lästigen Lückenbüsser, eine Einrichtung, die man besser abschaffen würde, wenn sich dies einrichten liesse – und wird durch sein Wirken zum grossen Begründer einer menschengerechten Volksschule.

In allem und aus allem spricht sein von Liebe erfülltes oder von der Ungerechtigkeit verletztes Herz, aber wenn er etwas will, weiss er klug zu berechnen und scharf zu argumentieren, in Wort und Schrift.

In all seinem Tun stellt er seine Person zurück, alles gilt seinem Werk – und wenn er zur Feder greift, schreibt er immer wieder über sich selbst, über seinen Charakter, über sein Leben. Seine Gedanken, sein Werk und seine Person sind innigst miteinander verwoben.

Kein Wunder, dass sich dieser Mensch voller Spannungen und Widersprüche in seinem wichtigsten Buch – ‘Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts’ (1797) – die Frage vorgelegt hat: Woher kommen die Widersprüche im menschlichen Dasein? Was haben sie für einen Sinn? Wie lassen sie sich überwinden?

In der Schweiz kennt man heute Pestalozzi allgemein als herzensguten Vater armer Kinder. Gelegentlich wird er deswegen auch leise verspottet, und jedermann kennt die Redensart: „Ich bin nicht der Pestalozzi.“ Das will heissen: Ich bin nicht so dumm, dass ich ohne Not etwas weggebe oder mir etwas nehmen lasse.

Aber dass Pestalozzi nicht nur ein liebender Mensch war, sondern auch ein grosser Philosoph von tiefen und weiten Gedanken, das wissen auch in der Schweiz nur wenige. Als denkender Mensch hat Pestalozzi ungeheuer viel geschrieben. Was heute erhalten ist, umfasst 45 dicke Bände. Vieles ist verloren. Aber Pestalozzis Schriften werden nur von wenigen Schweizern gelesen, denn seine Sprache ist oft umständlich, und seine Gedankengänge sind oft so schwierig, dass die meisten lieber die Hände davon lassen.

Trotzdem ist Pestalozzis Geist in der Schweiz lebendig. Vieles von dem, was er gefordert hat, ist heute in unseren Schulen selbstverständlich geworden, auch wenn viele Lehrer nicht mehr wissen, dass sie eigentlich im Geiste Pestalozzis bilden und erziehen. Und wenn unsere Schulen kritisiert werden, so geschieht dies sehr oft unter Berufung auf Grundsätze des grossen Pestalozzi. So ist er denn der grosse Anreger und Mahner geblieben und wird es weiterhin bleiben. Dies verwundert nicht, denn seine wesentlichen Gedanken und Forderungen sind nicht in eine bestimmte Zeit hinein gesprochen, sondern haben überzeitliche Gültigkeit, weil sie aus einer tiefen Sicht ins Wesen des Menschen geschöpft sind.

 

Pestalozzis Kindheit

Als Pestalozzi am 12. Januar 1746 geboren wurde, war Zürich eine Stadt von 10’000 Einwohnern, die Hunderte von Dörfern ringsum beherrschte und wirtschaftlich bevormundete und auch ausbeutete. Nur wenige führende Geschlechter waren noch zum Regieren berechtigt. Die Pestalozzis gehörten zu ihnen. Johann Heinrichs Vorfahren waren Seidenhändler, Stadträte oder Pfarrherren. Sein leiblicher Vater brachte es nicht weit: Er wirkte als Wundarzt und Hilfsschreiber des Stadtrates und trieb etwas Weinhandel. Er liebte die Jagd und den Fischfang. Er starb als verarmter Mann, als Johann Heinrich erst 5 Jahre zählte.

Pestalozzis Mutter stammte aus gebildetem Haus, in dem sogar der grosse Goethe auf seiner Schweizerreise einkehrte, aber ihr Geschlecht stammte vom Lande, gehörte also nicht zu den Regierenden und galt darum nichts im Kreise der Mächtigen. Die vaterlose Familie verarmte, und nur dank der Sparsamkeit und den Haushaltungs-Künsten der Magd, die dem sterbenden Vater die Treue zur Familie in die Hand versprochen hatte und zeitlebens ohne Lohn für sie arbeitete, blieb den drei überlebenden Kindern der Hunger erspart. Freilich wusste man in der Stadt nichts über diese Notlage, denn unter den führenden Bürgersfamilien galt Armut als Schande, und so sparte man eher am Essen, als dass man seine öffentlichen Repräsentationspflichten versäumt hätte.

Als reifer Mann schreibt Pestalozzi über seine Kindheit:

„Ich lebte beinahe ohne alle Verbindung mit der Welt, wenigstens soweit diese Verbindung dem Menschen Kraft, Gewandtheit und ein gutes Benehmen im Umgang und in den Geschäften des Lebens gibt. Ich war gehütet wie ein Schaf, das nicht ausser den Stall darf. Ich kam nie zu den Knaben meines Alters auf die Gasse, kannte keines ihrer Spiele, keine ihrer Übungen, keines ihrer Geheimnisse. … Da in meiner Kinderstube eigentlich soviel als nichts dafür vorhanden war, mich vernünftig und lehrreich zu beschäftigen, und ich mit meiner Lebhaftigkeit gewöhnlich das verdarb und zugrunde richtete, was ich ohne diesen Zweck in meine Hand kriegte, so glaubte man, das Beste, was man diesfalls an mir tun könne, sei, zu machen, dass ich sowenig als möglich in die Hände nehme, damit ich so wenig als möglich verderbe. ‚Kannst du denn auch gar nicht stillsitzen? Kannst du denn auch gar nicht die Hände still halten?‘ Das war das Wort, das ich alle Augenblicke hören musste. Es war meiner Natur zuwider, ich konnte nicht stillesitzen, ich konnte die Hände nicht stille halten, und wahrlich, je mehr ich es wollte, desto weniger konnte ich es. Wenn ich nichts mehr fand, so nahm ich eine Schnur und drehte so lange an ihr, bis sie keiner Schnur mehr gleich sah. Jedes Blatt, jede Blume, die in meine Hand kam, hatte das gleiche Schicksal. …

In dieser Lage war mir die Schule wirklich wohltätig, sie gab meinem Trieb zur Tätigkeit doch wenigstens von einer Seite Spielraum. Es hiess doch wenigstens jetzt: ‚Tue etwas!‘ und nicht mehr bloss: ‚Höre auf, lass das bleiben, was du tust!‘ Freilich war das, was ich auch hier tun sollte, nichts weniger als geeignet, die Lücken ausfüllen, die schon in meiner Bildung waren; im Gegenteil, das, was ich hier tun und treiben musste, war hinwieder das Fundament zu neuen Lücken und schien wie dafür ausgewählt, um das, was in der häuslichen Bildung vernachlässigt worden, nur noch auffallender und die Folgen davon für mich noch drückender zu machen.

Ein Kind, das im Hause an keiner Arbeit, weder des Vaters noch der Mutter, weder des Knechtes noch der Magd, teilnehmen und bei den Knaben seines Alters nicht als Kamerad ihre Spiele mitmachen kann, muss notwendig in der Kraft der Besorgung von häuslichen Gegenständen als ungeschickt und unbrauchbar zurückstehen, es muss notwendig dahin kommen, bei den Spielen seiner Kameraden entweder, ohne es wagen zu dürfen daran teilzunehmen, auf die Seite zu gehen oder sich ihrer lauten Ausspottung und jedem kränkenden Missbrauch seiner Schwäche ausgesetzt zu sehen. Dagegen schützt ein solches Kind kein Schulgehen, kein Schuleifer, kein Schullob, kein Schreiben, kein Rechnen, kein Latein, kein Hebräisch, kein Katechismus und kein Psalter; im Gegenteil, der einseitige, träumerische Wert, den so ein Kind allem diesem gibt, die unverhältnismässige Kraft und Zeit, die es darauf verwendet und allem andern entzieht, der Eifer, mit dem es sich in diese Gegenstände hineinwirft, pflanzt ihm für alles andere, was es sonst in der Welt sein und tun sollte, eine tötende Gleichgültigkeit ein und bringt es dahin, dass es selbst den Anspruch auf allgemeine Brauchbarkeit und Tüchtigkeit in den Geschäften des Lebens zum voraus fahren lässt und sich dadurch nicht einmal erniedrigt achtet. Das gute Kind träumt sich, in dem, was es in der Schule lernt, einen Ersatz gewonnen zu haben, der ihm das andere entbehrlich mache. Aber es irrt sich: die Welt müsste anders sein, als sie ist, wenn ihm diese allgemeine bürgerliche Brauchbarkeit sollte entbehrlich gemacht werden können, und die Schulen müssten anders sein, wenn diese ihm einen Ersatz für das Unentbehrliche sollten geben können. … Ich verlor bei meinen Büchern alles Gefühl des Bedürfnisses dessen, was mir mangelte; glaubte beinahe, es lasse sich nichts Besseres mit den Händen machen, als Bücher und Federn darin halten. …

Ich war von der Wiege an zart und schwächlich und zeichnete mich durch viele Lebendigkeit in der Entfaltung einiger meiner Kräfte und Neigungen sehr frühe aus. Was mein Gefühl ansprach, dafür war ich in jedem Fall schnell und warm belebt. Andere Gegenstände hingegen, die eine ernste, aber anhaltende und kaltblütige Aufmerksamkeit in ihrer Beobachtung und Erforschung ansprachen, so wichtig und so bildend sie auch für mich hätten sein können, machten selten einen überwiegenden Eindruck auf mich. Im Gegenteil, es ist auffallend, alles, was mein Herz ansprach, schwächte den Eindruck dessen, was meinen Kopf erheitern sollte, sehr oft und sehr schnell. … Ich muss es geradeheraus sagen, ich zeigte mich in Gegenständen dieser letzten Art schon sehr frühe und gar oft unverzeihlich unaufmerksam, zerstreut und gedankenlos.

Ich glaubte alle Welt wenigstens so gutmütig und zutraulich als mich selbst. Ich war also natürlich von meiner Jugend auf das Opfer eines jeden, der mit mir sein Spiel treiben wollte.“

Seine freien Tage und Wochen verbrachte Pestalozzi zumeist bei seinem Grossvater, dem Pfarrer eines kleinen Dorfs ausserhalb der Stadt Zürich. Erschütternde Eindrücke gruben sich hier tief in die kindliche Seele: Zerlumpte Bauernkinder, kaum der Sprache mächtig, gierig auf alles, was essbar war; Herden von Bettlern, die das Land überzogen und jeden Monat wie fremdes Vieh in die Nachbarschaft gejagt wurden; kleine Diebe, die – der Kälte, dem Regen und dem Spott der Mitmenschen ausgesetzt – in einem Erdloch gefangen gehalten wurden; Kinder, die an hartgesottene Bauern als Arbeitssklaven verkauft wurden und in ihrer Überlastung zugrunde gingen. Er sah auch Kinder, die in einem natürlichen Leben aufblühten, dann aber beim Kämmen und Spinnen und Spulen und Haspeln der Baumwolle bleich und mager wurden. Und im Pfarrhause hörte er von der Verrohung des Volks, er hörte, wie Verbrecher nach Venedig gebracht und an die Ruderbänke von Kriegsschiffen gekettet wurden, wie Mädchen, die in ihrer seelischen Not ihr uneheliches Kind erwürgt hatten, enthauptet und wie Frauen, die sich der Hexerei schuldig gemacht hatten, öffentlich und lebendigen Leibes verbrannt wurden.

Schon in diesen frühen Jahren erwachte in seinem Herzen der unauslöschliche Drang, den armen, entrechteten, verwahrlosten Menschen zu helfen, ein Drang, der ihn lebenslang nicht verlassen sollte.

 

Schüler und Student

Pestalozzi besuchte in Zürich alle Schulen, die damals einem intelligenten Bürger der Stadt zum unentgeltlichen Besuch offen standen. Zuerst wollte er, wie sein Grossvater, Pfarrer werden, dann begann er, die Rechte zu studieren. Sein Herz brannte für das Vaterland, für das Volk. Sein berühmtester Lehrer war der grosse Johann Jakob Bodmer (1698 – 1783), ein Freund Goethes. Bodmer scharte alle begabten Studenten um sich, wöchentlich einen Abend in der Zunftstube der Gerber. Diese Gruppe fortschrittlich gesinnter Studenten nannte sich ‚Patrioten‘, was so viel heisst wie ‚Freunde des Vaterlandes‘. Sie gaben eine eigene Zeitschrift – den ‚Erinnerer‘ – heraus, und Pestalozzi war deren Redaktor. Im Kreise der Patrioten wurden die Gedanken der alten und neuen Philosophen eingehend erörtert: Platon, Titus, Livius, Sallust, Cicero, Comenius, Macchiavelli, Leibniz, Montesquieu, Sulzer, Hume, Shaftesbury, Lessing und vor allem und immer wieder Rousseau. Bei ihnen lernten die jungen Menschen hohe Lebensideale und weitsichtige gesellschaftliche Entwürfe kennen, und so war es nur selbstverständlich, dass sie diese mit der Lebenswirklichkeit in ihrer Stadt und deren Umgebung verglichen: Da lag die Macht in der Hand weniger führender Geschlechter der Stadt, und statt sich ans Recht zu halten, diente sie der Willkür. Wer Kritik übte oder sich gegen die Willkür der Mächtigen zur Wehr setzte und das Recht forderte, musste mit Verfolgung und Verbannung rechnen. Die Bauern in den umliegenden Dörfern mussten ihre Produkte zu vorgeschriebenen Preisen in der Stadt verkaufen und einen Grossteil ihres Bedarfs wiederum durch Käufe in der Stadt eindecken. Eigentlicher Handel oder grösseres Gewerbe war nur Bürgern der Stadt gestattet, und ebenso kamen für die Besetzung der kirchlichen und staatlichen Stellen – Pfarrämter, Gerichte und Verwaltung – nur Stadtbürger in Frage. Die Möglichkeiten der freien Meinungsäusserung waren sehr eingeschränkt, und wer etwas gedruckt veröffentlichen wollte, musste seine Manuskripte zuerst den staatlichen Stellen zur Genehmigung vorlegen. Die ‚Patrioten‘ rückten nun in ihren wöchentlichen Gespräch der selbstherrlichen und ungerechten Regierungsweise der herrschenden Klasse zu Leibe. Das böse Tun ungerechter Regierungsbeamter, Pfarrer und Richter wurde aufgedeckt und gebrandmarkt. Die Herrschenden reagierten nervös, drohten, unterdrückten. Aber die Studenten um Bodmer liessen sich nicht abschrecken, und den grossen Bodmer wagten die Hohen Herren nicht anzutasten. Um die Pressezensur zu umgehen, schrieben die Studenten ihre Gedanken gelegentlich von Hand ab und reichten sie von Freund zu Freund. Einmal vermutete die Regierung Pestalozzi als den Autor einer aufrührerischen Schrift und verhaftete ihn. Aber der wahre Urheber verriet sich selbst, indem er sich ins Ausland absetzte, und so liess man Pestalozzi nach drei Tagen wieder laufen. Immerhin musste er das Holz bezahlen, damit die Schrift auf öffentlichem Platze verbrannt werden konnte. Die Protokolle berichten, Pestalozzi hätte sich dabei sehr herausfordernd gebärdet, indem er – mit der Tabakpfeife im Mund und den Händen auf dem Rücken – auf der Zinne eines angrenzenden Hauses ruhig hin und her geschritten sei.

1766 veröffentlichte Pestalozzi als Zwanzigjähriger im ‚Erinnerer‘ seine ‚Wünsche‘. Da schreibt er zu Beginn:

„Ein junger Mensch, der in seinem Vaterland eine so kleine Figur macht, wie ich, darf nicht tadeln, nicht verbessern wollen; denn das ist ausser seiner Sphäre. Das sagt man mir fast alle Tage; aber wünschen darf ich doch? – Ja, wer wollte mir das verbieten, das übel nehmen können? Ich will also wünschen, und meine Wünsche den Leuten gedruckt zu lesen geben; und wer mich mit meinen Wünschen auslacht, dem wünsche ich – gute Besserung!“

Das ist die Sprache eines Menschen, der gelernt hat, mit der Unterdrückung zu leben, ohne sich einschüchtern zu lassen, und der es versteht, den Mächtigen ein Schnippchen zu schlagen. Hören wir uns einige Wünsche an:

„Dass doch kein grosser Geist zu träg wäre, oder es für seiner unwürdig hielte – für das gemeine Beste mit unverdrossenem Mut zu arbeiten, keiner auf die geringeren, aber fleissigeren und teureren Mitgeschöpfe mit Verachtung herabsähe!“ – „Dass doch etliche Reiche sich bemühten, die unflätigen Romane, die an dem Verderben so manches jungen Menschen schuld sind, aufzukaufen, und sie zu vertilgen. – Welch ein dummer Wunsch! das hiesse mir recht, Geld in den See werfen!“ – „Dass doch ein jeder, der für sich brav ist, bemüht wäre, nur einen einzigen anderen auch so zu machen, durch besonderes Beispiel, Aufsicht, Anleitung usw. alsdann hätten wir schon wieder einmal so viel brave Leute als jetzt!“ – „Dass doch jemand einige Bogen voll einfältiger, guter Grundsätze der Erziehung, die auch für den gemeinsten Bürger oder Bauern verständlich und brauchbar wären, drucken liess; und dass dann einige grossmütige Personen (mir schweben etliche im Kopf herum, die edeldenkend und vermögend genug wären, das zu tun) verschafften, dass diese sehr wenigen Bogen umsonst, oder nur etwa für einen einzigen Schilling an das Publikum überlassen würden; und dass dann alle Geistlichen zu Stadt und Land diese gemeinnützigen Bogen austeilten, und beliebten; und dass dann alle Väter und Mütter, denen sie in die Hände kommen würden, diesen vernünftigen und christlichen Erziehungsregeln folgten – aber, ja, das heisst freilich viel auf einmal gewünscht.“ – „Dass doch manches Frauenzimmer (das vielleicht auch eine Seele haben möchte), welches sich mit einer so innigen Selbstzufriedenheit und stolzer Bewunderung einige Stunden vor dem Spiegel mit ihrem Putz beschäftigen kann, sich selbst klein und verächtlich finden, und seine Zeit besser anwenden lernte!“ – „Dass doch ein jeder, der so viel über Irrlehrer und Ketzer schreit, genötigt würde, etwas zu ihrer Widerlegung zu schreiben! – Doch, nein, ich nehme diesen unbesonnenen Wunsch zurück; wir würden nichts mehr als abenteuerliche Streitschriften lesen müssen.“ – „Ich wünsche politische Satiren auf die neumodischen Staatslehren, welche die Begriffe von Freiheit und Recht aus den Herzen unserer Bürger ausmustern.“

 

Das Ideal des Bauern

Am meisten verzaubert waren die Zürcher Studenten von Rousseau. Im Jahre 1762 waren sein ‚Gesellschaftsvertrag‘ und sein ‚Emil‘ erschienen, und beide Werke erfüllten die Herzen der jungen Menschen mit dem Ideal eines natürlichen, tugendhaften und freien Lebens. Das Leben des Stadtmenschen erschien ihnen als verzerrt, verdorben und verkünstelt; der Bauer hingegen lebte – in ihren Gedanken – einfach, kraftvoll und in engster Verbindung mit der Natur. So zogen denn die Studenten an freien Tagen aufs Land, halfen den Bauern bei ihren Feldarbeiten und zeigten am Abend einander stolz die zerschundenen Hände. Für die meisten war dies eher ein Spiel, das die Gefühle angenehm erhob und sich auch ganz allgemein gut machte. Die Jugend hatte noch immer ihre Moden. Aber bei Pestalozzi griff dieser Gedanke tief und verband sich mit seinem Drang, den Armen auf dem Lande wirklich helfen zu können. So brach er seine Studien als Einundzwanzigjähriger vorzeitig ab und entschloss sich, selbst Bauer zu werden. Er trat bei einem Musterbauern namens Tschiffeli in die Lehre ein und lernte dort den Obst- und den Feldbau, die Pflanzung und Pflege neuer Gewächse, die Konservierung der Feldfrüchte und des Obstes, die Verbesserung des Bodens durch neue Dünge-Methoden, all die nötigen ökonomischen Berechnungen und den Umgang mit Käufern und Verkäufern.

Die Landwirtschaft befand sich im Gefolge der Aufklärung und des Aufkommens der modernen Natur-Wissenschaften in einem grundlegenden Umbruch: Während Jahrhunderten hatten die Bauern die ‚Drei-Felder-Wirtschaft‘ praktiziert, bei welcher abwechslungsweise immer ein Drittel des Bodens ein Jahr lang unbebaut blieb, damit er sich erholen konnte. Durch die Einführung neuer Gewächse, die einen andern Fruchtwechsel ermöglichten, und durch die künstliche Düngung wurde hinfort eine intensivere Nutzung des Bodens und der Verzicht auf das Ruhejahr möglich. Tschiffeli war eine der treibenden Kräfte bei dieser Revolution der Landwirtschaft, und Pestalozzi gedachte, in seine Fussstapfen zu treten.

Darüber hinaus hatte die Landwirtschaft eine philosophische Grundlegung erfahren: Hatte nämlich der ‚Merkantilismus‘ als Wirtschaftslehre des französischen Absolutismus die Edelmetall-Reserven als das Fundament des volkswirtschaftlichen Wohlstands erklärt, so wurde dem im Gefolge von Rousseau von den ‚Physiokraten‘ widersprochen; ihrer Überzeugung nach beruhte letztlich der Wohlstand einer Gesellschaft auf den natürlichen Erzeugnissen des Bodens, vorab auf einer gesunden Landwirtschaft, weshalb es als erste Aufgabe der Volkswirtschafts-Politik angesehen wurde, die Landwirtschaft zu modernisieren. Der Physiokratismus baute die staatliche Zwangswirtschaft (fehlende Handels- und Gewerbefreiheit; Kontrolle der Produktion durch die Zünfte) ab und förderte die private Wirtschaft, um durch das ‚freie Spiel der Kräfte‘ zu einem natürlichen Gleichgewichtszustand im Bereiche der Ökonomie zu kommen. Die optimale Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse des Volks sollte das Ergebnis des freien marktwirtschaftlichen Wettbewerbs und des internationalen Freihandels sein.

 

Braut und Bräutigam

Wenn sich Pestalozzi bereits mit 21 Jahren um eine praktische Tätigkeit bemühte, die auch ökonomisch etwas abzuwerfen versprach, so hatte dies freilich neben der modischen Schwärmerei für das Leben des Bauern und neben seinem Drang, der Landbevölkerung durch das gute Beispiel zu helfen, einen weiteren und ganz handfesten Grund: Er hatte sich verliebt, wollte heiraten und sollte daher auch eine Familie erhalten können.

Angefangen hat Pestalozzis Liebe zur bereits 29jährigen Anna Schulthess beim Tode ihres gemeinsamen Freundes Johann Kaspar Bluntschli, genannt Menalk, der mit 23 Jahren seinem Lungenleiden erlag. In Menalk hatte eine grosse Seele gelebt, er hatte alle seine Freunde im Kreise der Patrioten durch seine Ruhe und seine edle Gesinnung zur Tugend und zur ernsthaften Arbeit an sich selbst ermutigt, und seine Worte waren allen Freunden süsse Labsal der Seele. Der Einfluss Menalks auf Pestalozzi kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Menalk, der sich schon jung mit dem Tode anfreunden musste, war erfüllt von hohen Idealen und bestärkte in Pestalozzi den Entschluss, sich vollkommen für die Verbesserung der sozialen und politischen Zustände einzusetzen, auch auf die Gefahr seines eigenen Lebens hin. Menalk war auch trotz seiner Jugend der Seelenfreund Annas und weit entfernt von einem Anspruch, ihr Liebhaber sein zu wollen. Das war ganz nach dem Sinne Annas, die es gewohnt war, angebetet und umschwärmt zu werden und der in ihrer vornehmen Zurückhaltung und in ihrer Angst vor einer Erschütterung durch die Leidenschaft der Liebe allmählich der Lebensfrühling zerrann. Der Tod ihres Freundes griff ihr tief ans Herz, und Pestalozzi fühlte sich ihr in diesem Schmerz verbunden. Er verfasste für Anna eine intime Gedenkschrift über ihren gemeinsamen Freund, was ihm den Anlass zu einem kurzen Briefwechsel gab. Aber ganz unversehens weckte die gemeinsame Trauer über den Verlust des gemeinsamen Freundes in Pestalozzi die Liebes-Leidenschaft, die ihn mit der Gewalt eines Vulkans zu verschlingen drohte.

Anna Schulthess war die einzige Tochter (sie hatte noch 5 Brüder) eines reichen und angesehenen Zürcher Kaufmanns und Zuckerbäckers. Dieser stand stark unter dem Einfluss seiner Frau, einer herrischen, stolzen und gefühlskalten Person. Die Schulthess gehörten zu den Einflussreichen, Begüterten und Massgebenden der Stadt und wollten nicht zum einfachen Volk gezählt werden. Die Söhne und die Tochter hatten streng zu gehorchen und wurden bei Widersetzlichkeit entweder aus dem Hause verwiesen oder bestraft. Anna wurde noch mit 30 Jahren von ihren Eltern geschlagen. Sie betrachtete eine solche Form des Gehorsams als Ausdruck eines gottgefälligen Lebens und hätte darum unter keinen Umständen in eine Ehe ohne den elterlichen Segen eingewilligt.

Anna war 8 Jahre älter als Pestalozzi, eine bekannte Stadtschönheit, daran gewöhnt, immer genug Geld zu haben, sehr intelligent und gebildet, fromm, feinsinnig und empfindsam, einerseits eher kühl und Distanz gebietend, andererseits ebenso wie Pestalozzi zum Zorn neigend. Pestalozzi war körperlich unansehnlich, in mancher Hinsicht unbeholfen, erfüllt von hochfliegenden Plänen zur Verbesserung der Welt, arm und Sohn einer Witwe, deren Geschlecht in der Stadt nichts zu sagen hatte. Das konnte eigentlich nicht gut gehen und ist auch – übers Ganze gesehen – nicht immer gut gegangen. Auch aus der Sicht Annas bestand zwischen ihr und Pestalozzi ein klarer Standesunterschied, weshalb sie, als es zu den ersten Kontakten mit Pestalozzi kam, ihren Eltern diese Liebschaft vorerst verheimlichte und auch ihrem Geliebten verbot, irgend jemandem – nicht einmal seiner eigenen Mutter – etwas davon zu sagen. Als die Eltern Schulthess von Pestalozzis Absichten erfuhren, warfen sie ihn aus dem Haus und verschlossen ihm hinfort die Türe.

So blieb denn den beiden nicht viel anderes übrig, als sich täglich oder wöchentlich zu schreiben. Aus der Zeit zwischen Frühjahr 1767 und der Heirat im September 1769 sind heute noch 468 Briefe erhalten, die über 650 Buchseiten füllen. Die leidenschaftliche Liebe Pestalozzis zu Anna, ihr anfängliches Widerstreben und ihr allmähliches, eher kühles Entgegenkommen, dann der Durchbruch ihrer Liebes-Leidenschaft, das Aufblühen einer beiderseitigen Zuneigung voller Poesie, Humor und Zärtlichkeit, dann auch ihr Ringen um Wahrheit und Tugend und ihr Kampf für ihre Liebe gegen die reichen Eltern Schulthess mit allen Demütigungen und Verletzungen – all dies kann keinen unberührt lassen, der diese Briefe liest. Sie offenbaren auf eindrücklichste Weise Pestalozzis reiches Innenleben, seine Hochherzigkeit, seine Sorge um die eigene Tugend, aber auch sein Wissen um seine höhere Berufung für das Volk. Dabei überrascht den heutigen Leser immer wieder, dass die nach Tugend strebenden Menschen die Erschütterung ihrer Seelenruhe durch die Liebesleidenschaft als eine Gefahr betrachteten, die es vorerst zu vermeiden, dann zu besiegen galt. Hören wir ein wenig in jene ersten Briefe hinein, die damals nicht für die ganze Welt, sondern nur für einen einzigen Menschen bestimmt waren:

„Mademoiselle! Ich suche vergeblich meine Ruhe wieder. Ich sehe es, meine Hoffnungen sind verloren. Ich werde die Strafe meiner Unbedachtsamkeit mit einem ewigen Kummer büssen. Ich habe es gewagt, Sie anzustaunen, mit Ihnen zu reden, Ihnen zu schreiben, Ihre eigenen Empfindungen zu denken, zu fühlen, Ihnen zu sagen. Ich sollte die Schwäche meines Herzens gekannt und solche Gefahren ausgewichen haben, wo jede Hoffnung verschwindet. Was soll ich nun tun; soll ich schweigen und mit stillem Gram mein Herz verzehren und nicht reden und keine Hoffnung, keine Erleichterung meines Elends erwarten? Nein! ich will nicht schweigen, es wird Erleichterung für mich sein, wenn ich es weiss, dass ich nichts hoffen darf. –– Aber was hoffen? Nein! ich darf nichts hoffen! Sie haben Menalk gesehen, und ihm gleich muss der Mann sein, den Sie lieben können. Und ich! Wer bin ich? Welcher Abstand! Wie fühle ich schon den Todesstreich der grausamsten Worte, dass ich Menalk nicht gleich, dass ich Ihrer unwert! Ich weiss es; ich verdiene diese Antwort, ich werde sie erhalten; ich erwarte nichts anderes. …

Den ganzen Tag gehe ich ohne Beschäftigung, ohne Arbeit, gedankenlos immer seufzend umher, suche Zerstreuung und finde sie nicht, nehme Ihren Brief, lese ihn, lese ihn wieder, träume, habe Hoffnung, habe dann wieder keine, betöre eine zärtlich ängstliche Mutter mit Erzählung von den Gründen einer Krankheit, die ich nicht kenne, fliehe den Umgang mit meinen Freunden, fliehe die Heiterkeit des Tags, sperre mich ins einsamste, dunkelste Zimmer, werfe mich auf das Bett hin, finde keinen Schlaf, keine Ruhe; ich verzehre mich selbst. Ich gedenke den ganzen Tag nur an Sie, an jedes Wort, das Sie redeten, an jeden Ort, da ich Sie sah. Ich habe alle Stärke, alle Beruhigung in mir selbst verloren und hänge ganz von Ihnen ab. O wie klein, wie verachtungswürdig muss ich mich Ihnen in dem Augenblick, da ich Ihre Hochachtung zu erlangen suche, zeigen. …

Dreimal habe ich schon an Sie geschrieben, und dreimal den Brief wieder zerrissen; den will ich nicht mehr zerreissen. Ich halte es für meine Pflicht, jetzt zu reden, da ich nicht mehr anders als mit Gefahr meiner Gesundheit und meines moralischen Zustands schweigen könnte. Sie kennen mein Herz; Sie wissen, wie fern es von aller Verstellung. Sie kennen meine Schüchternheit; Sie wissen gewiss, welche Überwindung es mich gekostet, mich zu diesem Schritt zu entschliessen. Mehr will ich mich nicht entschuldigen.

Gütiger Himmel, stehe mir bei, mit Gelassenheit die wichtige Antwort zu erwarten. Und Sie, beste Schulthess! Eilen Sie, mich mir selbst wieder zu schenken. O Stunden, Augenblicke zwischen der Entscheidung! Mein Herz klopft; wie werde ich sie ertragen. Mein Glück, meine Ruhe, die Zukunft, ich, ich ganz, hänge von dieser Antwort ab. Eilen Sie, ich bitte Sie auf den Knien, zu antworten Ihrem P.!“

Pestalozzi liess diesen Brief Anna über ihren Bruder Kaspar überreichen, mit dem er befreundet war. Im Hause Schulthess bestand eine eigentliche Kluft zwischen den Kindern und den Eltern: Die Kinder hielten zusammen, und so haben auch später, als Pestalozzi seiner Geliebten seine Briefe über die Brüder zusteckte und diese auch gelegentlich ein Stelldichein mit der Schwester arrangierten, die Eltern niemals etwas von diesen Geheimnissen erfahren.

Anna antwortete vorerst nur kurz und sehr reserviert („Wie unerwartet! … wie erstaunend fremd kommt mir dies alles vor!“) und bekannte sich erst nach einiger Zeit zu ihren eigenen Liebesgefühlen. Diese unterschiedliche Ansprechbarkeit und Ergriffenheit des Gefühls ist bezeichnend für das Verhältnis der beiden zueinander insgesamt. Er: rasch ergriffen, mit Leib und Seele ganz in der Gegenwart, intensiv, wie ein Feuer sich verzehrend; und sie: zwar nicht gefühllos, so doch vorsichtig abwartend, sich bewahrend, klug abwägend. Eine Grundlage für ein unangefochtenes seelisches Glück, für dauerhafte Harmonie konnte das nicht sein, aber vielleicht hätte sich Pestalozzi von innen her verbrannt, hätten ihn nicht von aussen immer wieder kühlere Winde angeweht. Gewiss hat er oft in seinem Leben unter diesem Gefühlsmissklang gelitten.

Als unter Pestalozzis Liebes-Werben auch in Anna die Liebesleidenschaft erwachte, lieferte er sich nun bezeichnenderweise nicht den Stürmen der Liebe aus, sondern zog sich in die Einsamkeit zurück, um die Möglichkeiten seiner Zukunft in Ruhe zu erwägen. Vor allem beschäftigte ihn die Frage, wie sich seine Pläne eines öffentlichen Wirkens, das durchaus nicht ohne Gefahren sein konnte, mit der Verehelichung und der Gründung einer Familie vertragen könnte. Hier galt es, Prioritäten zu setzen und der Geliebten die Wahrheit zu sagen. Der lange Brief, in dem Pestalozzi sich selbst und seiner Geliebten über seine Lebensaussichten Rechenschaft ablegte, gestattet einen tiefen Blick in die Seele des Einundzwanzigjährigen und vermag den Leser immer wieder wegen der Reife und der Bestimmtheit der Lebensbetrachtung zu ergreifen. Pestalozzis und Annas Briefe zeigen deutlich: Beide lieben in ihrem Partner die Tugend, beide wünschen, vom andern auf dem Weg der Tugend bestärkt zu werden, und beide sehen ihren Entschluss als einen Schritt, den sie aus innerster Wahrhaftigkeit des Herzens vor dem Antlitz des Schöpfers tun.

Im September 1767 verliess Pestalozzi Zürich, um seine landwirtschaftliche Lehre anzutreten. Seine Briefe wurden Anna durch Freunde und Brüder im geheimen zugesteckt. Immer wieder wird deutlich, dass er seine Berufslehre als eine Vorbereitung zu einer Tätigkeit zum Wohle des Volks versteht und dass seine geplante landwirtschaftliche Unternehmung „das Glück vieler seiner Nebenmenschen“ bezweckt. Seine künftigen Taten zum Wohle der andern schweben ihm als idyllische Bilder vor den Augen:

„Wenn ich einst auf dem Land bin, und einen Sohn eines Mitbürgers sehe, der eine grosse Seele verspricht und der kein Brot hat, so führe ich ihn an meiner Hand und bilde ihn zum Bürger, und er arbeitet und isst Brot und Milch und ist glücklich. Und wenn ein Jüngling eine edle Tat tut und den Hass seiner menschenfürchtenden Familie auf sich lädt, so soll er bei mir Brot finden, solange ich habe! Ja, mit Lust, Geliebte, trinke ich dann Wasser und gebe die Milch, die ich liebe, dem Edlen, dass er sehe, wie ich ihn schätze.“ … „Wie glücklich, wenn ich einem guten Mitbürger auf meinem Landhaus eine Freistadt verschaffe und ihn mit meiner ländlichen Weise nähre.“… „Ach, Segen und Freude um sich her zu verbreiten, welche Wollust, welche Entzückung! Und aus einer unbemerkten niederen Hütte der Segen des Landes sein, o Geliebte, wie überfließt mein Herz von Hoffnungen!“

Es wird sich zeigen, dass das wohltätige Wirken weniger durch Freuden versüsst als durch Schmerz, Verzicht und Enttäuschung erlitten werden sollte.

Pestalozzis Pläne reichen indessen schon über seine Tätigkeit als wegweisender Bauer hinaus. So schreibt er Anna einmal: „…, daß Umstände möglich (sind), die mich in späten Jahren ab diesem Landsitz abrufen. Ich werde immer das tun, was ich als ein redlicher Bürger meinem Vaterland schuldig bin.“ Diese Umstände sind denn auch wirklich eingetroffen.

Nach langem Kampf mit Annas Eltern gelang es, vorerst den Vater Annas für die Verbindung der beiden zu gewinnen. Die Mutter leistete bis zum Schluss erbitterten Widerstand. Sie setzte es durch, dass die reiche Tochter nichts in die Ehe mitnehmen durfte als ihre Kleider und ihr Klavier. Pestalozzi durfte, entgegen dem allgemeinen Brauch, seine Braut bei der Verheiratung am 7. August 1769 nicht im Elternhause abholen, sondern Anna musste zu Fuss und allein in aller Stille des Morgens das Haus ihres Bräutigams selber aufsuchen. Der Kommentar der Mutter, angesichts der nicht mehr zu ändernden Situation, war kalt und nüchtern: „Ich wünsche, dass es Dir so gehe, wie Du hoffst; denn Du wirst nur auf Wasser und Brot eingeladen!“ Die Hochzeitsfeier fand in engstem Kreise statt: Neben Pestalozzis Familie nahm daran nur ein Bruder der Braut teil.

 

Der Bauer Pestalozzi

Nach nur 9 Monaten hatte Pestalozzi seine Lehre beendet und kaufte sich 25 Kilometer von Zürich entfernt – im kleinen Dorf Birr, an dessen Schulhauswand er heute begraben liegt – von über 50 Bauern mehr oder weniger brach liegendes Wies- und Ackerland, insgesamt gegen 20 Hektaren, und errichtete ausserhalb des Dorfs neue Gebäulichkeiten.

Dieser ‚Neuhof‘ sollte fortan seine Wohnstatt werden, auch wenn er später auswärts zu wirken hatte. Er bewohnte und bewirtschaftete ihn bis 1798 und zog sich 1825 wieder auf ihn zurück, als er seine Erziehungsanstalt in Yverdon schliessen musste. Der Neuhof wurde während Pestalozzis Abwesenheit zuerst von dessen einzigem Sohn, der 1801 im Alter von 31 Jahren starb, dann vom zweiten Ehemann der überlebenden Witwe und schliesslich von Pestalozzis einzigem Enkel bewirtschaftet. Heute ist der Neuhof eine Erziehungsanstalt für verwahrloste und gefährdete Jugendliche.

Pestalozzi gedachte – ganz im Sinne des Physiokratismus – den Boden durch neue Düngemethoden zu verbessern und den Anbau der Esparsette – einer neuen Futterpflanze – und der Krapp-Pflanze einzuführen, deren Wurzel einen roten Farbstoff für die Textil-Industrie hergab. Finanzieren konnte er das Projekt einerseits durch das ihm zustehende Erbe seines früh verstorbenen Vaters, dann durch ein Darlehen seines Onkels mütterlicherseits und schliesslich durch einen Vorschuss eines Zürcher Bankhauses, das entfernt zur Verwandtschaft Annas gehörte.

Schon von Anfang an türmten sich zahlreiche Schwierigkeiten auf, die Pestalozzi das Genick brachen:

Abgesehen davon, dass er nicht gerade der Mann war, der sich in seinen vorgefassten Plänen leicht beraten liess, fehlte ihm bei der Gründung seines Unternehmens jede väterliche Hilfe: Sein eigener Vater war längst tot, und Annas Familie, die über Weltgewandtheit und Erfahrung in geschäftlichen Dingen verfügt hätte, liess ihn im Stich. Auch hatte Anna das sparsame Haushalten nicht gelernt, und das Zusammenleben mit den Nachbarn entwickelte sich durchaus nicht so, wie es sich Pestalozzi in einem Brief an Anna erträumt hatte:

„O liebe, liebe Nannette, wie wohl wird uns nicht sein, wenn wir bei unseren Spaziergängen niemand mehr fürchten müssen, und uns jeden Schritt ein bekannter Nachbar darum kennt, dass wir ihm gut sind, dass wir ihn lieben, einem Mann, dem wir Gefälligkeiten erwiesen, dann ein Weib, das Du in einer Krankheit, die sie erst verlassen, besucht, dann Kinder, denen wir tausend kleine Freuden machen, dann ein Greis, der, unvermögend, dennoch kein Almosen bittet, aber uns kennt, dann frohe Arbeiter, die uns segnen, dass wir ihnen durch unseren Beruf nützen. Mein Kind, wie unaussprechlich entzückend wird dieses Leben sein, da, wo kein schielender Neid die angenehmen Handlungen der Tugend lästert, und Freude die einzige Folge unserer Rechtschaffenheit sei. Mein Kind, ist es möglich, wirst Du Dich nicht gerne einschränken, wenn tausend um uns her des Benötigten mangeln? Ach, mein Kind, wie sollten wir uns nicht gerne einschränken, auch wenn uns der Herr sehr segnen würde und unser zeitliches Glück sich früh befestigte! Dann, mein Kind, wäre die Freude der Einschränkung für mich noch grösser. Ach, Segen und Freude um sich her zu verbreiten, welche Wollust, welche Entzückung! Und aus einer unbemerkten niederen Hütte der Segen des Landes sein, o Geliebte, wie überfliesst mein Herz von Hoffnungen! O wäre ich in Deinen Armen, mir soll nichts mangeln! O Freundin, wie soll die reine Quelle mir schmecken, und wenn ich Wein habe, soll er den schwachen Kranken erquicken und nicht die Sünden üppiger Gastmahle veranlassen! Nein, jede Besucher sollen es sehen, dass ich den Reichtum und die Wollust verachte, dass ich den Armen helfe, wie ich kann.“

Das Leben auf dem Neuhof wurde keineswegs ‚unaussprechlich entzückend‘, denn seine Nachbarn waren erfüllt von Argwohn und Misstrauen und legten ihm so viel in den Weg, wie möglich war. Sie durchschritten seine empfindlichen Pflanzungen, wie sie es zuvor beim schlechten Weideland gewohnt waren, und sie liessen ihr Kleinvieh auf seinen Äckern weiden, wie dies bei der alten Dreifelderwirtschaft in jedem Brach-Jahr dem ungeschriebenen Recht entsprach. Dass die Krapp-Pflanze volle vier Jahre brauchte, bis ihre Wurzel ausgereift war, kümmerte sie nicht, sie wollten ihr vermeintliches Recht. Pestalozzi versuchte es zuerst mit guten Worten, dann errichtete er Zäune, und als diese niedergerissen wurden, musste er die Gerichte anrufen, die ihm schliesslich Recht verschafften. Aber die Freundschaft der Nachbarn hatte er sich damit verspielt.

Aber die Sache kam noch schlimmer, denn die Bauern brachten Pestalozzi beim Geldgeber in Verruf, und selbst die eigenen Knechte redeten zum Zürcher Bankier schlecht über die Erfolgsaussichten der Unternehmung, weshalb dieser sein Kapital am 12. August 1770 kurzerhand zurückzog, ehe Pestalozzi zum erstenmal ernten konnte und bevor der Zimmermann den Dachstuhl über dem neuen Hause errichtet hatte.

Der Boden erwies sich für den Krapp-Anbau tatsächlich als wenig geeignet, und die schlimmen Jahre 1771 und 1772, die wegen ihren Missernten ganz Europa in Hungersnöte stürzten, zerstörten auf dem Neuhof, was noch hätte gedeihen können. Pestalozzi versuchte, sich mit Viehwirtschaft zu retten, aber dazu fehlten ihm die Detail-Kenntnisse vollends. Der Schuldenberg wuchs und wuchs, und 1774 stand der junge Bauer vor dem finanziellen Ruin. Er verkaufte sein Vieh, verpachtete den Grossteil seines Landes an andere Bauern und steckte trotzdem noch bis zum Halse in den Schulden. Diese wurden von Annas Familie beglichen, was ihn bei seinen Schwägern mehr als unbeliebt machte.

Einen Tag nach der Kündigung des Kapitals durch das Bankhaus Schulthess gebar Anna ihr einziges Kind, einen Knaben, den die Eltern Rousseau zu Ehren auf Jean Jacques tauften. Der Knabe war fortan ihre ständige Sorge, denn er entwickelte sich nicht, wie sie es sich erhofft hatten, und immer wieder auftretende epileptische Anfälle schwächten seine Gesundheit. Zwar heiratete er noch und erhielt über seinen Sohn Gottlieb noch für eine Zeit die Ahnen-Reihe der Pestalozzi aufrecht. Jean Jacques starb aber schon mit 31 Jahren, und sein Enkel Karl blieb unverheiratet, womit Pestalozzis Linie ausgestorben ist.

Pestalozzi verlegte sich dann kurz auf den Handel mit Baumwolle, indem er von Verwandten der Familie Schulthess die rohen Baumwollballen bezog und sie in den Spinnstuben und Webkellern in den Häusern der Gegend verarbeiten liess. Aber er war nicht dazu geschaffen, aus der Arbeit armer Menschen genügend Gewinn zu ziehen, und seine Geldgeber mussten erneut finanzielle Verluste hinnehmen. Sein Schwager Heinrich Schulthess schrieb erbost: „Entweder hört er auf mit Handel und Fabrikation, oder er wird unserem ganzen Hause zur Plage und zur Schande.“

 

Pestalozzi als Armenerzieher

So wenig erfolgreich Pestalozzis Baumwoll-Unternehmung war, so gab sie doch den Impuls für die Umwandlung des Neuhofs in eine Armenanstalt. Pestalozzi sah Hunderte von Kindern im Elend, der Verwahrlosung oder dem Bettel preisgegeben, und er erkannte, dass ihnen nur geholfen werden konnte, wenn sie arbeiten lernten, wenn sie gebildet wurden und wenn sie in der damaligen gesellschaftlichen Situation das Spinnen oder das Weben und den intensiven Feldbau erlernten.

Pestalozzi war in grosser finanzieller Not und drohte selbst völlig zu verarmen. Und ausgerechnet in dieser Lage nahm er – ab etwa 1773 – arme Kinder in sein Haus auf, nährte sie, kleidete sie, hielt sie zum Arbeiten an, lehrte und erzog sie. Und so verwandelte sich sein Bauernhof im Jahre 1774 allmählich in eine Armenanstalt. Sie sollte nicht nur ihn als Unternehmer ernähren, sondern er wollte zugleich in der Verbindung von Landwirtschaft mit der aufkommenden Industriearbeit einen praktischen Lebensraum schaffen, um darin mittellose Kinder auf ein Leben vorzubereiten, in dem sie ihre Armut aus eigener Kraft bemeistern konnten. 1776 lebten in seinem Hause 22 Kinder, zwei Jahre später waren es sogar 37. Er errichtete zwei weitere Gebäude: eine Fabrikstube und ein Kinderhaus, und stellte gelernte Webermeister und Spinnerinnen und Mägde für den Feldbau an, welche die Kinder bei der Arbeit zu betreuen hatten. Während der Arbeit am Spinnrad oder am Webstuhl führte er sie ins Lesen und Rechnen ein. Und das ganze Leben auf dem Neuhof war durchdrungen von Pestalozzis Willen, die Herzen der Kinder zu erwärmen für ein Leben in Wahrheit und Liebe.

Das Geld borgte sich Pestalozzi zuerst von Freunden, Bekannten und Verwandten. Als es nicht reichte, richtete er 1775 eine Bitte an die Öffentlichkeit, seine Armen-Erziehungsanstalt durch Darlehen zu unterstützen. Er versprach den Geldgebern die Rückerstattung ihrer Kapitalien, denn er war überzeugt, dass die Kinder, wenn sie einmal arbeiten gelernt hätten, durch ihre Arbeit die Anstalt finanziell selbsttragend erhalten könnten. Aber Pestalozzi täuschte sich, denn sobald die Kinder eingekleidet und wohlgenährt waren und spinnen oder weben gelernt hatten, holten die Eltern sie wieder heraus und liessen sie zu Hause auf eigenen Gewinn arbeiten. Und die Gespinste und Gewebe aus Kinderhand entsprachen auch nicht den Qualitätsansprüchen der verwöhnten Käuferschaft, weshalb Pestalozzi seine Produkte weit unter dem Preis losschlagen musste. 1776 und 1777 waren wieder Hunger-Jahre, verursacht durch Missernten, weshalb die versprochenen Beiträge nicht in der erwarteten Höhe eintrafen. Pestalozzis Ernte wurde 1777 durch ein Unwetter fast völlig vernichtet, so dass er die Vorräte für den Winter kaufen musste. 1778 sah sich Anna genötigt, auf ihr Erbe zu verzichten, damit die Schulden bezahlt werden konnten. Und ein Jahr darauf blieb Pestalozzi nichts anderes mehr übrig, als etwa den dritten Teil seines Landes zu verkaufen. Er betraute mit dem Geschäft seinen Bruder Baptist. Als der aber das viele Geld in der Hand hatte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen: Statt die Gläubiger zufriedenzustellen, machte er sich aus dem Staub und schrieb Monate darauf – am 17. Februar 1780 – aus dem fernen Amsterdam einen erschütternden Brief voller Reue und Verzweiflung an einen von Annas Verwandten. Am meisten wurde seine Seele vom Gedanken gequält, dass er seine liebende Mutter enttäuscht hatte und er sie niemals mehr sehen werde. Man hat nichts mehr von ihm gehört, und man muss annehmen, dass er in fremden Kriegsdiensten ums Leben gekommen ist.

In seinem Lebensrückblick im ‚Schwanengesang‘ schrieb Pestalozzi: „Unser Unglück war entschieden. Ich war jetzt arm.“ Fast alle Freunde hatten ihn verlassen, die Nachbarn mieden und verhöhnten ihn, und die zu Schaden gekommenen Verwandten wollten ihn nicht mehr sehen, da sie nicht an das verlorene Geld erinnert werden wollten. Seine Frau hatte sich krank gearbeitet und erholte sich hinfort wochen- und monatelang bei Freundinnen, insbesondere bei der Gräfin Franziska Romana von Hallwil, die schon mit 19 Jahren Witwe geworden war. Eigentlich waren es nur noch zwei Menschen, die bedingungslos zu ihm standen: Um 1780 herum kam die Magd Elisabeth Näf auf den Neuhof; sie kannte und schätzte Pestalozzis soziale Unternehmung, sie hatte auch von seinem Unglück gehört und hielt nun Pestalozzis Haushalt und verwildernde Gärten in Ordnung. Sie wurde von Frau Pestalozzi als Freundin geachtet und diente der Familie Pestalozzi bis 1825. Pestalozzi hat ihr in der Gestalt der ‚Gertrud‘ in seinem grossen Roman ein Denkmal gesetzt. In der Stunde der düstersten Verzweiflung Pestalozzis aber war es der Ratsschreiber der Stadt Basel, Isaak Iselin, der trotz allem Misserfolg an den Mann auf dem Neuhof glaubte und ihm seine Liebe und Hochachtung erwies. Iselin war ein bedeutender Vertreter der ‚Philanthropen‘ (Menschenfreunde), einer Reformbewegung, die insbesondere das Gedankengut Rousseaus in allen Lebensbereichen praktisch anzuwenden versuchte. Als Iselin 1782 starb, verriet Pestalozzi in einem langen Nachruf, den er in seiner eigenen Zeitschrift (Ein Schweizerblatt) veröffentlichte, dass es Iselin war, der ihn seinerzeit aus der Verzweiflung errettete und ihn – aus allem zu entnehmen – wohl auch vor dem Selbstmord bewahrte. Es war einer der entsetzlichsten Augenblicke im Leben Pestalozzis, als er seine Armenanstalt auflösen und seine Kinder wieder auf die Strasse schicken musste. Pestalozzi war am Rande des Wahnsinns, und es war Iselin, der ihm in seiner Verzweiflung Trost spendete und Mut zusprach. In Pestalozzis Nachruf lesen wir unter anderem:

„Zu eben der Zeit, in welcher alle, die mich liebten, nur seufzten, wenn man von mir redete, zu eben der Zeit lächelte mir Iselin Wonne und Freude, und war mein Vater, mein Lehrer, meine Stütze, und meine Erhebung. … Vielleicht wäre ich ohne dich in meiner Tiefe gesunken, und im Schlamm meines Elends verloren geblieben. … O – dann hätte auch mein Weib den Trost meines Lebens verloren, und mein Kind wäre ohne einen Vater; und sein hoffnungsvolles Blühen wäre dahin. … O – mein Vater! im Sturm des Entsetzens, der die Arbeit ermüdender Jahre zernichtete, und meine Seele wie ein Schwert durchschnitt, und meine Sinnen verwirrte, botest du mir deine Hand, und dein Herz, und deine Liebe. … Du sahst meine Arbeit, und mein Leiden, u. meine Standhaftigkeit; du sahst meinen Mut, meine Geduld, du sahst das Anspannen meiner Kräften, das Überwinden meiner selber; du kanntest den Umfang meines Tuns, und den Druck meiner Umständen, und beurteiltest mein Werk für mich, nicht nach seinem Erfolg, sondern nach meiner Arbeit. O – mein Freund! wie liebte ich dich damals, da weit umher aller Menschen Urteil nur Unsinn und unerrettbare Torheit über mich aussprach, damals, da ich zu stolz war, und zu tief lag, und zu viel fühlte, um einem einzigen von allen, die um mich her gedankenlos und gefühllos über mich klapperten, zu antworten, und zu widersprechen.“

Hinfort blieb die Führung einer Armenanstalt die grosse Sehnsucht in Pestalozzis Leben. Im Jahre 1799 sollte ihm in Stans deren Erfüllung für wenige Monate beschieden sein. So bedeutungsvoll und erfolgreich später seine Erziehungs- und Schulanstalten in Burgdorf und Yverdon auch werden sollten, so war es doch nicht das, was er eigentlich wollte. Als ihm 1818 ein grösserer Betrag aus dem Erlös seiner Schriften in Aussicht stand, eröffnete er in der Nähe Yverdons sofort wieder eine Armenanstalt. Aber auch sie hatte nur kurzen Bestand und wurde bald wieder von seinem Institut in Yverdon eingesogen. Und als er schliesslich als fast Achtzigjähriger auf seinen Neuhof zurückkehrte, trug er sich allen Ernstes mit dem Gedanken, seine einstige Armenanstalt wieder neu zu beleben. Der Tod hat ihn dann von dieser Sehnsucht nach dem Vaterdasein inmitten armer Kinder erlöst.

 

Zum Schriftsteller verurteilt

„Er stand da –– sie drängten sich um ihn her, und einer sagte: Du bist also unser Maler geworden? Du hättest wahrlich besser getan, uns unsere Schuhe zu flicken.

Er antwortete ihnen: Ich hätte sie euch geflickt, ich hätte für euch Steine getragen, ich hätte für euch Wasser geschöpft, ich wäre für euch gestorben, aber ihr wolltet meiner nicht, und es blieb mir in der gezwungenen Leerheit meines zertretenen Daseins nichts übrig, als malen zu lernen.“

So sah sich Pestalozzi in dieser Lage selber. Das einzige, was ihm noch blieb, um sozial und politisch wirken zu können, war die Schriftstellerei: das Malen des Menschen und seiner Lebensverhältnisse mit dem Wort des Dichters und des Philosophen.

Die Zeit zwischen 1780 und 1798 – Pestalozzis beste Mannesjahre – gilt unter Fachleuten nicht nur als die eigentliche Schriftsteller-Epoche Pestalozzis, sondern meist auch als die ‚Zeit der grossen Lebenskrise‘. Pestalozzi litt zunehmend unter seiner eigenen Armut, unter seiner Vereinsamung, unter der Verachtung, die man ihm zeigte, und insbesondere unter dem allgemeinen Urteil, das man über ihn sprach: er sei unbrauchbar. So verwandelte sich seine ehedem optimistische Sicht des Menschen, die stark genährt war von Rousseaus Überzeugung der ursprünglichen Gutheit des Menschen, allmählich in eine Sicht des harten, illusionsfreien Realisten, der im Menschen vor allem den Egoisten sieht, mit dem es fertig zu werden gilt. Und im gleichen Masse, wie ihm der Glaube an den Menschen und an dessen innere Kräfte sank, erkalteten allmählich auch seine ehemals sehr innigen religiösen Gefühle. Ja, zeitweise beherrschte ihn das Gefühl einer eigentlichen Menschenverachtung, ihn, dessen Herz sich so leidenschaftlich nach Liebe und nach Liebenkönnen sehnte. Rückschauend aus Stans, wo er in seinem Wirken als Armenvater wieder aufblühte, schreibt er über diese Zeit:

„Es geht, es geht in allen Teilen. Ich lösche die Schande meines Lebens aus. Die Tugend meiner Jugend erneuert sich wieder. Wie ein Mensch, der Tage lang im Moder und Kot bis an den Hals versunken seinen Tod nahe sieht und die Vollendung seiner dringendsten Reise vereitelt sieht, also lebte ich Jahre, viele Jahre in der Verzweiflung und im Rasen meines unbeschreiblichen Elends. Ich hätte der ganzen Welt, die um mich her stand und mich also sah, nur ins Gesicht speien mögen.“

Gewiss hat Pestalozzi in diesen 18 Jahren nicht nur geschrieben. Er war teilweise auf seinem Hofe tätig, er nahm Heimarbeit im Bereiche der Stoffdruckerei entgegen, er knüpfte viele neue Beziehungen mit Persönlichkeiten des In- und Auslandes, er suchte immer wieder nach einem pädagogischen oder politischen Betätigungsfeld, er las Bücher, er betätigte sich als Vermittler in politisch gefährlichen Situationen und stellte sich gar als Direktor einer Zürcher Seidenfabrik zur Verfügung, weil eine solche Funktion ausschliesslich Bürgern der Stadt vorbehalten war. Zwar hatte er dabei kaum etwas zu befehlen, aber es gab immerhin Brot, und seine Frau konnte sich im Büro des Betriebs einiges verdienen.

Zur Schriftstellerei ermutigt wurde Pestalozzi vor allem durch Isaak Iselin. Pestalozzi schreibt:

„Iselin weckte den Gedanken, dass ich in meiner Lage notwendig habe Erfahrungen machen müssen, die mich in Stand stellen könnten, als Schriftsteller für das Landvolk zu arbeiten, zuerst in mir auf, und ich unterhielt mich seit langem oft mit ihm über die Natur des besten Volksunterrichts. Ich versuchte auch seit langem verschiedene Formen, aber lange befriedigte mich keine, ich fühlte, dass das Volk vor allem aus zuerst dahin geführt werden muss, sich selbst und seine Lage besser zu kennen. Ich fühlte, dass das Volk nur dem glaubt der es und alles was sein ist kennt, dass es nur den hört, der es liebt, und dass es von niemand glaubt, dass er es liebe, als von dem der ihm auf irgendeine Art hilfreiche Hand bietet. Ich sah, dass Geschichte und Bilder der einzige wirksame Stoff aller Volkslehre sein musste, und ich dachte es sei möglich durch die Grundlagen einer für das Volk durchaus interessanten Geschichte dasselbe zu allen den Gesichtspunkten vorzubereiten, welche man ihm denn hernach mit aller Einfalt bestimmter und fest gesetzter Grundsätze vortragen könnte, und so entstand der Plan meiner zwei Volksbücher.“

Pestalozzi meint damit ‚Lienhard und Gertrud‘ und ‚Christoph und Else‘, von denen später noch die Rede sein wird.

Die schriftstellerische Ausbeute aus der Zeit zwischen 1780 und 1798 ist ausserordentlich vielfältig und interessant. Sie zeigt Pestalozzi von den verschiedensten Seiten: als intimen Kenner des Lebens im niederen Volk, als profunden Sachverständigen des Rechts, als Historiker, als fruchtbaren Romanautor, als Erzieher, als an allen möglichen Fragen interessierten Politiker und immer wieder als vielseitigen Philosophen, der sich mit Fragen der Menschennatur, der Gesellschaft, der Religion und des Rechts auseinandersetzt. Die wissenschaftliche Werkausgabe enthält aus dieser Zeit über 60 grössere und kleinere Schriften. Auf einige sei im folgenden kurz eingegangen:

Die ‚Abendstunde eines Einsiedlers‘ (1779/80) betrachtet Pestalozzi als „Vorrede zu allem, was ich schreiben werde“. Sie dreht sich um die Frage, was das Wesen des Menschen ist, worin seine Bestimmung liegt, wie er zur Wahrheit und zu seinem Lebensglück finden kann, auf welchen Grundlagen eine gerechte Gesellschaft und ein wohltätiger Staat beruhen sollen und welche Bedeutung in all dem der Religion zukommt. Kerngedanke ist, dass die menschliche Gesellschaft ein Abbild des Vater-Kind-Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen darstellen soll und dass der Mensch in dem Masse glücklich wird, als sich sowohl die Regierenden als auch das Volk in ihrem gesellschaftlichen Verhalten als Kinder Gottes fühlen und demgemäss handeln. Ausgeführt hat Pestalozzi diese Vision in seinem literarischen Hauptwerk, dem vierteiligen Dorf-Roman ‚Lienhard und Gertrud‘. Der erste Band, 1781 erschienen, erregte in ganz Europa in allen Ständen und Schichten grosses Aufsehen und begründete Pestalozzis weltweiten Ruhm. Innert kurzer Zeit wurde das Buch auch in andere Sprachen übersetzt. Der Erfolg ermutigte den Verfasser, drei weitere Bände zu schreiben. Sie erschienen in den Jahren 1783, 1785 und 1787. Literarisch ist Pestalozzis Roman auch deshalb von Bedeutung, weil hier zum erstenmal nicht bloss das Leben und Schicksal einzelner Menschen, sondern das Geschick einer ganzen Dorfgemeinschaft im Mittelpunkt steht:

Das Dorf Bonnal ist wirtschaftlich verarmt und sittlich verwahrlost. Es wird tyrannisiert durch den Dorfvorsteher, den ‚Vogt‘ Hummel, der auch die Dorfschenke besitzt und als Wirt die Bauern, Tagelöhner und Handwerker dazu verleitet, bei ihm Trinkschulden und sich dadurch von ihm abhängig zu machen. Er missbraucht sie zu falschen Schwüren und Verrat und ruiniert jeden wirtschaftlich, der sich von ihm lossagen will. Er kann freilich dieses korrupte Treiben nur aufrecht erhalten, weil er das uneingeschränkte Vertrauen des adeligen Grundherrn, des Dorfjunkers, geniesst, dem das Dorf hörig ist. Die Bevölkerung wagt es nicht mehr, sich beim Junker über den Vogt zu beschweren, da es diesem durch sein ränkevolles Spiel stets gelingt, dass der Ankläger bestraft wird.

Was Pestalozzi hier aufzeigt, ist eine seiner wichtigsten Überzeugungen, die er auch in der ‚Abendstunde‘ dargelegt hat: dass nämlich die wirtschaftliche und sittliche Verwahrlosung des Volks eine Folge der Korruption und des Eigennutzes der Herrschenden ist.

Im weiteren Verlauf der Handlung zeigt nun Pestalozzi, auf welche Weise eine solche Dorfgemeinschaft ökonomisch und sittlich aus dem Elend gezogen werden kann. Die guten Kräfte setzen – teilweise gleichzeitig – von verschiedenen Seiten her an. Der alte Junker stirbt und vererbt das Dorf an seinen Enkel, den jungen Junker Arner. Dieser lässt sich in seiner gesetzgeberischen und richterlichen Tätigkeit in keiner Weise von Eigennutz leiten, sondern ausschliesslich vom Willen, das Dorf zum Vorteil der Einwohner ökonomisch zu entwickeln und es sittlich emporzuheben. Arner ist der Typus des Fürsten, wie ihn Pestalozzi in der ‚Abendstunde‘ sieht: Er fühlt sich als Kind Gottes und erfüllt aus sittlich-religiöser Verantwortung heraus seine Vaterpflichten gegenüber dem Volk.

Der erste Anstoss zur Verbesserung der Verhältnisse in Bonnal kommt aber nicht von oben, sondern von Gertrud, einer frommen Mutter von sieben Kindern. Ihr Mann Lienhard ist durch seine Trunksucht dem üblen Vogt ins Netz gegangen und bringt damit seine Familie in Not und Elend. Gertrud wagt nun den Gang aufs Schloss, sie verklagt den Vogt beim Junker und bittet ihn um Hilfe. Dies veranlasst ihn, sich hinfort um das Dorf zu kümmern. Er entlässt den Vogt und bestraft ihn, indem er seine Schwurfinger schwärzen lässt.

Auch der Pfarrer, der bis jetzt das Volk mit frommen Sprüchen von der Erfüllung ihrer irdischen Pflichten abgelenkt und ihr einziges Trachten aufs Jenseits gelenkt und die Einwohner in theologische Streitereien verwickelt hatte, wird ersetzt durch einen neuen Geistlichen, der die Menschen zu einem tätigen Christentum in Wahrheit und Liebe und zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Pflichten anhält.

Auch die Schule wird erneuert. Der alte Schulmeister, der die Kinder zu blossem Schwatzen und leeren Wortwesen erzogen hatte, wird abgelöst durch den tatkräftigen invaliden Leutnant Glüphi. Seine Schule muss das Abbild der Wohnstube sein. Er geht deshalb in die Wohnstube der Gertrud und lernt bei ihr, wie sie ihre eigenen Kinder beim Spinnen lesen und rechnen lehrt. Das Lernen soll innig verbunden werden mit dem Arbeiten. Als erste Massnahme lässt daher Glüphi Werkbänke und Spinnräder in die Schulstube tragen.

Der fünfte im Bunde der Reformer ist der Baumwollen-Meyer. Er verkörpert den Typus des tüchtigen, sparsamen und erfolgreichen Unternehmers, der nicht bloss den eigenen Vorteil, sondern in erster Linie das Wohl des Volksganzen im Auge hat.

Im letzten Buch des Romans weitet Pestalozzi den Gesichtskreis aus auf das ganze Herzogtum. Der Herzog ist ein enttäuschter Menschenfreund, der zwar das Gute wollte, aber bei seinen Reformen die ökonomischen Belange vernachlässigte. Auch am Hof des Herzogs kämpfen gute gegen böse Mächte, und Pestalozzi zeigt, auf welch verschlungenen Wegen beide hinabwirken bis in die niederste Hütte. Der Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten ist hart und unerbittlich. Die Besserung des Dorfes geht keineswegs glatt vor sich. Arner wird krank und entgeht nur knapp dem Tode. Jedoch allmählich siegen die guten Kräfte, weshalb der Herzog das Modell von Bonnal untersuchen lässt und schliesslich selbst einen Augenschein vornimmt. Der Weg, wie die ökonomische Not und die sittliche Verwahrlosung des Volkes behoben werden kann, ist ihm gewiesen.

Pestalozzi hat alle seine damaligen politischen, sozialen und pädagogischen Ideen in sein Werk eingebaut. Es lohnt sich, diese kurz zu skizzieren. Da schlägt er vorerst einmal eine Reihe von ökonomischen Massnahmen vor: Beschaffung von sinnvoller Arbeit für jeden, damit jeder sein Brot verdienen und auch in der Arbeit sein Menschsein verwirklichen kann; gleichmässige Verteilung des bisherigen Weidelandes auf alle Bauern, weil bisher der Besitzer von viel Vieh den grösseren Nutzen daraus ziehen konnte; Verbesserung der Ertragslage durch Entwässerung, Düngung und Einführung neuer landwirtschaftlicher Erzeugnisse und Methoden; Buchhaltungs-Pflicht für alle in Haus und Betrieb; Loskauf von überlieferten, aber nicht mehr zeitgemässen Steuerpflichten (Zehnten) durch systematische Sparsamkeit; Anpassung der Staatsausgaben an die soziale Lage der Bevölkerung; Versicherung gegen Elementarschäden. Dann findet sich in seinem Buche selbstverständlich eine Reihe von erzieherischen Massnahmen: bewusste Erneuerung eines gesunden häuslichen Lebens durch Ordnung, Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, gegenseitige Achtung, Liebe, Frömmigkeit, gemeinsame Gewissenserforschung und Hilfeleistung über den engen Kreis der Familie hinaus; Eheschulung; Erneuerung der Schule durch Verzicht auf leeres Wortwesen und Bildung auf der Grundlage der Anschauung; systematische Berufsbildung; Anwendung der christlichen Lehre für die Versittlichung des Volks; Reinigung der Volks-Gebräuche (ehrenhafte Feste, Trinksitten und Formen der Brautwerbung). Schliesslich schlägt Pestalozzi auch eine Reihe juristischer Massnahmen vor, so insbesondere eine neue Prozess-Ordnung und eine Humanisierung des Strafrechts und des Strafvollzugs (Abschaffung der Körper- und der Todesstrafe) im Sinne der Erziehung der Straffälligen.

So gross der Erfolg von ‚Lienhard und Gertrud‘ (insbesondere bei den beiden ersten Bänden) auch war, so machte er dem Verfasser doch keine ungeteilte Freude. Immer wieder beklagte er sich, dass man sich zwar an seiner Geschichte ergötzte, aber seine Grundgedanken nicht aufnahm und sie nicht in die Tat umsetzte. So begann er bereits 1782 mit seinem zweiten Volksbuch: ‚Christoph und Else‘. Die Handlung ist einfach: Das im Titel genannte Bauern-Ehepaar sitzt Abend für Abend zusammen mit dem weitgereisten und klugen Knecht Joost – er vertritt Pestalozzis Ansichten – und dem Knaben Fritz; man liest ein Kapitel aus ‚Lienhard und Gertrud‘ und führt ein vertiefendes Gespräch darüber. Für den Freund Pestalozzischer Gedanken ist das natürlich eine Fundgrube, aber die trockene Handlung vermochte kaum jemanden anzusprechen. Darum setzte Pestalozzi dieses Projekt nicht mehr fort und arbeitete künftig seine eigenen Gedanken vermehrt in die Geschichte von ‚Lienhard und Gertrud‘ ein. Das machte dann aber wieder die beiden letzten Bände recht schwer lesbar. Pestalozzi musste erfahren, dass es sehr schwierig ist, über ein Buch die Welt verbessern zu wollen.

Schon vor dem endgültigen Zusammenbruch der Armenanstalt hatte Pestalozzi seinen Freund Iselin gebeten, er möge ihm zu einer Anstellung im Ausland verhelfen. Seine Blicke richteten sich insbesondere nach dem kaiserlichen Hof in Wien, wo er auf den sozial fortschrittlich gesinnten Kaiser Joseph II. hoffte. Pestalozzi trat ab 1783 in Briefkontakt mit dem kaiserlichen Finanzminister und ab 1787 auch mit dem Bruder des Kaisers, Herzog Leopold von Toscana.

‚Lienhard und Gertrud‘ zeigt sehr deutlich, dass sich Pestalozzi eine Verbesserung der sozialen Lage bis etwa 1792 durch eine innere Erneuerung des Adels versprach. Er hoffte auch, sich mit seinem Buch eine Anstellung in österreichischen Diensten zu erwirken. Dies mochte wohl auch den Ausschlag gegeben haben, dass er sich entschloss, sein ganzes Werk vollständig umzuarbeiten. So legte er denn in den Jahren 1790/92 eine gekürzte zweite Fassung von ‚Lienhard und Gertrud‘ in 3 Bänden vor, aber sie verfehlte die erhoffte Wirkung, denn Joseph II. starb 1790, und Leopold, der dessen Nachfolge als Kaiser in Wien antrat, lebte auch nur bis 1792. Damit brachen Pestalozzis Beziehungen zu Wien ab. ‚Lienhard und Gertrud‘ bleibt indessen – nach Pestalozzis eigenen Worten – ein ‚ewiges Denkmal, dass ich meine Kräfte erschöpft habe, um den reinen Aristokratismus zu retten‘.

Eine weitere bedeutende Schrift hat Pestalozzi 1783 auf eigene Kosten drucken lassen: ‚Gesetzgebung und Kindermord‘. Im Zuge der Aufklärung haben sich in Europa viele denkende Menschen mit dem Problem der Strafgesetzgebung und des Stafvollzugs befasst. Ganz allgemein zeichnete sich die Tendenz ab, nicht einfach objektiv festgestellte Vergehen mit im voraus festgesetzten Strafen zu belegen, sondern die subjektiven Beweggründe der Straftäter in die Urteile mit einzubeziehen und dann die Bestrafung nicht in erster Linie als einen Akt der Sühne oder gar Rache, sondern als einen Akt der Erziehung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu gestalten. Besonders stark bewegt wurden die Gemüter durch die zahlreichen Kindstötungen, die alle mit der Todesstrafe geahndet wurden.

Nun war es damals üblich, dass Universitäten oder Privatpersonen oft einen Geldbetrag aussetzten, der dann jenem zugesprochen wurde, der eine bestimmte Preisfrage am besten beantwortete; also ein eigentlicher Wettstreit der Philosophen. Als ein Menschenfreund aus Deutschland die Preisfrage ‚Welches sind die besten ausführbaren Mittel, um den Kindsmord zu verhüten, ohne dabei die Unzucht zu begünstigen?‘ ausschrieb, fühlte sich Pestalozzi sogleich zur Bearbeitung dieser brennenden sozialen und moralischen Frage aufgefordert. Es gelang ihm, eine Reihe von Prozess-Akten zu beschaffen, die er in seinem Werk teilweise wörtlich abdrucken liess. Damit vermochte er das Mitgefühl des Lesers für die unglücklichen jungen Mütter zu wecken, die in ihrer seelischen Not ihr eigenes Kind umgebracht hatten und nun dem Scharfrichter übergeben wurden. Das ganze Buch ist eine feurige Verteidigung der verirrten armen Mütter und eine schwere Anklage gegen die Gesellschaft, ihre Einrichtungen und die von ihr vertretene verlogene Moral.

Pestalozzi geht auch hier aus vom gesunden Instinkt der menschlichen Natur und stellt fest:

„Bei seinen Sinnen tötet ein Mensch sein Fleisch und Blut nicht, und ein Mädchen, das bei seinen Sinnen ist, streckt seine Hand nicht aus gegen sein Kind, und erwürgt nicht seinen Geborenen am Hals, bis er erblasst.– Steck ein das Schwert deiner Henker, Europa! Es zerfleischt die Mörderinnen umsonst! Ohne stilles Rasen und ohne innere verzweifelnde Wut würgt kein Mädchen sein Kind, und von den rasenden Verzweifelnden allen fürchtet keine dein Schwert.“

Was war es denn, das die Mädchen in Wut und Verzweiflung stürzte? Nach Pestalozzis Überzeugung waren es die falschen Gesetze und die verlogenen Sitten. Um dies zu verstehen, muss man wissen, dass dem Christen der uneheliche Beischlaf als sündhaftes Tun galt und teilweise heute noch gilt. Die Kirche hat diese moralische Norm aber nicht bloss als eine Lehre verkündet, sondern auch durch verschiedenste Sittengesetze durchzusetzen versucht. Wer gegen das Keuschheitsgebot verstiess, musste vor Gericht erscheinen und wurde bestraft. Im Zuge der Reformation (siehe das Kapitel über die Religion in meiner Abhandlung über die Pestalozzis Grundgedanken) übernahm nun der Staat jene Rechte und Hoheiten, die bislang der Kirche zukamen. So kam es, dass der Staat selbst zum Sittenrichter wurde und nicht bloss Verstösse gegen gesellschaftliche Normen, sondern auch gegen moralische Gebote bestrafte. Wurde jemand des unehelichen Beischlafs überführt, wurde er mit hohen Geldstrafen gebüsst und öffentlich an den Pranger gestellt. So war es in einer Stadt üblich, dass ein schwangeres Mädchen einen Tag lang an einen Pfahl gebunden wurde, und jeder Bursche durfte es mit Dreck bewerfen. Andernorts musste ein Mädchen auf den Knien öffentlich und unter dem Hohn und Gespött der Anwohner die schmutzigen Strassen der Stadt aufwaschen. Aber noch schlimmer zu ertragen war die soziale Isolation. Schwangere Mädchen galten als Schande der Familie, sie wurden oft von den eigenen Eltern verstossen und waren lebenslang der öffentlichen Verachtung preisgegeben. Sie hatten kaum mehr eine Möglichkeit, geheiratet zu werden, und auch ihr Kind war lebenslang gezeichnet und musste mit jeder nur möglichen Benachteiligung rechnen. So vermochte es nicht zu verwundern, dass die Angst vor einem solchen Leben viele Mädchen dazu trieb, ihr Kind entweder abzutreiben oder nach der Geburt umzubringen und zu beseitigen. Wurden sie aber dabei erwischt, erwartete sie ausnahmslos die Todesstrafe.

Pestalozzi deckt nun die Heuchelei und Lieblosigkeit, die sich hinter diesen Sitten verbergen, schonungslos auf: Erstens traf die Strafe zumeist nur die Mädchen, da sich die Burschen entweder herausreden oder aus dem Staube machen konnten, und zweitens traf sie zumeist auch nur die Armen, weil die Reichen Mittel und Wege fanden, um eine Schwangerschaft zu verhüten, um das Kind abzutreiben, um die Geburt des Kindes geschickt zu verheimlichen oder um sich von den Strafen loszukaufen.

Pestalozzi führt den Leser mit viel Einfühlungsvermögen in das seelische Erleben eines schwanger gewordenen Mädchens hinein:

„Gott! Du weisst, sie war geschaffen zu den reinsten Mutterfreuden, zu hängen am Kind ihres Herzens mit der Wonne und Liebe, mit der sie hing an dem Verbrecher, den sie edel und gut glaubte. Aber der Verführer hat ihr den Abgrund der Greuel der Menschheit eröffnet und die Unerfahrene hingestürzt in Tiefen und Elend und Sorgen, dass ihre ganzen Monate durch ihr Herz zitterte, bebte und klopfte, stärker bebte, zitterte und klopfte, als es zitterte, bebte und klopfte am Tage ihrer Enthauptung. Ihre ganzen Monate durch verfolgte die Elende das Bild des Verführers, an dem ihr Herz gehangen, und dem sie jetzt fluchte in ihrem greulichen Jammer. Der Menschheit Stützen sinken dahin beim Mädchen, welches dem Jüngling, an dem sein Herz gehangen, jetzt fluchen muss, bei ihm stirbt jede Hoffnung, und jeder Gedanke an die Freuden der Mutter ist ihm erschütterndes Elend; wie eine Giftbeule, die Tod und Verderben droht, wächst in ihr das Kind des Verbrechers; sie trägt’s und fühlt keine Mutterempfindung, sie fühlt nicht, dass das Kind ihres Herzens dennoch Gottes heilige Gabe und auch ihr Kind ist; sie fühlt nur den Greuel des Vaters und der Ängstigungen Menge und der Erwartungen Schrecknisse.

So gingen der Elenden ihre Monate vorüber; sie schmachtete nach Hilfe und Rat, aber Verzweiflung im Herzen nahm ihr in jedem Augenblicke Kraft zum Entschluss und zernichtete jeden Vorsatz zur Rettung; Scham und Angst und inneres Beben des Herzens hemmten den Mund. Sie durfte nicht reden. Vor ihren Gespielen, vor ihrer frommen Mutter durfte sie’s nie wagen, hierüber den Mund zu öffnen. Zehnmal versuchte sie es und wollte es wagen, der liebsten Gespielin ihren Jammer zu klagen, aber allemal erstarrte auf ihrer Zunge das Wort – sie konnte nicht reden. Tränen flossen von ihren starren Augen und rollten über ihre blassen kalten Wangen, dann entfloh sie ihren Gespielen; sie entfloh dem Antlitz der innig geliebten Mutter und dem Auge des gefürchteten Priesters, trug’s mit sich selber, wollt’s immer noch sagen, schob’s immer doch auf. – Und plötzlich war sie da, die Stunde des Schmerzes der Mutter und die Stunde der letzten Verzweiflung. Die stählte den Arm der Mutter, zu würgen das Kind und zu stampfen mit ihrem Fuss gegen sein Herz. – – Ihr war’s, das zeugte sie bei Gott in der Stunde des Todes, ihr war’s, als sie würgte und stampfte, sie würgte mit der Hand den Verbrecher und stampfte mit dem Fuss gegen sein Herz. Jetzt war’s geschehen; das Kind ihres Herzens war tot; sie sah’s und sank mit Todesgeschrei und der ersten Mutter- und Mörderempfindung in Ohnmacht!“

Pestalozzi rechtfertigt damit den Kindsmord nicht und richtet sich auch nicht gegen eine Bestrafung der Kindsmörderinnen. Die Todesstrafe allerdings lehnt er ab. Er ist indessen überzeugt, dass dem Kindsmord durch die Androhung von Strafen nicht Einhalt geboten werden kann. Vielmehr müssen die Ursachen, die den Kindsmord begünstigen, beseitigt werden. Dazu gehört zuerst einmal die Abschaffung der Sittengerichte, denn die Angst vor deren Strafen ist die wichtigste Ursache des Kindsmords. Pestalozzi fordert diese Abschaffung der Sittengerichte aber nicht nur aus Gründen der Zweckmässigkeit, sondern aus grundsätzlichen Überlegungen heraus: Der Staat ist eine Institution des gesellschaftlichen Zustandes und darf deshalb nur solche Vergehen bestrafen, welche gegen Bestimmungen verstossen, die den gesellschaftlichen Zustand aufrechterhalten. Ein uneheliches Kind ist aber für den Staat – sofern es gut erzogen ist – genau so viel wert wie ein eheliches. Die Frage des unehelichen Beischlafs betrifft daher keine gesellschaftliche, sondern eine sittlich-religiöse Norm, also jenen Bereich, den Pestalozzi später dem sittlichen Zustand zuordnet. Gegen Verstösse im sittlichen Bereich darf nach seiner Überzeugung der Staat nicht strafend eingreifen; seine Aufgabe erschöpft sich darin, die Erziehung zu einem sittlichen Leben zu begünstigen.

Statt Bestrafung wegen des unehelichen Beischlafs brauchen die schwangeren Mädchen vielmehr Hilfe. So schlägt Pestalozzi vor, der Staat solle edle Männer als ‚Gewissensräte‘ bestimmen, die zur strengsten Verschwiegenheit verpflichtet sind und denen sich die schwangeren Mädchen in ihrer Not anvertrauen können. Sie sollen die Frage der Vaterschaft untersuchen und dahin wirken, dass der Vater zu seinem Kind steht und dass die Eltern ihr Kind erziehen, auch wenn sie nicht heiraten wollen. Die Einrichtung von Findelhäusern für uneheliche Kinder lehnt Pestalozzi ab, denn er weiss, dass eine gute Mutter und eine gute Wohnstube für das gesunde Gedeihen des Kindes stets das Beste bleiben wird.

Über diese konkreten Massnahmen hinaus fordert Pestalozzi eine fundamentale sittliche Erneuerung des Volks, was nur durch eine gerechte Gesetzgebung und durch das gute Beispiel der Regierenden zu erreichen ist. Diese wahre, sittliche Kultur kann nur vom engen Kreis der Familie ausgehen, weshalb die Massnahmen des Gesetzgebers auf die Förderung der häuslichen Tugenden abzielen müssen. Was Pestalozzi darunter versteht, hat er in ‚Lienhard und Gertrud‘ breit dargelegt. In der Wohnstube ist auch eine natürliche sexuelle Aufklärung und Erziehung möglich. Wichtig ist ein das Schamgefühl achtendes, aber natürliches Verhätnis zum Bereich des Geschlechtlichen sowie ein einfaches Leben ohne aufreizenden Luxus.

Pestalozzi Abhandlung gipfelt im Satz:

„Die Ausbildung des gemeinen Mannes zu der frommen Weisheit eines reinen und glücklichen Hauslebens, ist das einzige Mittel, den Verbrechen des Volkes Einhalt zu tun. – Diese aber ist nur durch die innere Veredelung der höheren Stände und der Macht, in deren Hand der gesetzgeberische Wille gelegt ist, zu erzielen möglich.“ Mit andern Worten: Der Regent muss im wahren Wortsinne ein Christ sein. „Er opfert sich seinem Volk – und weiß, dass ohne dieses Opfer des Herrschers keine die Menschheit befriedigende Gesetzgebung möglich (ist).“

Ein weiteres wichtiges literarisches Erzeugnis jener Zeit ist das sog. ‚Schweizer Blatt‘, eine Wochenzeitschrift, die Pestalozzi während des ganzen Jahres 1782 herausgab und in welcher er zumeist eigene Texte veröffentlichte. Zu Beginn verriet er seinen Namen nicht, aber mit der Zeit war es offenbar jedem Interessierten klar, dass der Autor niemand anders als Pestalozzi sein konnte, weshalb er sich später nicht mehr versteckte. Pestalozzi tat, was viele andere damals auch taten: Im Zuge der Aufklärung und der Verbesserung der Drucktechniken entstanden immer wieder neue Zeitschriften, wobei den meisten ein nur kurzes Leben beschieden war. Pestalozzis Zeitschrift teilte dieses Schicksal. Sie richtete sich an eine gebildete Leserschaft und war in jeder Hinsicht anspruchsvoll, weshalb es nicht verwundert, dass sie kaum einen reissenden Absatz fand. Überdies empfand Pestalozzi das wöchentliche Bereinigen der Manuskripte als eine immer grössere Last, weshalb er wohl froh war, als endlich die 52. Woche des Jahres anbrach und er das Unternehmen einigermassen ehrenhaft aufgeben konnte.

Im ‚Schweizer Blatt‘ hat Pestalozzi bereits eine Reihe von Fabeln veröffentlicht. Fabeln sind Kurzgeschichten – zumeist aus dem Tier- oder Pflanzenreich, in denen sich der Mensch in all seinen Verbogenheiten und Widersprüchen selbst erkennen kann, wenn er die Sinnbilder zu deuten versteht. Damals gab es in der Schweiz noch keine Pressefreiheit, sondern die Obrigkeit wachte über das, was gedruckt wurde. Es war daher schwierig, Gedanken über politische Fragen schriftlich zu veröffentlichen. Die Fabel bot da einen guten Ausweg, denn ihr Sinn war zumeist nicht so offenkundig, dass die Zensoren genügend Anhaltspunkte gehabt hätten, um ihre Veröffentlichung zu verhindern. Pestalozzi war natürlich nicht der einzige, der damals Fabeln erfand. Im Verlaufe der Jahre wuchs seine Sammlung, so dass er 1797 in der Lage war, über 230 Stück in einem Buch zu veröffentlichen. Pestalozzi bezeugt im Untertitel seines Buches, es handle sich um ‚die Grundlagen seines Denkens‘.

Im gleichen Jahr erschien Pestalozzis bedeutendstes philosophisches Werk: ‚Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts‘. Sein grundlegender Inhalt ist in meine Abhandlung über ‚Pestalozzis Gedankenwelt‘ einbezogen, weshalb es sich erübrigt, hier auf seinen Gehalt einzugehen. Es sei hier nur so viel gesagt: Das Werk ist zweifellos schwierig, aber wer es nicht wenigstens in seinen Grundzügen verstanden hat, dem wird das Wesen von Pestalozzis Denken immer verschlossen bleiben.

 

Pestalozzi und die Revolution

1789 ging in Paris mit dem Sturm des Volks auf ein Waffenarsenal und den darauf folgenden revolutionären Ereignissen das absolutistische Frankreich unter, und noch immer versuchte Pestalozzi in seinen Werken und in seinem Bemühen um eine Anstellung im Dienste einer fortschrittlichen Regierung (z.B. beim österreichischen Kaiser in Wien) ‚den reinen Aristokratismus zu retten. So mag es – von aussen gesehen – erstaunen, dass er am 26. August 1792 neben 16 weiteren bedeutenden Persönlichkeiten Europas als einziger Schweizer durch die französische Nationalversammlung zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt wurde. Genauer besehen, stimmen viele Anliegen der französischen Revolutionäre mit Pestalozzis Idealen grundsätzlich überein, so z.B. ihre Vorstellungen im Bereiche der Handels- und Gewerbefreiheit, der Pressefreiheit, der Religionsfreiheit, der Beseitigung ungerechter Abgaben, des Steuerrechts und der Verbesserung der Volksbildung. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede: Pestalozzi wertete das Ideal der äusseren Gleichheit nie besonders hoch, und das in Mode gekommene Verständnis der Freiheit als einer allseitigen Ungebundenheit stand im Gegensatz zu seinem differenzierten Freiheitsbegriff.

Vielleicht mag der Abbruch von Pestalozzis Beziehungen zu Wien und seine etwa gleichzeitige Ernennung zum französischen Ehrenbürger dazu beigetragen haben, dass sich Pestalozzi innerlich vom Ideal der Aristokratie löste, sich vermehrt mit dem demokratischen Gedanken anfreundete und mit Frankreich stärker sympathisierte. Sein Urteil über die Vorgänge in Frankreich und über die Wünschbarkeit der Revolution blieb indessen immer differenziert: Einerseits unterstützte er die Revolutionäre in der Sache, andererseits aber lehnte er das Blutvergiessen zur Durchsetzung einer neuen Ordnung ab, ja das mörderische Rasen der französischen Revolutionäre zwischen 1792 und 1794 erschreckte ihn zutiefst und widerte ihn an.

Für Pestalozzi war die Ernennung zum französischen Ehrenbürger der Anlass, um seine Stellungnahme zur Revolution schriftlich niederzulegen. So entstand die Schrift ‚Ja oder nein?‘.

Die Französische Revolution warf ihre Schatten auch auf die Schweiz, indem sie die benachteiligten Bevölkerungsklassen ermutigte, ihre Forderungen zu erheben. So geschah dies z.B. in der von der Stadt Zürich beherrschten Gemeinde Stäfa. Die aufkommende Textil-Industrie hatte viele Bewohner recht wohlhabend gemacht, aber sie genossen keinerlei politische Rechte. So erhoben sie in einem Schriftstück in sehr gemässigtem und untertänigem Ton ihre Forderungen. Als erstes verlangten sie eine Verfassung, welche nicht nur den Bürgern der Stadt, sondern auch den Einwohnern der Landschaft politische Rechte garantierte. Dann forderten sie Handels- und Gewerbefreiheit, dann das Recht der Landbevölkerung, höhere Schulen besuchen zu dürfen, um Lehrer und Pfarrer werden zu können, aber auch das Recht, in der Armee wie die Stadtbürger zum Offizier aufrücken zu können, weiter forderten sie ein gerechtes Steuersystem, denn nur die Bauern waren – als Überbleibsel des Feudalismus – zu verschiedensten drückenden Abgaben verpflichtet, wogegen die Händler, Industriellen und Bürger der Stadt keine Steuern bezahlten. Schliesslich erinnerten sie die Regierung an die alten Rechte und Freiheiten der Gemeinden, die ihnen die Stadt im Laufe der Zeit geraubt und vorenthalten hatte.

Die Stadt reagierte auf dieses Schreiben scharf: Sie nahm Verhaftungen vor und sprach Verbannungen aus. In dieser Situation machte sich Pestalozzi zum Anwalt des Volks und hielt seine Gedanken in drei Schriften fest, die er einflussreichen Bürgern der Stadt vorlegen wollte. In einem öffentlichen Schreiben warb er um Verständnis für beide Seiten, aber er verschwieg dabei nicht, dass sein Herz auf der Seite des Landvolks war. So rief er denn der Regierung zu:

„Wahre Bürgertugend ist ebenso entfernt von blindem Sklavensinn als vom rohen Geist des Aufruhrs, und das Vaterland kann durch geschmeichelte Niederträchtigkeit ebenso wie durch losgelassene Zügellosigkeit zugrunde gehen. Die Gefahr des Augenblicks ist gross, aber die Gefahr der Zukunft ist unendlich grösser. Ich bin überzeugt, das Vaterland rettet sich nur durch Schonung der Gefühle des Volkes.“

Aber ehe seine Schrift gedruckt war, besetzte die Stadt am 5. Juli 1795 das völlig überraschte Stäfa mit 2000 Soldaten. Es wurde wiederum hart bestraft, und es drohten Todesurteile. Pestalozzi liess aber nicht locker und rief beide Parteien zur Besonnenheit auf. Als Vermittler verfolgte er klare Ziele: Einerseits sollten die benachteiligten Bewohner der Landschaft endlich zu ihren Rechten kommen, andererseits aber wollte er jede Form des Blutvergiessens – nicht nur die Todesurteile, sondern auch den gewaltsamen Aufstand des Landvolks – vermeiden. Pestalozzi war freilich bei der Mahnung zur Mässigung nicht allein; auch sein Jugendfreund, Pfarrer Lavater in Zürich, riet zur Besonnenheit. So kam es denn wenigstens nicht zu den befürchteten Todesurteilen und zu keinem Blutvergiessen. Aber die ausgesprochenen Gefängnis- und Geldstrafen lasteten doch schwer auf den 260 Verurteilten.

Inzwischen hatte sich Frankreich in einen Krieg mit fast allen Nachbarn verstrickt und war gesonnen, die Revolution in die halbe Welt hineinzutragen. Ein Jahr nach den Ereignissen in Stäfa machte bereits Napoleon als siegreicher Feldherr in Italien von sich reden, und als er ein weiteres Jahr später durch die Schweiz reiste, wurde er an verschiedenen Orten mit Kanonendonner, Ehrenfahnen, schönen Reden und inbrünstigen Liedern begrüsst und bejubelt. Die Freunde der Revolution ermunterten ihn, auch in der Schweiz einzumarschieren, um die neue Ordnung mit Gewalt zu errichten.

In dieser Situation, wo von innen der Bürgerkrieg und von aussen der Einmarsch französischer Truppen drohte, zielte Pestalozzis Politik darauf ab, beide Übel zu vermeiden. Er sah indessen sehr wohl, dass eine Umwälzung der politischen Verhältnisse in der Schweiz ohne Frankreichs Hilfe nicht zu erreichen war. Frankreich sollte also nach seiner Ansicht lediglich Druck auf die Schweiz ausüben, sich aber nicht direkt in den Prozess der Umgestaltung einmischen. Aber er hatte nicht mit dem Geldhunger der Franzosen gerechnet. Obwohl die Regierungen aller Städte-Orte angesichts der überall ausgebrochenen Aufstände der Untertanen und aus Angst vor den Franzosen anfangs Februar 1798 der Landbevölkerung die Gleichberechtigung zugestanden und ihr das Versprechen einer auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruhenden Verfassung abgaben, rückten die Franzosen anfangs März 1798 mit 15’000 Mann ein, brachen den letzten Widerstand, besetzten das Land, raubten die Staatskassen aus, indem sie das Gold fassweise auf schweren Ochsenkarren nach Paris abführten, plünderten das Land aus und schändeten Frauen und Töchter, so dass sich der Zürcher Pfarrer Lavater zu folgender Proklamation veranlasst sah:

„Dass die Aristokratie gestürzt ist, kann ein grosses Glück, kann die Erfüllung der Wünsche vieler Edlen gewesen sein. […] Ihr Franzosen kommt als Räuber und Tyrannen in die Schweiz, ihr führt Krieg wider ein Land, das euch nie beleidigte. […] Ihr spracht von nichts als Befreiung – und unterjocht auf alle Weise. […] So war uns nie geboten, da wir, eurer unwahrhaften Sage nach, Sklaven waren, so mussten wir niemals blindlings gehorchen, wie da wir, eurer Sage nach, frei sind. – Im ersten Jahr der schweizerischen Sklaverei, den 10. Mai 1798.“

Frankreich machte nun aus dem durch grösste Vielfalt gekennzeichneten Staatenbund der alten Eigenossenschaft einen zentralistischen Einheitsstaat – genannt ‚Helvetische Republik‘ – und teilte diesen recht willkürlich in Kantone und Distrikte ein, die aber keinerlei Selbständigkeit mehr hatten, sondern lediglich ausführen mussten, was der Grosse Rat (Legislative) und das fünfköpfige Direktorium (Exekutive) beschlossen hatten. Die neue Verfassung war darum beim Grossteil der Schweizer verhasst, obwohl sie die Rechtsgleichheit aller Bürger, die Glaubens-, Gewissens-, Presse-, Handels- und Gewerbefreiheit, das Recht auf Bildung von Vereinigungen und auf Einreichen von Bittschriften an die Regierung, eine allgemeine Steuerpflicht und die Möglichkeit des Loskaufs von feudalistischen Abgaben garantierte und obwohl im Direktorium einige Männer von wahrhaftem Weitblick und vaterländischer Gesinnung sassen.

Pestalozzi schickte sich ins Unvermeidliche, und da die Verfassung und das Direktorium den Grossteil jener Reformen zu verwirklichen versprachen, die er schon seit 30 Jahren gefordert hatte, stellte er sich in den Dienst der neuen Ordnung; und es fiel ihm um so leichter, als er mit einem der 5 Direktoren, Philipp Albrecht Stapfer, recht eigentlich befreundet war. Als Redaktor einer Regierungs-Zeitung und in zahlreichen Flugschriften versuchte er dem Volk den Sinn und die Chance der Revolution verständlich zu machen und ermahnte er die neuen Machthaber, sich wirklich an ihre Versprechen zu halten.

Die verbreitete Ansicht, dass die neue Ordnung religionsfeindlich sei, konnte er freilich nicht überzeugend genug ausräumen. Da waren die Angriffe der Revolutionäre auf Kirche und Christentum doch zu offensichtlich, und wenn auch die neue Verfassung Religionsfreiheit garantierte, so war doch den Pfarrern jede politische Tätigkeit verboten, und ihre Lehre und Predigt unterstand der polizeilichen Kontrolle. Auch wollte sich niemand frei fühlen, solange fremde Truppen das Land verheerten und das Volk mit Waffengewalt gezwungen wurde, einen Eid auf die neue Verfassung abzulegen.

In besonderer Weise engagierte sich Pestalozzi in der Frage des ‚Zehntens‘, an der sich das Schicksal der jungen Republik entscheiden sollte. Der Zehnten war ursprünglich eine kirchliche Abgabe und durch Aussagen in der Bibel begründet. Es ging darum, den Lebensunterhalt der Seelsorger, die sich ganz in den Dienst der christlichen Verkündigung stellten, zu ermöglichen, indem man ihnen den zehnten Teil des eigenen landwirtschaftlichen Ertrags überliess. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft wurde es vielerorts üblich, den Zehnten in barer Münze zu erlegen, und im Laufe der Geschichte beanspruchte die Kirche (insbesondere die Klöster) allmählich die Erbringung des Zehntens als allgemeine Abgabe der ihr hörigen Bauern. Als dann in der Reformation die Klöster aufgehoben wurden, schaffte der Staat nicht etwa die Zehntpflicht ab, sondern trat nun selbst als Zehntherr auf und trat das Recht zum Bezug des Zehntens weiter ab an Schulen, Spitäler, Armenanstalten, Kirchen und Privatpersonen. So kam es, dass lediglich die Bauernschaft die Lasten sämtlicher sozialer Aufgaben des Staates zu tragen hatten. Eine allgemeine Steuerpflicht, die auch die wohlhabenden und reichen Kaufleute, Unternehmer, Geistlichen und Adeligen belastet hätte, gab es damals noch nicht. Grundsätzlich konnte sich ein wohlhabender Bauer vom Zehnten loskaufen, indem er ungefähr das Zwanzigfache der jährlichen Zehntbelastung auf einmal erlegte. In seinem grossen Dorfroman ‚Lienhard und Gertrud‘ zeigt Pestalozzi einen Weg auf, wie sich die Bauern durch Zusatzverdienste in der Baumwollindustrie vom Zehnten loskaufen könnten. Ja, selbst die Kinder könnten durch tägliches Spinnen und Weben über viele Jahre ihren entscheidenden Beitrag leisten, um sich dereinst vom Zehnten loskaufen zu können.

Die Franzosen hatten beim Einmarsch in die Eidgenossenschaft den Bauern die Aufhebung aller Abgaben aus der Zeit des Feudalismus versprochen, so auch die Abschaffung des Zehntens. Das erklärt, weshalb die Bauern der Gebirgs-Orte (Uri, Schwyz, Unterwalden) wenig Interesse an der Staats-Umwälzung hatten, denn sie hatten sich schon längst von der Zehntpflicht losgekauft.

Um das Versprechen einzulösen, schafften die helvetischen Räte bereits zwei Monate nach dem Einmarsch der Franzosen alle Feudallasten, so auch den Zehnten, ab. Dies war gut gemeint, aber insofern ein verhängnisvoller Fehler, als sich der Staat selbst seiner Haupteinnahmequelle beraubte, bevor er ein allgemeines Steuergesetz geschaffen hatte. Überdies entbrannte im Volk eine heftige Auseinandersetzung über die Frage, ob der Zehnten als eine öffentliche Abgabe oder eine privatrechtliche Schuld zu gelten habe. Im zweiten Fall ergab sich die Notwendigkeit des Loskaufs im Sinne der Rückerstattung einer Schuld.

In diese Auseinandersetzung schaltete sich Pestalozzi ein und veröffentlichte im Sommer 1798 eine Schrift über den Zehnten in der Form eines Bauern-Gesprächs. Er zeigt einerseits, dass der Zehnten ungerecht ist und auch den landwirtschaftlichen Fortschritt hemmt und darum ersetzt werden muss durch eine allgemeine Vermögens-Steuer; er sieht aber anderseits auch, dass die bisherigen Besitzer der Zehntrechte für den Verlust ihrer Einkommensquelle entschädigt werden müssen. So entwickelt er den Plan, die oft brach liegenden Gemeindegüter zu privatisieren, sie dadurch einer intensiveren Nutzung zuzuführen und gleichzeitig mit dem Verkaufs-Erlös die bisherigen Besitzer der Zehntrechte zu entschädigen. Daran wird einmal mehr Pestalozzis grundsätzliches Politisieren deutlich: Er will nicht, dass mit der Beseitigung von Ungerechtigkeit neue Ungerechtigkeiten geschaffen werden. Er denkt nicht im Rahmen von Partei-Interessen, sondern sieht stets den gesamten sozialen Organismus.

Pestalozzis Schrift, die nicht leicht zu verstehen ist, wurde weitherum missverstanden, und man beschimpfte ihn als Anhänger der ‚Zehntendiebs-Bande‘. Pestalozzi griff daher nochmals zur Feder, legte die Entwicklung des Zehntens vom Mittelalter her eingehend dar und wies schlüssig nach, wie aus einer ursprünglich privatrechtlichen Abgabe allmählich eine ungerechte öffentliche Steuer wurde und dass ein Loskauf die Bauernschaft ruinieren müsste. Gleichzeitig sah er aber, wie sich die Situation der neuen Helvetischen Republik katastrophal verschlechterte und der neue Staat vor dem Abgrund stand. Pestalozzi wollte aber, dass der Staat gerettet würde, und diesem obersten Ziel sollten alle andern Ziele untergeordnet werden. Es ging ihm wiederum in erster Linie um das Wohl des Ganzen. Darum gibt Pestalozzi seiner Abhandlung am Schluss eine unerwartete Wendung: Er stellt zwar eindeutig das Recht der Bauern auf Zehntfreiheit fest, bittet sie aber, in diesem Augenblick der Bedrohung des Staates nicht auf ihrem Recht zu beharren:

„Guter, treuer, armer Feudalbauer, denn mit dir und nicht mit dem reichen Landeseigentümer ist’s, mit dem ich rede: Du hast das Vaterland Jahrhunderte durch dein Unrechtleiden erhalten, erhalte es heute freiwilliger durch deine Tugend! Das Vaterland hat dringende Bedürfnisse, und die bis jetzt unbelasteten Stände zeigen wenig Neigung, diesen Bedürfnissen nach dem Mass ihrer wirklichen Kräfte abzuhelfen. Die Überzeugung, dass sie das, was seit Jahrhunderten niemand von ihnen gefordert, dem Vaterland doch schuldig seien, ist schwer in sie hineinzubringen. Gute, belastete Bürger, wenn auch ihr wie sie Jahrhunderte unbelastet gewesen wärt, diese Überzeugung wäre auch schwer in euch hineinzubringen. Tragt der menschlichen Natur Rechnung, erwartet von niemand, was ihr selber nicht leisten würdet, wenn ihr an seiner Stelle wärt! Bürger, mässigt eure Rechtsansprüche in dem Grad, als ihr ihre Richtigkeit kennt! Sprecht nicht an euer vollkommenes Recht, bis das Vaterland vollkommen gerettet (ist)! Bürger, der Mann ist seines Rechts nicht wert, der durch den Gebrauch desselben dem Vaterland schadet.

Bürger, zeigt, dass ihr eures Rechts wert seid, indem ihr keines zu eurem eigenen Verderben und keines gegen des Vaterlands ansprecht. Arme, belastete Bürger, tut noch mehr, rettet das Land und ladet euch zur Rettung des Landes selber auf, was das Vaterland heute zugrunde richten könnte, wenn man es euch mit Gewalt auflegen würde.

Treuer Bauer, frage heute nicht, was dein Recht sei, frage heute, was das Vaterland zu seiner Rettung bedürfe! So sehr du dein Recht fühlst, achte es nicht! Wenn du auch noch eine Weile fortleidest, so macht das nicht alles. Im Gegenteil, es ist dir besser, dass du dich nur allmählich erhebst, als dass du durch einen ungemessenen Sprung vom harten Unrechtleiden zu einem verführenden Glück und von diesem in Fehler verfällst, die dich mehr schänden könnten, als dich dein Unrechtleiden und deine Knechtschaft nie geschändet hat.

Bürger, ich will euch das Äusserste sagen: Das Vaterland ist in Gefahr! Rettet es oder richtet es zugrunde – es ist in eurer Hand! Aber nein, ich will nicht an euch zweifeln, ihr rettet das Land! Väter und Mütter, die ihr erbunterdrückt immer nur zahltet, beschämt heute noch einmal die, die erbprivilegiert immer nur nahmen. Ich weiss es, der erste Vorschuss, den das Vaterland heute bedarf, fällt aus eurer freien Hand auf der Freiheit Altar; ihr zehntet und bodenzinst, bis das Vaterland gerettet (ist).

Ja, Bürger, ihr zehntet und zahlt, ihr rettet das Land und kämpft und arbeitet euch frei und fühlt und denkt bei jedem Opfer, das ihr dem Vaterland bringt, dass man euch die Freiheit nicht schenkt, dass ihr sie kauft. Sie sei euch doppelt soviel wert, dass man sie euch nicht schenkt, dass ihr sie kauft! Und, Kinder der Armen, spinnt euch frei und fühlt und denkt an eurem Faden, dass man euch die Freiheit nicht schenkt, dass ihr sie kauft. Sie sei euch doppelt soviel wert, dass ihr sie kauft! Spinnt, Kinder der Armen, spinnt euch frei!“

Weder die Regierung noch das Volk hat auf Pestalozzi gehört – und der neue Staat ist bald untergegangen.

 

Stans

Besonders heftig war der Widerstand gegen die neue Ordnung in den Alpentälern, in jenen Gebieten also, in denen 1291 der eidgenössische Bund erstmals beschworen wurde. In ihnen hatte sich die demokratische Tradition über Jahrhunderte hinweg erhalten, und es gab kaum mehr Bauern, die unter irgend einer Feudallast zu leiden hatten. Darüber hinaus sahen die meisten Bewohner dieser Orte ihre katholische Religion durch die neue Ordnung bedroht. Das Direktorium gebot nun allen Bürgern, einen Treue-Eid auf die neue Verfassung abzulegen. Diesem Ansinnen widersetzte sich das kleine Ländchen Nidwalden (ein Teil von Unterwalden) mit dem Hauptort Stans. Darauf ersuchte das Direktorium die französische Besatzungsmacht um Beistand; diese rückte mit über 10’000 Mann in das Alpental ein, zündete die Dörfer an und richtete ein grauenvolles Blutbad an. Pestalozzi, der durch die Verweigerung des Treue-Eids die Einheit des Vaterlandes in Gefahr sah, hatte den Einmarsch der Franzosen gutgeheissen, war aber entsetzt über das Morden und Brennen der französischen Soldaten. Und als er vernahm, dass dem Blutbad 25 Kinder und 102 Frauen zum Opfer gefallen waren, setzte er sich beim Minister Stapfer dafür ein, dass in Stans ein Waisenhaus errichtet wurde, und er war überglücklich, dass die Regierung ihm die Leitung der Anstalt übertrug. Endlich bot sich ihm wieder eine Möglichkeit praktischer sozialer Tätigkeit, nach der er sich 20 Jahre lang vergeblich gesehnt hatte. Am 14. Januar 1799 wurde die Anstalt mit 45 Kindern zwischen 5 und 15 Jahren eröffnet. Sie befanden sich teilweise in einem unbeschreiblichen Zustand der inneren und äusseren Verwahrlosung. In seinem ‚Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans‘ (kurz: Stanser Brief) lesen wir:

„Die meisten dieser Kinder waren, da sie eintraten, in dem Zustand, den die äusserste Zurücksetzung der Menschennatur allgemein zu seiner notwendigen Folge haben muss. Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, dass sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager, wie ausgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst, und Stirnen voll Runzeln des Misstrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt, andere vom Elend erdrückt, duldsam, aber misstrauisch, lieblos und furchtsam. Zwischen hinein einige Zärtlinge, die zum Teil ehemals in einem gemächlichen Zustand lebten; diese waren voll Ansprüche, hielten zusammen, warfen auf die Bettel- und Hausarmenkinder Verachtung, fanden sich in dieser neuen Gleichheit nicht wohl, und die Besorgung der Armen, wie sie war, war mit ihren alten Geniessungen nicht übereinstimmend, folglich ihren Wünschen nicht entsprechend. Träge Untätigkeit, Mangel an Übung der Geistesanlagen, und wesentlicher körperlicher Fertigkeiten waren allgemein. Unter zehn Kindern, konnte kaum eins das ABC.“

Aber Pestalozzi hielt all dies nicht davon ab, an das Gute in diesen Kindern zu glauben und diesen guten Kern in ihnen mit aller Kraft und Entschlossenheit zu entwickeln. Er nährte und pflegte sie und lehrte sie lesen, schreiben und rechnen. Dabei durfte er mit grösster Freude erleben, dass seine Liebe zu den Kindern erwidert wurde, dass sich ihre Herzen ihm und dem Guten aufschlossen und dass die Kinder in jeder Hinsicht gut gediehen. Pestalozzi hatte sich in den letzten 20 Jahren Klarheit darüber verschafft, welche Art der Erziehung der junge Mensch braucht, damit er anspricht auf das Gute und bereit wird, seine Lebensaufgaben auf sich zu nehmen. Nun endlich durfte er wieder erziehen und das tun, wonach sich sein Herz sehnte, endlich durfte er die Früchte seines Nachdenkens ernten. Seine ‚Idee der Elementarbildung‘, wie er seine Erziehungslehre später nennen sollte, lag als dunkle Ahnung in ihm, und von Tag zu Tag bewiesen ihm die Erfolge seiner praktischen Versuche die Richtigkeit seines Wegs, den er eingeschlagen hatte. Seiner Frau, die ihre Sicherheit auf dem festen Schloss der Gräfin von Hallwil genoss und nicht so recht an den Erfolg ihres Mannes glauben wollte, schrieb er voller Begeisterung:

„Jetzt kann die Frage, was mein und Euer Schicksal sein werde, nicht mehr lange zweifelhaft sein. Ich unternehme eine der grössten Ideen des Zeitpunkts. Hast Du einen Mann, der nicht misskannt worden, sondern der Verachtung und der Wegwerfung wert ist, mit der man ihn allgemein behandelt, so ist für uns keine Rettung; bin ich aber unrichtig beurteilt und das wert, was ich selber glaube, so hast Du bald Hilfe und Rat von mir zu erwarten. Aber jetzt still; jedes Wort von Dir geht mir ans Herz, und ich muss jetzt mein Herz ganz zerschnitten in mir herumtragen. Also schreib mir ruhig und hoffnungsvoll; ich kann Deinen ewigen Unglauben nicht tragen. Ich habe auch kein Haar mehr von der alten Zeit, und meine jetzige Unternehmung ist so verschieden von der ehemaligen, als meine jetzigen Runzeln mit den glatten Schwarten. Du hast Jahre warten müssen, warte jetzt auch noch 1/4 Jahr mit Willen.“

Und der Gräfin von Hallwil schrieb er kurz darauf:

„Liebe, teure Freundin! Es geht, es geht in allen Teilen. Ich lösche die Schande meines Lebens aus. Die Tugend meiner Jugend erneuert sich wieder. Wie ein Mensch, der Tage lang im Moder und Kot bis an den Hals versunken seinen Tod nahe sieht und die Vollendung seiner dringendsten Reise vereitelt sieht, also lebte ich Jahre, viele Jahre in der Verzweiflung und im Rasen meines unbeschreiblichen Elends. Ich hätte der ganzen Welt, die um mich her stand und mich also sah, nur ins Gesicht speien mögen. Woran konnte ich mich mehr halten? Aber jetzt sehe und fühle ich mich wieder ausser meinem Kath. Ich sehe und fühle mein Schicksal mit dem Schicksal anderer Menschen gleich, bin auch selbst wieder ein Mensch und versöhne mich so gern mit meinem Geschlecht und selbst mit denen, die unermüdet waren, Wasser in die Grube meines Elends zu leiten. Zerbrecht den Becher meines Elends und trinkt aus einem Menschenglas auf meine Errettung, auf mein Werk und auf meine Besserung!“

Die Aufgabe, die Pestalozzi zu bewältigen hatte, war fast unermesslich. Zeitweise hatte er über 80 Kinder zu betreuen, in unfertigen Räumen eines alten Klosters, ohne Mitarbeiter und insbesondere ohne die Unterstützung der Bevölkerung, denn er wurde als ein Vertreter der neuen Ordnung und darum von vielen als ein Verräter angesehen, und man sah es nicht gern, dass er die verwaisten Kinder der Nidwaldner erzog.

Pestalozzis Wirksamkeit in Stans sollte bloss 7 Monate dauern. Die Front im Krieg zwischen Frankreich auf der einen und Österreich und Russland auf der andern Seite zog sich mitten durch die Schweiz, und als die Russen näherrückten, forderten die Franzosen in Stans das ehemalige Kloster, in dem Pestalozzis Anstalt untergebracht war, als Militär-Spital. Vielleicht war dies für Pestalozzi eine glückliche Wendung, denn er hatte sich krank gearbeitet; das einzige Mal in seinem Leben gönnte er sich nun Ruhe und Erholung in einem Badekurort in den Alpen.

 

Burgdorf

Als Pestalozzi von seinem Badekurort aus über die weiten Gebiete des schweizerischen Mittellandes (hügeliges, teilweise ebenes Tiefland) blickte, erfreute er sich nicht an der Schönheit der Landschaft, sondern sein Herz schmerzte ihn angesichts des Gedankens, in welch ungebildetem Zustand sich die Menschen in diesen Hunderten von Dörfern befanden.

„Ich sah den Volksunterricht wie einen unermesslichen Sumpf vor meinen Augen.“ „Unsere unpsychologischen Schulen sind wesentlich nichts anderes, als künstliche Erstickungsmaschinen von allen Folgen der Kraft und der Erfahrung, die die Natur selber bei ihnen zum Leben bringt. Du weisst es mein Freund. Aber stelle dir doch einen Augenblick wieder das Entsetzen dieses Mordes vor. Man lässt die Kinder bis ins fünfte Jahr im vollen Genuss der Natur; man lässt jeden Eindruck derselben auf sie wirken, sie fühlen ihre Kraft, sie sind schon weit im sinnlichen Genuss ihrer Zwanglosigkeit und all ihrer Reize, und der freie Naturgang, den der sinnlich glückliche Wilde in seiner Entwicklung nimmt, hat in ihnen schon seine bestimmteste Richtung genommen. Und nachdem sie also fünf ganze Jahre diese Seligkeit des sinnlichen Lebens genossen, macht man auf einmal die ganze Natur um sie her vor ihren Augen verschwinden; stellt den reizvollen Gang ihrer Zwanglosigkeit und ihrer Freiheit tyrannisch still; wirft sie wie Schafe in ganze Haufen zusammengedrängt in eine stinkende Stube; kettet sie Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre unerbittlich an das Anschauen elender, reizloser und einförmiger Buchstaben und an einen mit ihrem vorigen Zustand zum rasend werden abstechenden Gang des ganzen Lebens. … Kann der Schwertschlag, der durch den Hals geht und den Verbrecher vom Leben zum Tode bringt, auf seinen Leib eine grössere Wirkung machen, als ein solcher Übergang von der langgenossenen schönen Naturführung zum erbärmlichsten Schulgang auf die Seele der Kinder?“

Angesichts dieses ‘Schul-Elends’ fasste er den folgenschweren Entschluss, Lehrer zu werden – im Alter von 53 Jahren.

Nun war damals der Beruf des Lehrers zumeist verachtet und trug auch finanziell nur wenig ein. Eine allgemeine Schulpflicht gab es in der Alten Eidgenossenschaft noch nicht oder wurde jedenfalls von den Behörden nicht durchgesetzt. Die Kinder überliess man, damit sie lesen, schreiben und ein wenig rechnen, insbesondere aber die Inhalte der christlichen Lehre kennen lernten, oft einem ausgedienten Soldaten oder einem sonstwie unbrauchbaren Menschen. Oft waren es auch einfache Handwerker, die durch ihre nebenamtliche Lehrer-Tätigkeit ihren Verdienst etwas aufbessern wollten. Und nun kommt Pestalozzi, der sich schon als Greis fühlte, der sich als Schriftsteller in ganz Europa einen Namen gemacht hatte, der als einziger Schweizer Ehrenbürger der jungen französischen Republik geworden war – und will Lehrer werden und die kleinen Kinder unterrichten.

Der Helvetische Erziehungsminister Stapfer hätte es lieber gesehen, wenn Pestalozzi die Leitung einer Lehrerbildungsanstalt (eines Seminars) übernommen hätte, denn damals gab es noch keine Lehrerbildung. Aber Pestalozzi zog es vor, zuerst seine Erfahrungen mit kleinen Kindern zu machen, weshalb Stapfer seinen Sekretär Rudolf Fischer zum Seminar-Direktor ernannte und ihm das Schloss Burgdorf als Wirkungsstätte zuwies. Für Pestalozzi erwirkte Stapfer die Möglichkeit, in einer der Stadtschulen von Burgdorf unterrichten zu können. Aber die Burgdorfer Behörden trauten Pestalozzi nicht und liessen ihn bloss an der Schule der ehemaligen Untertanen hinter der Stadtmauer unterrichten. Pestalozzi bekam auch keine eigene Schulklasse, sondern erhielt einem Winkel der Schulstube zugewiesen, in welcher der Schuhmacher Dysli die Knaben und Mädchen unterrichtete.

Pestalozzi suchte nun mit äusserster Energie eine Methode, um die Kinder auf natürliche, psychologische Weise zu unterrichten. Er legte alle Schulbücher weg und liess die Kinder die Welt rings um sie herum mit all ihren Sinnen greifen und erfahren. Dem Lesen sollte das Verständnis, also das Denken vorausgehen, und alles Denken und Erkennen sollte auf sinnlicher Erfahrung, auf ‚Anschauung‘ beruhen. Pestalozzi lehrte die Kinder lesen, indem er ihnen laut vorsprach und sie das Vorgesprochene im Chor wiederholen liess. Während dieses Sprach- und Anschauungsunterrichts durften die Schüler auf die Tafel zeichnen, was sie wollten: Striche, Rechtecke, Kreise, allerlei Figuren. Die Kinder sollten neben der Sprachfertigkeit auch das Auge und die Hand üben. Täglich machte Pestalozzi neue Erfahrungen und neue Entdeckungen, und die Kinder lernten mit grosser Lust.

Der Lehrer und Schuhmacher Dysli sah dem Treiben mit Missgunst und Argwohn zu und wiegelte die Eltern der Kinder gegen Pestalozzi auf, so dass er seine Wirkungsstätte wieder verlassen musste. Da gestattete die junge Lehrerin Stähli dem Schulreformer Pestalozzi, in ihrer Schulstube zu unterrichten. Nach 8 Monaten wurden dann seine Schüler einer Prüfung unterzogen, und die Erfolge waren so verblüffend, dass man ihm sogleich eine höhere Knabenklasse anvertraute.

Inzwischen hatte Rudolf Fischer sein Seminar eröffnet, aber er erkrankte schwer und starb kurz darauf (4. Mai 1800). Pestalozzi vereinigte nun seine Stadtschule mit der von Fischer gegründeten Schule oben auf dem Schloss und legte so den Grundstein für sein berühmtes Erziehungs-Institut in Burgdorf. Dieses sollte mehr sein als eine blosse Schule: nämlich eine echte Lebensgemeinschaft, in welcher das Unterrichten ganz natürlich eingebettet war und die Kräfte des Kopfs, der Hand und des Herzens harmonisch entfaltet werden konnten. Pestalozzi gewann für seine Idee eine Reihe tüchtiger und kraftvoller Mitarbeiter, und die Helvetische Regierung unterstützte das Unternehmen – eine Verbindung von Knabenschule, Pensions-Anstalt für auswärtige Schüler, Lehrerseminar und Waisenhaus (Armenschule) – so gut sie konnte. Sehr rasch strömten von allen Seiten Zöglinge herbei.

Pestalozzi arbeitete mit seinen Mitarbeitern fieberhaft an der Entwicklung der neuen Unterrichtsmethode. Möglichst bald wollte er der Öffentlichkeit über seine neuen Entdeckungen auf pädagogischem Gebiet Rechenschaft ablegen. Er tat dies in seiner grundlegenden Schrift ‚Wie Gertrud ihre Kinder lehrt‘, aber auch in einer Reihe kleinerer Schriften. War Pestalozzi 20 Jahre zuvor in Europa insbesondere bekannt geworden durch seinen Roman ‚Lienhard und Gertrud‘, so machte ihn das neue Werk auf einen Schlag berühmt als grossen Erzieher und Erneuerer der Volksschule. Zu Hunderten kamen Gelehrte und Politiker aus allen Ländern, um Pestalozzi und seine Mitarbeiter an der Arbeit zu sehen und die gewaltigen Unterrichtserfolge zu bestaunen. Einen neuen Auftrieb erhielt Pestalozzis pädagogischer Ruf durch einen Untersuchungs-Bericht, den ein hochangesehener Professor aus Bern im Auftrage der Helvetischen Regierung verfasst hatte. Der 131 Seiten umfassende Bericht wurde auf Staatskosten gedruckt und weitherum verbreitet. Die pädagogischen Grundgedanken, die Pestalozzi damals und in den folgenden 25 Jahren entwickelte, sind in meiner Abhandlung im 5. Kapitel systematisch dargestellt.

Am 15. August 1801 starb Pestalozzis einziger Sohn, erst 31jährig. Seine überlebende Ehefrau zog zu Pestalozzi, und ein Jahr später siedelte auch Pestalozzis Frau nach Burgdorf um. So war denn das Jahr 1803 eines der glücklichsten im Leben Pestalozzis. Leider wurde es überschattet durch die politischen Ereignisse in der Schweiz. Napoleon hatte seine Truppen im Sommer 1802 aus der Schweiz zurückgezogen, worauf gleich der Bürgerkrieg entflammte, in dessen Verlauf der Helvetische Einheitsstaat zusammenbrach. Kurz darauf kehrten die französischen Truppen wieder zurück, und Napoleon beorderte eine Versammlung von Abgeordneten nach Paris, damit sie dort eine neue Verfassung ausarbeiten könnten. Pestalozzi wurde zugleich von seiner Heimatstadt Zürich und von der Bevölkerung seines jetzigen Wohnorts, Burgdorf, nach Paris entsandt. So weilte er im Winter 1802/03 in Paris, wo er sofort eine rege Wirksamkeit entfaltete. Mit allen Kräften kämpfte er gegen die drohende Wiedereinführung des Zehntens und gegen eine Wahlrecht, das an das Vermögen gebunden war. Mit grossem Eifer und setzte er sich ein für eine gerechte Steuerbelastung (steuerfreies Existenzminimum) und hauptsächlich für die allgemeine Volksbildung, d.h. für eine harmonische Entwicklung der geistigen, sittlichen und körperlichen Kräfte. Man sagt, Napoleon hätte Pestalozzi mit der schnöden Bemerkung von sich gewiesen, er hätte keine Zeit, sich mit dem Lesenlernen zu befassen.

Die Schweizer Abgeordneten wurden sehr enttäuscht, denn Napoleon liess sie zuerst drei Wochen warten und drückte ihnen dann die von ihm geschriebene neue Verfassung fertig in die Hand. Diese neue Verfassung von 1803 ersetzte den Einheitsstaat, der tatsächlich den schweizerischen Verhältnissen nicht angemessen war, durch einen Verband von weitgehend selbständigen Kantonen.

Für Pestalozzi hatte die neue Verfassung schwerwiegende Auswirkungen, denn es gab keine zentrale Regierung mehr, von der er mit Unterstützung hätte rechnen können. Darüber hinaus verlangte der Kanton Bern, dem Burgdorf angehörte, dass Pestalozzi das Schloss Burgdorf mit seinem blühenden Institut auf den 1. Juli 1804 räume, damit der neue Oberamtmann dort seine Residenz einrichten konnte.

Gleichzeitig erhielt Pestalozzi vom russischen Zaren Alexander das Angebot, als Professor der Universität Dorpat das Schulwesen in Russland zu reorganisieren. Pestalozzi war versucht, den Ruf nach Russland anzunehmen, seine Angehörigen konnten ihn indessen im Hinblick auf seine mangelnden Landes- und Sprachkenntnisse von diesem Schritt abhalten.

Pestalozzi fand mit seinem Institut vorerst Unterschlupf in einem verfallenen Kloster in Münchenbuchsee. In der Nähe führte ein stolzer Berner Patrizier, Fellenberg, ein Mustergut und eine Erziehungsanstalt. Zweifellos besass Fellenberg grosses organisatorisches und ökonomische Talent, zwei Charakterzüge, die Pestalozzi ausgesprochen fehlten. Seine Mitarbeiter entwickelten daher die Idee einer Verbindung der beiden Anstalten: Fellenberg sollte organisieren und Pestalozzi das Ganze mit Geist durchsetzen. Aber die beiden überwarfen sich sehr bald, denn Fellenberg duldete es nicht mehr, dass Pestalozzi Zöglinge von armen Mitbürgern unentgeltlich in seine Anstalt aufnahm. So sah sich Pestalozzi nach einem Neuanfang um. Der Kanton Waadt, vor der Revolution noch ein Untertanengebiet der Stadt Bern, liess es sich nicht nehmen, dem berühmten Pädagogen das Schloss Yverdon – im französischen Sprachgebiet der Schweiz – für sein Erziehungsinstitut auf Lebzeiten unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.

 

Yverdon

Als Pestalozzi inne wurde, dass er in Münchenbuchsee von Fellenberg auf die Seite geschoben war, verliess er die Anstalt und machte sich – gemeinsam mit drei seiner Lehrer – in Yverdon an einen Neuanfang. Er war allerdings im Zweifel darüber, ob ihm jemals etwas gelingen könnte und ob er weiterhin noch zu brauchen wäre. Aus diesem Zustand des drückenden Zweifels warf ihn ein Ereignis, das man heute ‚das Wunder von Cossonay‘ nennt: Pestalozzi schritt an einem nebligen Oktoberabend des Jahres 1804 durch die Rebberge, als vor ihm plötzlich zwei trabende Pferde auftauchten. Er gedachte, das eine Pferd links, das andere rechts passieren zu lassen, und gewahrte zu spät, dass es sich um ein Wagengespann handelte. Er wurde durch die Deichsel zu Boden geworfen und geriet unter die Beine der Pferde. In seinem Brief an seine Frau und die Gräfin von Hallwil lesen wir:

„Ich klammerte mich, auf allen Vieren liegend, mit den Händen in den Boden, schoss wie eine Katze unter dem Bauch der laufenden Pferde auf die Seite des Wagens und hatte meinen ganzen Leib vom Scheitel bis auf die Zehen unter den laufenden Pferden weg, ehe die Räder, die dem Fuss der Pferde folgten, mich erreichen konnten. Das hat Gott getan! Wenn jetzt mein Kopf darauf stünde, auf allen Vieren in gleicher Schnelligkeit seitwärts zu springen, ich würde den Sprung in doppelter, in dreifacher Zeit nicht machen. Das Gefühl der Kraft, die in diesem Augenblick in mir lag, gab mir wieder Glauben an mich selbst. Ich hatte ihn verloren, ich glaubte die Kräfte meines Geistes und den Lebensstoff meines Leibes durch Nervenschwäche unwiederbringlich untergraben, ich fürchtete kindlich zu werden in kurzem. Entsetzen ergriff mich bei diesem Gedanken; meine einzige Hoffnung war der Tod, ehe das andere Übel, das mir allein fürchterlich war, aber das ich gewiss glaubte, eintrete. Und nun fand ich unter dem Fusstritt der Pferde eine Ruhe beim vollen Bewusstsein der Gefahr und eine Kraft zu handeln, die ich nur der ungeschwächten Jugendkraft möglich glaubte, als ich aufstand und meine Kleider an Arm und Leib zerrissen an mir hingen, klopfte mein Herz nicht einmal. Ich fragte mich lächelnd: Hab ich das getan? Ich antwortete mir auch bestimmt: Nein, das habe nicht ich, das hat Gott getan! Aber seitdem Gott dieses an mir getan, seitdem, liebe Frauen, seitdem bin ich auch ein anderer Mensch. Ich glaubte vorher wie Moses sterben zu müssen, ehe ich einen Fuss breit von meinem Kanaan sehe. Jetzt glaube ich es nicht mehr; ich werde leben, und Gott wird durch mich wirken; der mich also errettet (hat), wird das auch retten, was unendlich mehr wert ist als ich. Ich will jetzt nichts mehr; ich will kein Institut, kein Seminarium, keinen Ort, keinen Menschen, ich will jetzt nur, was Gott will, und das, was er will, wird sich von selbst geben.

Liebe Frauen, ich kenne mich selbst nicht mehr; eine solche Wirkung hatte dieser Zufall auf mich. Es ist eine Ruhe über mein ganzes Sein verbreitet, die ich durch mein Leben nicht kannte und die mich so glücklich macht, als ich durch mein Leben nie war.“

Mittlerweile wurde in Münchenbuchsee die Stimmung unter den Lehrern und Zöglingen immer schlechter, denn Fellenberg entschied alles selbstherrlich und duldete keinen Widerspruch. Sie vermissten die Wärme und Güte, die herzliche Teilnahme am Schicksal jedes Einzelnen, wie sie es bei Pestalozzi gewohnt waren. Darum trennten sie sich im Laufe des Jahres 1805 und siedelten geschlossen ins Schloss Yverdon über, um sich mit der inzwischen neu gegründeten Anstalt Pestalozzis zu vereinigen.

Pestalozzis Anstalt in Yverdon wurde sehr rasch berühmt und zum bedeutendsten pädagogischen Strahlungszentrum Europas. Pestalozzis pädagogischer Impuls strahlte aus nach Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, England, Preussen, Russland und Amerika.

Die Leitung des Instituts lag in den Händen einer Kommission, der neben Pestalozzi noch vier weitere Mitarbeiter angehörten. Sie wählte für jedes Unterrichtsfach einen Oberaufseher und sorgte sich um die Finanzen.

Die eigentliche Blütezeit des Instituts waren die Jahre 1807 bis 1809. Da zählte die Schulgemeinde 165 Zöglinge, 31 Lehrer und Unterlehrer, 32 Seminaristen und 10 Mitglieder der Familie Pestalozzi mit ihren Hausangestellten, insgesamt also 238 Personen. Ferner gehörte zu Pestalozzis Gemeinde in Yverdon noch sein Töchterinstitut in der Stadt (Knaben und Mädchen wurden damals getrennt erzogen).

Der Schulstoff wurde zumeist in Gruppenunterricht bewältigt. Jede Lerngruppe bestimmte ihre Arbeitsweise und das Lerntempo selber. Der Lehrer half mit und regte an. Schüler, die eine Sache begriffen hatten, wurden sogleich als Lehrer für ihre Mitschüler eingesetzt. Die Unterrichtszeit betrug etwa das Dreifache von dem, was heute in den Volksschulen der Schweiz üblich ist, nämlich ungefähr 60 volle Stunden in der Woche. Unterrichtet wurden Mathematik (Arithmetik und Algebra), Formenlehre, Zeichnen, Geographie, Geschichte, deutsche und französische Sprache, Religionslehre, Naturkunde (Chemie, Physik, Zoologie, Botanik), Latein, Gymnastik, Gesang, Buchhaltung und Briefeschreiben. Der Stundenplan war aber nicht immer gleich, denn Pestalozzis Institut verstand sich als eine Versuchsschule. Zu gewissen Zeiten wurden den Kindern täglich eine oder mehrere Stunden zum individuellen Lernen eingeräumt.

Pestalozzi wünschte eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern. Diese wurden aufgefordert, ihre allfällige Kritik offen auszusprechen. Täglich kamen Besucher nach Yverdon, und jedermann erhielt in allen Schulstuben sofort Zutritt. Pestalozzi selbst nahm sich jedes Besuches an und freute sich wie ein Kind am grossen Interesse, das man der pädagogischen Arbeit des Instituts entgegenbrachte. Der Klassenlehrer jedes Schülers musste die Eltern regelmässig über das Verhalten und die Lernfortschritte ihres Kindes schriftlich orientieren. Vergleichende Leistungsbewertungen (Zeugnisse, Noten, wie sie damals in andern Schulen aufkamen und heute in den meisten Schulen Europas noch üblich sind), gab es mit Absicht nicht, denn Pestalozzi hielt streng darauf, dass kein Kind mit einem andern verglichen wurde; jedes sollte seine Leistungen nur mit seinen eigenen Kräften und Anlagen vergleichen.

Die Voraussetzungen bei den Zöglingen waren ausserordentlich unterschiedlich. Neben Hoch- und Normalbegabten brachte man Pestalozzi auch Minderbegabte, Verhaltensgestörte und Schwererziehbare, und er sah sich sogar veranlasst, dem Institut eine Anstalt für Schwerhörige anzugliedern. Das Mindestalter der Zöglinge war 7 Jahre. Wer älter als 11 Jahre war, wurde in der Regel nicht mehr aufgenommen. Man behielt die Knaben bis zum 15. Altersjahr, sofern sie nicht als Seminaristen weiter im Institut bleiben wollten.

Ökonomisch hatte die Anstalt immer zu leiden, da sich Pestalozzi mit einem Pensionspreis zufrieden gab, der nur etwa den dritten Teil von dem betrug, was an andern Instituten üblich war. Überdies nahm er viele Kinder armer Eltern unentgeltlich auf, weshalb fast ein Drittel der Institutsbewohner nichts bezahlte. Die Lehrer arbeiteten praktisch ohne Lohn, bloss für Unterkunft und Verpflegung. Ihnen war der Dienst an der Idee wichtiger als Geld.

Der körperlichen Bildung und Ertüchtigung wurde im Institut grosse Beachtung geschenkt. Pestalozzis Lehrer entwickelten viele gymnastische Übungen, bei denen sämtliche möglichen Gelenkbewegungen systematisch in geordneten und rhythmisch ausgeführten Reihenfolgen geübt wurden. Man strebte damit eine allseitige Durchbildung des ganzen Körpers an.

Nach Pestalozzis Ansicht sollten sich die Kinder, wenn sie nicht arbeiteten, im Spiel vergnügen. Sah er ein Kind sich vom Spiel fernhalten, fürchtete er, es wäre körperlich oder seelisch krank, und er nahm sich seiner persönlich an. Arbeit und Erholung, Schulunterricht und Spiel gehörten nach seiner Überzeugung zum Dasein. Im nahen See wurde regelmässig gebadet, und alle Knaben lernten schwimmen. Im Winter wurden mächtige Schneeburgen erbaut, und wenn der See einfror, liefen die Knaben Schlittschuh. Das Schlittschuhlaufen, sagte er,

„macht gewandt und mutvoll, und es hat vorzüglich den Vorteil, dass es die Lust der Kinder, auch im härtesten Winter an der Luft zu sein und ihren gesunden Einfluss zu geniessen, ausserordentlich erhöht.“

Einen wichtigen Platz im Institutsleben nahmen die Schülerwanderungen ein. Ferien gab es nicht, aber die Schülerwanderungen dauerten oft mehrere Wochen und führten die Schüler in die Alpen und ins umliegende Ausland. Diese Wanderungen standen alle im Dienste der direkten Anschauung und galten als Bestandteil des Naturkunde- und Geographieunterrichts. Zuvor wurden jeweils Orts- und Reisebeschreibungen gelesen, Landkarten studiert und die Reiseausrüstung besprochen. Auch sonst zog man während des Unterrichts oft ins Freie, um Pflanzen, Landschaftsformen, Tiere oder Gesteine zu betrachten, zu beschreiben und abzuzeichnen. Der Lehrer nannte von einem Gegenstand oft nur den Namen, und alles weitere mussten die Schüler selbständig erarbeiten.

Von grossem erzieherischen Wert hielt Pestalozzi auch Hand- und Gartenarbeiten. Die Schüler lernten darum auch den Umgang mit Säge, Hammer und Hobel, sie betätigten sich an der Drehbank, sie halfen im Haushalt, in der Buchdruckerei und Buchbinderei des Instituts mit, sie arbeiteten auch in den Werkstätten der Schreiner, Mechaniker, Uhrmacher und Drechsler von Yverdon, und sie hielten Tiere (Kaninchen, gelegentlich ein junges Schäfchen) und bestellten ihre eigenen Gartenbeete.

Überhaupt wollte man im Institut möglichst natürlich, wie in einer Grossfamilie zusammenleben. Die meisten jungen Unterlehrer (16 – 20jährige Seminaristen) und Oberlehrer genossen eine weitestgehende Freiheit, ebenso die Knaben. Es gab keine festen Vorschriften und Verbote, sondern bei jedem Vorfall hatte der Erzieher neu und dem individuellen Fall angepasst eine Entscheidung zu treffen. Die Knaben liefen im Sommer ohne Schuhe und trugen – entgegen damaligem Gebrauch – auch keine Hüte. Ihre Kleidung sollte ihre natürlichen Bewegungen nicht hemmen. Aufstachelung des Ehrgeizes, Lobhudelei, Demütigungen, Zorn, Misstrauen und Körperstrafe waren verpönt. Als einmal ein Lehrer im Latein einem Schüler das Buch auf den Kopf schlug, verliessen zwei Zöglinge sofort das Zimmer und beschwerten sich beim damaligen Leiter des Instituts, Josef Schmid. Dieser lobte die Schüler, dass sie den Mut hatten, sich zu beschweren, und entliess den Lehrer. Die Lehrer konnten, um ihre Absichten durchzusetzen, lediglich auf ihre persönliche Autorität, auf ihre Ausstrahlung und Überzeugungskraft bauen. Sie lebten dauernd mit den Zöglingen zusammen, assen und schliefen mit ihnen in denselben Räumen.

In diesem Hause nahm Pestalozzi die Stellung eines Vaters und geistigen Anregers ein. Er widmete sich seinen sehr umfangreichen schriftstellerischen Arbeiten, er überwachte die pädagogische Arbeit der Lehrer, er liess sich wöchentlich über jedes Kind, insbesondere über seinen sittlichen Fortschritt, durch die Lehrer Bericht erstatten, er sprach mit Zöglingen, die ihm bedrückt schienen, er arbeitete mit einzelnen Schülern, um ihre Talente besonders zu fördern, er empfing die ungezählten Besuche und richtete Tag für Tag ermahnende Worte an die ganze Hausgemeinde. An Festtagen hielt er seine berühmten Reden, die heute einen nicht unbedeutenden Teil seines geschriebenen Werkes ausmachen.

Pestalozzi strahlte eine unbeschreibliche Liebe aus. Jeden, der ins Haus trat, umarmte er als seinen Mitbruder. Was er den Menschen in Yverdon bedeutet haben muss, geht aus einem Briefe eines Seminaristen hervor:

„Viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie es möglich ist, dass ich Yverdon so liebe! So, wie die jüdischen Schriftgelehrten Jesus Christus verachteten, ebenso verachten viele Menschen Pestalozzi und glauben, man sei verrückt, wenn man ihn liebt. Mir wurde kürzlich eine Stelle als Hauslehrer in Deutschland angeboten, aber wenn ich sie annähme, so wäre dies, wie wenn ich schmutziges Sumpfwasser trinken würde, während vor mir der beste Wein steht. Sogar meine Freunde in der Ferne begreifen den Himmel Pestalozzis nicht, sonst würden sie mir nicht vorschlagen, nach Wien zu gehen, um dort eine vorteilhafte Stelle zu erhalten. Ich will nicht Glanz und nicht Reichtum, sondern ich will mich bilden, um für die Menschheit etwas zu werden, und dies kann ich nirgends besser, als unter den Augen des göttlichsten Menschen, der in unserer Zeit lebt.“

Wo Licht ist, ist Schatten. Pestalozzis Persönlichkeit war widersprüchlich, oft zerrissen. Sein Haus glich gelegentlich dem Ein- und Ausfliegen eines Taubenschlags, ja dem wirren Gesumse eines Wespennests. Es war ihm nicht gegeben, das Ganze mit Ruhe zu überstrahlen. Der ruhende Pol war seine Frau, die von allen geschätzte Matrone des Hauses. Pestalozzi hingegen war flackerndes Feuer, das vieles belebte, aber auch vieles verbrannte. Blochmann, einer seiner bedeutendsten Mitarbeiter in Yverdon, schildert Pestalozzi so:

„Die Züge der im Vordergrunde stehenden grossartigsten Persönlichkeit Pestalozzis selbst nur einigermaßen befriedigend zu zeichnen, wird mir jetzt ebenso schwer, als mir’s einst in seiner Nähe ward, sie aufzufassen, da sie so viel Gegensätze und mannigfache Zerrissenheit darbieten. Sein Antlitz selbst spiegelte den Abdruck derselben. Das Ganze seiner Gesichtszüge war vielartig gewoben und verändert, durch die verschiedensten Gemütsaffekte bewegt. Bald lag darauf die zarteste Weichheit und Milde, bald herzzerreißender Schmerz und Traurigkeit, bald furchtbarer Ernst und bald ein Himmel voll Liebe und Wonne. Seine tiefliegenden Augen quollen oft wie Sterne hervor, ringsum Strahlen werfend, oft wieder traten sie zurück, als blickten sie in eine innere Unermesslichkeit. Seine Stirn war abgerundet, hinter des Alters Furchen die Glut der Jugend verbergend; der Ton seiner Stimme vielfach moduliert, dem sanften, lieblichen Worte und dem Donner des Zorns gleich dienstbar. Sein Gang war ungleich, bald hastig, bald bedächtig und wie im Sinnen verloren, bald kühn und imponierend, seine Brust breit gewölbt, sein Nacken dick und gebogen und stark und straff die Muskeln seiner Glieder. Von kaum mittlerer Größe und von schmächtiger Gestalt, trat doch in Haltung und Bewegung eine Fülle von Dauer und eine Kraft hervor, mit der er unsäglichen Stürmen Trotz bot. Alles in seiner äussern Erscheinung kündigte eine Persönlichkeit an, in der alle Saiten der menschlichen Natur tönten, und die zum Träger tiefgreifender Ideen bestimmt war. Ich habe wenige Menschen kennengelernt, aus deren Lebensmitte ein so reicher Strom der Liebe floss als aus seinem Herzen. Die Liebe war recht eigentlich sein Lebenselement, der unversiegbare göttliche Trieb, der von Jugend auf all seinem Streben und Wirken Richtung und Ziel gab. Wie es aber in der Natur der Liebe liegt, sich den Bedürfenden zuzuwenden, die Mangelleidenden und Gedrückten zunächst zu erfassen, so zog ihn der Drang seiner Liebe mit einer nie gestillten Glut zu den Hütten der Armen im Volke, zu den Bedrängten und Unterdrückten. Diesen wollte er alles, was er an äussern und innern Gütern empfangen hatte, zu freudigem Opfer bringen, dafür war ihm nichts zu schwer und nichts zu teuer; denn er suchte nie das Seinige … Diese Liebe ergriff im täglichen Umgange jeden, der ihm nahe trat, mochte er ein Hausgenosse oder ein Fremder, ein Reicher oder ein Armer, ein Hochgestellter oder Niedriger sein.“

Mehr als 15 der insgesamt 20 Jahre Aufenthalt in Yverdon wurden Pestalozzi getrübt durch einen alles vergiftenden Streit unter den Lehrern. Er wurde mit aller Schärfe in der Öffentlichkeit ausgetragen und hat nicht nur das einst hohe Ansehen der Anstalt zerstört, sondern diese schliesslich ruiniert und Pestalozzi das Leben gekostet. Der Grund ist in Pestalozzis mangelnden Führungsqualitäten zu suchen. So schreibt Blochmann:

„So oft, wenn ich den Unvergesslichen anschaute, da ich ihm noch nahestand, erschien er mir wie ein gross gewordenes Kind mit aller Herrlichkeit der kindlichen Natur, aber auch mit den Schwächen und Unvollkommenheiten derselben. Die Reinheit und Unschuld, der Glaube und die Liebe, die Milde und Hingebung des Kindes schmückten und adelten seine Seele bis ins Greisenalter; aber die Ruhe und Besonnenheit, die Umsicht und Vorsicht, die klare Herrschaft über Zustände und Personen, die den Mann zieren, mangelten ihm in hohem Grade. In innerem Widerspruche und Selbsttäuschung verlief der grösste Teil seines Lebens. … Er besass trotz seiner grossen, die ganze Menschheit umfassenden Ideale nicht Fähigkeit und Geschick, auch nur die kleinste Dorfschule zu regieren.“

So ging es denn um die Frage, wer in Pestalozzis Institut die Führung inne haben und später Pestalozzis Nachfolge antreten solle, und über diese Frage gerieten zwei Mitarbeiter, die Pestalozzi beide als seine eigentlichen Söhne ansah und als solche in sein Herz geschlossen hatte, in einen unversöhnlichen Streit: Josef Schmid und Johannes Niederer.

Schmid (geboren 1785) war bäurischer Herkunft und verriet in Burgdorf als Pestalozzis Zögling schon früh seine mathematische Begabung, weshalb er bald zum Mathematiklehrer aufrückte. Sein überragender Erfolg auf dem Gebiet des Rechnens trug dem Institut für lange Zeit den Ruf ein, es würden dort Mathematiker ausgebildet, und Pestalozzi musste immer wieder betonen, dass nicht die Bildung des Kopfs, sondern die sittliche Bildung im Zentrum seiner Pädagogik stünde. Schmid war ein ausgesprochener Alleingänger, hatte einen eisernen Willen und neigte zur Herrschsucht. Sein oft ungehobeltes Wesen, sein Draufgängertum und seine Rücksichtslosigkeit machten ihn bei den andern Lehrern wenig beliebt. Seine Vorzüge waren ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und ein klarer Blick für das Realisierbare und für das Echte. Er warnte stets vor allem Hochmut und forderte von den Lehrern, pünktlich und gewissenhaft ihre Aufgaben zu erfüllen.

Niederer (geboren 1779) – nicht weniger herrschsüchtig – hatte eine Hochschulausbildung als Theologe genossen und trat, nachdem er bereits als junger Pfarrer gewirkt hatte, in Burgdorf in Pestalozzis Dienste. Er nahm aktiven Anteil an der zeitgenössischen Philosophie und hatte den Ehrgeiz, Pestalozzis Erziehungslehre mit der idealistischen Philosophie in Einklang zu bringen. Er schwang sich in Yverdon sehr bald zum ‚Sprecher‘, zum Instituts-Philosophen und Propaganda-Chef des Hauses auf. Als solcher eröffnete er eine institutseigene Druckerei und führte mit Pestalozzis Gegnern einen verbissenen literarischen Kampf. Dies verschlang viel Geld, und ob allem fand er für das Unterrichten kaum noch Zeit.

1810 kam es zwischen den beiden zu einer ersten grossen Auseinandersetzung in der Lehrerversammlung, worauf Schmid mit vier andern Lehrern das Institut verliess. Aber Niederer, der sich kaum um praktische Angelegenheiten kümmerte, erwies sich als unfähig, die Anstalt ordentlich zu führen und die Finanzen in Ordnung zu halten. So näherte er sich Schmid, der unterdessen in einem Gebiet Österreichs das Schulwesen reorganisierte, von neuem an und lud ihn sogar 1814, als er die Leiterin von Pestalozzis Töchterinstitut heiratete, an seine Hochzeitsfeier als Trau-Zeuge ein. So kehrte Schmid 1815 nach Yverdon zurück und setzte sogleich eine notwendige und zweckmässige, aber sehr einschneidende Reform durch: Der literarische Krieg wurde eingestellt, die Haus-Druckerei geschlossen, eine strenge Buchhaltung eingeführt, fast die Hälfte der Lehrer entlassen und der Rest zu grösserer Arbeit verpflichtet. Durch das wenig psychologische, ja rücksichtslose Durchgreifen lud sich Schmid die Feindschaft fast aller Lehrer auf, und als kurz darauf Pestalozzis Frau starb, brach der Streit zwischen den Lehrern offen aus. Pestalozzi selbst geriet ob der Unversöhnlichkeit seiner Mitarbeiter beinahe in Wahnsinn, er beschwor sie, sich zu versöhnen und gemeinsam der guten Sache zu dienen – alles erfolglos. 1816 traten 16 Lehrer aus dem Institut aus, und an Pfingsten 1817, einem der höchsten Feste der Christenheit, erreichte das Drama seinen Höhepunkt, als Niederer, der in der Schlosskirche die Festpredigt vor versammelter Gemeinde hielt, sich mitten in seiner Rede unterbrach, in Zorn geriet, Pestalozzi mit Vorwürfen überhäufte und sich von ihm öffentlich lossagte.

Nach dem Austritt Niederers entspann sich zwischen ihm und Pestalozzi ein wüster Kampf um finanzielle Ansprüche. Pestalozzi hatte ihm sein Töchterinstitut geschenkt und glaubte sich daher nicht mehr zu weiteren Zahlungen verpflichtet. Niederer zog Pestalozzi deswegen vor Gericht und liess auch nicht locker, als ihm sein ehemaliger Meister eine Quittung für all das ausstellte, worauf er ein Anrecht zu haben glaubte. Pestalozzi bat Niederer immer und immer wieder um Frieden. In einem Briefe vom 1. Februar 1823 lesen wir:

„In Gefolg meiner gestrigen Unterredung wiederhole ich hiermit schriftlich, dass ich Herr und Frau Niederer bitte, um Gottes und seines heiligen Erbarmens willen bitte, mich endlich von der Marter zu erlösen, die ich nun bald sechs Jahre mit der Folter des im höchsten Grade sündhaft und ich sage geradeheraus seelenmörderisch, mit unchristlicher Verstockung geführten Verfolgungskrieges leide, der mehr als so lange zwischen unseren sich christlich nennenden Erziehungshäusern statthat.

Lieber Herr Niederer! Wiederhole doch in Deinem Gedächtnis, was wir einst voneinander hofften und was wir einst einander waren. Ich möchte von Euch wieder hoffen, was ich ehemals von Euch hoffte, und möchte Euch gern wieder sein, was ich Euch ehemals war. Aber wir müssen einander den Weg dazu möglich machen; wir müssen einander den Weg dazu, und zwar jeder von dem Standpunkt aus, auf welchem er steht, bahnen helfen. Lasst uns das tun! Lasst uns vor allem aus ohne alle Krümmungen und ohne alle Klauseln verzeihen und uns mit reinem innerem Willen zu einer wahren Liebe, zu einer wahren Freundschaft und zu einem gegenseitig segnenden Benehmen vereinigen! Niederer, werde, soviel Du kannst, wieder mein alter Niederer, wie Du es vor zwanzig Jahren warst! Frau Niederer, sei mir auch Du wieder in Wahrheit etwas von dem, was Du mir damals warst! Ich will Euch so gern, soviel ich kann, auch wieder sein, was ich Euch jemals war.

O Gott, wie sehne ich mich danach, dass unsere Herzen uns wieder zu uns selbst bringen und wir auf dem Weg einer wahren Selbsterkenntnis zu der Liebe gelangen, die im gleichen Grad die Pflicht unseres inneren Christentums ist, als sie auffallend das dringende Bedürfnis unserer Lage, unserer Umstände und unseres Verhältnisses ist. O Niederer, wie sehne ich mich danach, dass wir, von dieser erneuerten Liebe gestärkt und geheiligt, beim nächsten Fest einmal auch wieder zum heiligen Nachtmahl gehen dürfen, ohne fürchten zu müssen, dass die ganze Gemeinde, in der wir leben, von unserem Tun geärgert, ob unserem zum Nachtmahlkommen schaudern und ihre Blicke sowohl mit Unwillen und Bedauern auf uns werfen müsse.

O Niederer, auf der Bahn dieser erneuerten Liebe findet sich der einzige Weg zur wahren Ehre, sowie zur Wiederherstellung einer verlorenen Scheinehre. O Niederer, denke doch nicht, dass uns je Advokatenkünste und Trölerkniffe auf irgendeine Weise zu einer Höhe der Ehre bringen können, zu der wir uns durch die Wiederherstellung unserer Liebe selber erheben können! Alter Freund, lasst uns das Inwendige der Schüssel reinigen, eh‘ wir uns um den Scheinglanz ihres Äusseren bekümmern! Freund, lasst uns nach einem alten Sprichwort die Stube wischen, ehe wir darin eintreten, um miteinander über etwas zu reden, das uns lange weh tat und kränkte. So lange das nicht ist, so lange die Stube nicht von allem alten Mist und Kot, der in uns selbst liegt, gereinigt ist, so lange ist unser Zusammentreten zu irgendeiner Vereinigung nicht anders als das Zusammentreten von Wölfen in Schafspelzen. Also sichern wir uns der Liebe und der allgemeinen Versöhnung von uns allen, bis auf Gottlieb und seine Frau hinunter; versöhnen wir vor allem aus die Schatten der im Grab über unsere Verirrungen trauernden Edlen, meiner lieben Frauen und der guten Frau Custer selig! Dann treten wir mit Liebe und christlichem Herzen zum Beilegen alles dessen, was noch beizulegen sein wird, zusammen! Lieber Niederer! Ich will für Deine und Deiner Frauen Ehre soviel tun, dass kein besonderer, guter und edler Mensch sagen könnte, ich hätte mehr tun sollen.

Lieber Herr Niederer, liebe Frau Niederer! Ich bin dem Grab nahe; lasst mich mit Ruhe und im Frieden in dasselbe hinabsinken! Und dann muss ich noch hinzusetzen: Ich habe noch einiges auf dieser Erde zu tun; helft mir dazu, dass ich es ungekränkt und ungestört und nicht ferner auf der Folter unseres unwürdigen Prozesses liegend tun könne! Ich verspreche Euch, die diesfällige Handbietung, die ich für meine Lebenszwecke bedarf, bis an mein Grab mit Dank und Liebe zu erwidern.“

Niederer blieb unversöhnlich und drang auf den Gerichtsspruch. Dieser gab Pestalozzi recht. Aber Niederer kämpfte weiter und ruhte nicht, bis Schmid unter fadenscheinigen Vorwürfen aus dem Kanton Waadt und später auch aus dem Kanton Aargau (auf dessen Gebiet der Neuhof liegt) behördlich ausgewiesen wurde. Schmid zog dann nach Paris, wo er in einer eigenen Anstalt Pestalozzis Gedankengut verwirklichte.

Mit dem Weggang Schmids aus Yverdon war der Untergang von Pestalozzis Institut besiegelt. Dieses ist aber nicht nur am Lehrerstreit zerbrochen. In seiner Lenzburger Rede von 1809 und in einem Brief an die Tagsatzung hatte er gefordert, man möge sein Institut öffentlich untersuchen. Er hoffte, man würde die Vorzüge seiner Erziehungsweise erkennen und seine Methode dann durch den Staat zur allgemeinen Schulmethode erklären. Die Tagsatzung beauftragte drei Männer mit der Prüfung, und diese nahmen während 5 Tagen am Institutsleben teil. Der Bericht wurde 1810 veröffentlicht und war im grossen und ganzen ungünstig. Die Schwächen des Instituts wurden schonungslos aufgedeckt, und selbst das, worauf Pestalozzi zu Recht stolz sein durfte, wurde bemängelt. Die Kommission kam zum Schluss, es bestehe kein Anlass, Pestalozzis Methode in die allgemeinen Schulen einzuführen, ja die drei Herren zweifelten sogar daran, ob eine allgemeine Volksbildung notwendig sei. Pestalozzi war bereit, den Bericht Punkt für Punkt durchzugehen und allenfalls die nötigen Konsequenzen zu ziehen, aber seine Mitarbeiter waren ob der ungerechten Beurteilung so empört, dass sich insbesondere Niederer in einen zähen literarischen Kampf stürzte, um die Erziehungsweise Pestalozzis und seiner Mitarbeiter zu rechtfertigen. Von aussen gesehen war es der Lehrerstreit, der Pestalozzis Institut zerstörte, aber dieser Bericht hat den Streit genährt und das Selbstbewusstsein der Yverdoner Erziehungsgemeinde zu deren Schaden erschüttert.

Dazu kamen weitere Ereignisse, die das Yverdoner Institut erschütterten. Während 4 Monaten des Jahres 1812 konnte sich Pestalozzi dem Institut kaum mehr annehmen, da er sich durch einen Stich mit einer Stricknadel ins Ohr lebensgefährlich verletzt hatte. Eine Ausgrabung seines Skeletts im Jahre 1984 hat erwiesen, dass sein Leben nur dadurch gerettet werden konnte, dass die Ärzte – ohne Narkose – hinter dem Ohr ein Loch in den Schädel bohrten.

Die kriegerischen Ereignisse in den Jahren 1812/1813 führten auch dazu, dass kaum noch Zöglinge nach Yverdon kamen. Es war Pestalozzis Frau, die durch den Einschuss ihres Erbes das Institut vor dem finanziellen Ruin rettete. Ende 1813 sollten Truppen ins Yverdoner Schloss einquartiert werden. Pestalozzi reiste mit einer Abordnung der Stadt Yverdon nach Basel, wo der russische Zar Alexander weilte, um ihn um Abwendung dieser Gefahr für sein Institut zu bitten. Als er jedoch beim Zaren zum Gespräch vorgelassen wurde, vergass er sein eigenes Anliegen und beschwor den Herrscher Russlands, er solle die Leibeigenschaft abschaffen und sich für die allgemeine Bildung des Volkes einsetzen. Immerhin: Die Truppen kamen dann nicht nach Yverdon, denn die Abgeordneten der Stadt hatten die Angelegenheit mit Beamten des Zaren geregelt.

Der literarische Ertrag der Yverdoner Zeit ist ausserordentlich vielfältig und umfangreich. Von den vielen Schriften können hier nur die wichtigsten angeführt werden:

Der um sich greifende Ruf, Pestalozzi bilde an seinem Institut Mathematiker aus, veranlasste ihn zu einer Klarstellung 1805 in ‚Geist und Herz in der Methode‘. Als erstes wendet er sich in dieser Schrift dagegen, dass man seine Anstalt bloss aufgrund der Unterrichtserfolge beurteilt. Wichtiger ist ihm das nicht direkt Messbare: Frohsinn, kindliche Anhänglichkeit und Vertrauen in die Lehrer, Bildung zum Gehorsam und zur Selbstüberwindung. Er betont, dass Bildung kein von aussen bewirktes Einpflanzen von Kenntnissen ist, sondern auf innerer Erregung von Anlagen und Kräften beruht. Weil alles, was die Kinder lernen, aus der Tiefe ihre eigenen Wesens herausgehoben wird, wird in ihnen auch notwendigerweise das Bewusstsein der eigenen inneren Kräfte geweckt. Wenn die Kinder einmal eine einzige Fertigkeit wirklich gründlich ausgebildet haben, beginnen sie zu erahnen, was sie auch auf den andern Gebieten noch zu leisten imstande sind. Dadurch entsteht ein allgemeiner Lernwille. Seine Methode entwickelt somit einen lebendigen Sinn für Selbstkraft und Selbsthilfe. Es ist darum wichtig, bei jedem Kind den Punkt herauszufinden, wo es besonders ansprechbar und zu besonderen Leistungen fähig ist. Allerdings sind die Kräfte des Kopfs und die Kräfte des Herzens für das Menschsein nicht von gleichem Wert. Die intellektuelle Bildung an sich ist durchaus nicht geeignet, jene inneren Kräfte zu wecken, die den Menschen zum Gefühl seiner inneren Würde und des in seiner inneren Natur liegenden göttlichen Wesens führt. Dieses Gefühl entfaltet sich nicht durch die Kraft des Intellekts im Denken, sondern durch die Kraft des Herzens im Lieben. Pestalozzi sieht den Vorzug seiner Erziehungsweise gerade darin, dass Denken und Lieben miteinander verbunden werden: „Sie (meine Methode) lehrt das Kind in allem Denken lieben und in aller Liebe denken.“

Im Jahre 1809 wurde die ‚Gesellschaft der Schweizerischen Erziehungsfreunde‘ gegründet und Pestalozzi zum ersten Präsidenten gewählt. Anlässlich der Eröffnungsveranstaltung hielt Pestalozzi eine grosse Rede ‚Über die Idee der Elementarbildung‘. Sein Mitarbeiter Johannes Niederer arbeitete diese in Lenzburg gehaltene Rede um und ergänzte sie durch viele eigene Gedankengänge, so dass es heute nicht ganz einfach ist, die Teile Pestalozzis von denjenigen Niederers auseinanderzuhalten.

Eines von Pestalozzis Hauptwerken entstand zwischen 1813 und 1815 im Zusammenhang mit dem Sturz Napoleons. Dieser hatte sich 1804 unter päpstlichem Beistand die Kaiserkrone aufgesetzt, Frankreich als diktatorischer Herrscher regiert und in der Folge halb Europa durch zahllose siegreiche Kriegszüge unter französische Herrschaft gebracht. 1812 zog er mit um die 700’000 Mann nach Russland – und einige Tausend Mann kehrten wieder zurück. Durch diese Katastrophe der ‚Grossen Armee‘ entflammte der Widerstand der europäischen Völker gegen die französische Fremdherrschaft. In der Völkerschlacht bei Leipzig unterlag Frankreich, und am 11. April 1814 unterschrieb Napoleon seine Abdankung. Das bedeutete auch in der Schweiz das Ende der Verfassung, die Napoleon 1803 diktiert hatte. In einzelnen Kantonen wollte man die Zustände vor 1798 wiederherstellen, andere Kantone wollten die Napoleonische Verfassung beibehalten. Diesmal griffen Frankreichs Feinde in den Streit der Schweizer ein, vor allem der russische Zar Alexander, und erreichten, dass sich die Vertreter der verschiedenen Kantone in einer Tagsatzung über eine neue Bundesverfassung einigten. Diese kam 1815 zustande und machte aus der Schweiz einen Staatenbund, in dem die einzelnen Kantone weitestgehende Unabhängigkeit genossen.

Wie schon 1798 und 1802, erhob Pestalozzi auch bei der jetzigen Neugestaltung der Verfassung seine mahnende Stimme. In seinem umfangreichen Werk ‚An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes‘ nahm er leidenschaftlich Stellung zu den brennenden Problemen und schuf damit der Nachwelt sein eigentliches politisches Testament.

Nach dem Fall Napoleons griff in der Schweiz eine allgemeine Stimmung teils von Erleichterung, teils von Ernüchterung um sich. Hatte die Revolution die Menschen wirklich weiter gebracht? Führte sie nicht überall zu Zwist, Krieg, Unsicherheit, Unterdrükkung? Pestalozzi erkannte die Gefahr: Durch eine Rückkehr in die vorrevolutionäre Ordnung glaubten viele, die Krise meistern zu können. Zwar teilte er den Abscheu vieler Zeitgenossen über die Scheusslichkeiten des allgemeinen Volksaufruhrs und über die Tyrannei Napoleons, doch ist sein Abscheu über die Entrechtung des Volks vor der Revolution nicht minder gross. So ist es denn sein wichtigstes Anliegen, aufzuzeigen, dass sowohl in der alten Ordnung als auch im revolutionären Aufstand und unter der Herrschaft Napoleons die Würde und die Rechte des Menschen mit Füssen getreten wurden. Darum kann die Lösung des Problems weder in der Rückkehr zu einem dieser Zustände noch in irgendeinem Kompromiss liegen, sondern nur in der Schaffung eines Staates, der in den natürlichen Rechten des Menschen, d.h. in der menschlichen Natur selber begründet ist. Nach seiner Überzeugung führt jede Verfassungsreform in die Irre und den Menschen in die Sklaverei oder Barbarei, die ihn in seinem Wesen nicht erkennt, nämlich einerseits als tierisch-selbstsüchtiges, andererseits zur individuellen Veredelung bestimmtes Wesen. Er knüpft in seinen Überlegungen somit an an die Erkenntnisse der ‚Nachforschungen‘, wonach der Mensch zu verstehen ist als ein auf drei Ebenen – der natürlichen, der gesellschaftlichen und der sittlichen – existierende Wesen. Dabei bezeichnet er jetzt die Existenz des bloss gesellschaftlichen Menschen, insofern dieser sein Leben nicht schöpferisch-selbstsuchtlos gestaltet, sondern sich einfach an gesellschaftliche Gebräuche und Vorschriften hält oder den gesellschaftlich tolerierten Egoismus praktiziert, als ‚Kollektivexistenz‘. Die auf diesem Wege und zu diesem Zwecke geschaffenen Einrichtungen und ausgebildeten Fertigkeiten nennt er ‚Zivilisation‘ oder – sofern in ihnen Selbstsucht, Einseitigkeit, Deformation oder Schwäche überwiegen – ‚Zivilisationsverderben‘. Eine besondere Form dieser Verderbnis sind der ‚Massengeist‘ und die reale Menschenmasse, welche die tierischen Triebe des Menschen enthemmen, dessen Verantwortungsbewusstsein trüben und die Stimme des Gewissens zum Schweigen bringen.

Ganz anders entfaltet sich der Mensch in der überschaubaren Gemeinschaft, für die er sich verantwortlich weiss. Nur hier sind Rücksichtnahme auf individuelle Bedürfnisse und Rechte, verständnisvolles Eingehen auf Sorgen und Nöte des Einzelmenschen und Veredelung der höheren menschlichen Kräfte und Anlagen möglich. Erst die ‚individuelle Existenz‘ lässt den Menschen seine eigentliche Bestimmung erreichen. Nur in der personalen Verantwortung des Einzelnen für seine Mitmenschen und den Staat entsteht wahre Menschlichkeit, wirkliche ‚Kultur‘. Diese Art von Kultur ist nicht nur notwendige Voraussetzung für ein gedeihliches gesellschaftliches und staatliches Zusammenleben, sie ist auch der letzte Zweck, den Staat und Gesellschaft zwar nicht selbst erzeugen, wohl aber ermöglichen sollen.

Ein Staat wird nun erst dann menschenwürdig und der menschlichen Natur gerecht, wenn er die allgegenwärtige Gefährdung des Menschen durch seinen grundsätzlich nicht ausrottbaren Egoismus erkennt und darum den einzelnen Menschen durch verfassungsmässiges Recht schützt, und zwar sowohl vor den selbstsüchtigen Übergriffen anderer Bürger wie auch vor willkürlichen Übergriffen der Regierenden. Nur dann können die eigentlich-menschlichen Anlagen in jedem einzelnen Individuum voll zur Entfaltung kommen. Das setzt freilich voraus, dass der Staat nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit der Individualveredelung jedes Einzelnen anerkennt und durch geeignete rechtliche Massnahmen begünstigt und fördert. Das ist wiederum nur dann möglich, wenn sich das Regierungspersonal selbst an das gesellschaftliche Recht bindet und nicht seinen eigenen egoistischen Ansprüchen unterliegt.

Pestalozzi zeigt in seinem Werk den Zusammenhang von Politik und Erziehung auf. Während die Politik kollektive Mechanismen regelt, nimmt sich die Erziehung des einzelnen Menschen an. Beides ist nötig, aber die Politik darf nie Selbstzweck sein, sondern erweist sich erst dann als menschenwürdig und berechtigt, wenn sie das individuelle Wohl und die Versittlichung des Einzelnen als letzte Zielsetzung im Auge behält. Unterbleibt dies, so kann kein echtes staatliches Leben aufkommen.

„Es ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich als durch die Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung!“

Pestalozzi war längst ein Mann von grossem, europäischem Ruhm geworden, weshalb ihm der bekannte deutsche Verleger Cotta die Möglichkeit eröffnete, in seinem Verlag in einer vielbändigen Ausgabe seine sämtlichen Schriften zu veröffentlichen. Der Mann von Yverdon sah bereits den reichen Geldsegen, aber er gedachte ihn nicht für sich selbst zu nutzen, sondern er wollte ihn ganz für die Erreichung seiner Lebenszwecke auch nach seinem Tode einsetzen. In seiner berühmten Rede anlässlich seines 72. Geburtstages 1818 verkündete er öffentlich die Errichtung einer entsprechenden Stiftung. Auch sah er wieder einmal eine Möglichkeit, den alten Traum seines Lebens zu verwirklichen: nämlich seine 1779 geschlossene Armenanstalt auf dem Neuhof wieder zu beleben. Sein Mitarbeiter Schmid widersetzte sich diesem Plan, denn er sah sehr wohl, dass Pestalozzi die erwarteten Einkünfte viel zu hoch eingeschätzt hatte, aber er willigte schliesslich ein, in der Nähe von Yverdon eine Anstalt für Arme zu eröffnen. Diese wurde dann aber auf Schmids Verlangen ein Jahr später mit dem Institut in Yverdon vereinigt.

Im allgemeinen hat Pestalozzi seine früher veröffentlichten Schriften beim Nachdruck in der Cotta-Ausgabe nicht verändert. Eine grosse Ausnahme bildet da sein grosser Roman ‚Lienhard und Gertrud‘. Hier übernahm er nur die beiden ersten Bände von 1781 und 1783, aber die Bände 3 und 4 wollte er vollständig neu schreiben und das ganze Werk auch auf 6 Bände ausdehnen. Der Grund ist der: Im 3. Band tritt erstmals der Dorflehrer Glüphi auf, mit dessen Ansichten und Vorgehensweisen sich Pestalozzi identifiziert. In den Jahren zwischen 1783 und 1793 befand er sich aber in einer grossen inneren Krise, was dazu führte, dass er den Menschen vorwiegend als schlecht ansah und kaum mehr an seine Veredelung von innen her glaubte. Er vertrat daher in den Bänden 3 und 4 von ‚Lienhard und Gertrud‘ sehr harte pädagogische Ansichten. So behauptete er, die Liebe tauge in der Erziehung nur etwas in Verbindung mit der Furcht, und wenn man aus den Menschen etwas Rechtes machen wolle, müsse man ihre Bosheit bemeistern und „ihnen auf ihren krummen Wegen den Angstschweiss austreiben“. Nach all den Erfahrungen, die Pestalozzi seit Stans in der Erziehung gemacht hatte, konnte er nun nicht mehr zu diesen Aussagen stehen, weshalb er sich entschloss, das Werk umzuarbeiten. Leider brachte er nur noch die Bände 3 und 4 zustande, das Manuskript des 5. Bandes ging nach seinem Tode verloren, und vom 6. Band gab es erst Entwürfe. So ist denn leider Pestalozzis Hauptwerk in seiner letzten Fassung unvollendet geblieben. Es ist trotzdem sehr lesenswert, denn in ihm findet sich die volle Weisheit des Menschenfreundes und grossen Erziehers.

 

Lebensabend auf dem Neuhof

Als Schmid des Kantons Waadt verwiesen wurde, verliess Pestalozzi mit ihm und den letzten 4 Zöglingen im März 1825 das Institut und zog sich endgültig auf den Neuhof zurück. Seinen Traum, seine ehemalige Armenanstalt wieder zu beleben, hatte er immer noch nicht begraben. Gemeinsam mit seinem Enkel machte er sich daran, das Werk zu verwirklichen. Dessen Vollendung sollte ihm aber nicht mehr vergönnt sein.

Auf dem Neuhof schrieb Pestalozzi sein letztes grosses Werk, seinen ‚Schwanengesang‘. Nach alter Sage ahnen die Schwäne ihren Tod voraus und stimmen kurz zuvor zu einem wundersamen Gesange an. So ähnlich fühlte sich Pestalozzi, als er sein letztes Werk aufs Papier brachte. Sein Buch besteht im wesentlichen aus zwei Teilen: einer Selbstbiographie und einer umfassenden Darstellung seiner Erziehungslehre, die er „als gereifte Früchte am Baum seines Lebens“ betrachtete.

Der Verleger Cotta war nun nicht bereit, jene Teile von Pestalozzis Selbstbiographie, die sich auf den Streit in Yverdon bezogen, zu veröffentlichen, denn er wollte sich keine Schwierigkeiten einhandeln. Das bewog Pestalozzi, diesen Teil seiner Biographie in einem andern Verlag unter dem Titel ‚Meine Lebensschicksale‘ zu veröffentlichen. Schonungslos vergleicht er die nackte Realität in Yverdon mit der Idee, wie sie eigentlich in seinem Herzen lebt, und kommt zum Schluss, dass Yverdon nicht das war, was er wollte. Zwar richtet er die Kritik zuerst einmal gegen sich selber, aber dabei entgeht ihm offensichtlich, dass er eben nicht nur sich selbst und sein eigenes Werk beurteilt und verurteilt, sondern gleichzeitig auch die Leistungen seiner zahlreichen Mitarbeiter. Dass er den Beitrag Schmids günstiger beurteilt als denjenigen Niederers, ist nach all dem Vorgefallenen verständlich und hält im Nachhinein auch einer objektiven Prüfung stand. Zum Beweis für seinen ungebrochenen Willen zur Versöhnung druckt Pestalozzi am Schluss seiner Lebensschicksale jenen oben wiedergegebenen Brief ab, den er am 1. Februar 1823 Niederer persönlich überbracht hatte, und schliesst das Werk mit dem Satz: „Ich bin und bleibe heute noch in der nämlichen Gesinnung, in der ich war, als ich diesen Brief schrieb.“

Niederer freilich war zur Versöhnung noch weniger bereit als früher. In seinem 25 Jahre alten Mitarbeiter Eduard Biber fand er ein williges Instrument; dieser verfasste und veröffentlichte eine umfangreiche Schmähschrift, in der Pestalozzi als Heuchler, Verleumder und Verbrecher hingestellt wurde. Pestalozzi hatte sich an seinem 81. Geburtstag am 12. Januar 1827 noch bester Gesundheit erfreut; Bibers Buch warf ihn aufs Krankenlager. Er flehte den Arzt an, er möge helfen, dass ihm wenigstens noch 6 Wochen zu leben vergönnt sein könnten, damit er sich gegen die Unwahrheiten zur Wehr setzen könne. Er schrieb wie im Fieber, aber was er schrieb, ist nicht mehr zu entziffern. Über weite Strecken verkritzelte er das Papier, ohne zu merken, dass er keine Tinte mehr an der Feder hatte. Hier eine der letzten schriftlichen Äusserungen Pestalozzis:

„O, ich leide unaussprechlich! Kein Mensch vermöchte zu fassen den Schmerz meiner Seele. Man verschmäht und beschimpft den alten, schwachen, gebrechlichen Mann und sieht ihn jetzt nur noch als ein unbrauchbares Werkzeug an. Dies tut mir nicht meinetwegen weh; aber es tut mir wehe, dass man auch meine Idee verschmäht und verachtet und unter die Füsse tritt, was mir heilig war und wonach ich während meines langen, kummervollen Lebens gerungen habe. Sterben ist nichts, ich sterbe gern, denn ich bin müde und möchte endlich Ruhe haben; aber gelebt, alles geopfert und nichts erreicht zu haben, immer nur gelitten zu haben und alles zertrümmert zu sehen und so mit seinem Werk ins Grab zu sinken – – o das ist schrecklich, und ich kann es nicht aussprechen, und ich wollte gerne noch weinen, und es kommen keine Tränen mehr. – – Und meine Armen, die gedrückten, verachteten und verstossenen Armen! Arme, man wird auch euch wie mich verlassen und verschupfen … Der Reiche in seinem Überfluss gedenkt euer nicht; er könnte euch auch höchstens nur ein Stück Brot geben, weiter nichts. Euch einzuladen zur geistigen Mahlzeit und euch zu Menschen zu machen, daran wird man noch lange, gar lange noch nicht denken. Aber Gott im Himmel, der auch an seine Sperlinge denkt, wird euch nicht vergessen und euch trösten, wie er mich nicht vergessen und auch mich trösten wird.“

Pestalozzi konnte sich nicht mehr rechtfertigen. Drei Wochen, nachdem er Bibers Schmähschrift gelesen hatte, starb er, am 17. Februar 1827. Hier seine letzte Willenserklärung:

„Ich bin auf dem Todbette. Gerne hätte ich für meine Werke und für meine Rechtfertigung noch einige Monate gelebt. Die Vorsehung hat es anders beschlossen, und ich verehre sie. Weil ich aber im Grabe nicht mehr reden kann, so fordere ich alle meine Feinde, die offenen und versteckten, … auf meinem Sterbebette und bei der Gerechtigkeit des Himmels auf, ihre Anschuldigungen und Anklagen vor Gericht von der kompetenten richterlichen Behörde aufs strengste untersuchen und ahnden zu lassen. Möge aber meine Asche die grenzenlose Leidenschaftlichkeit meiner Feinde zum Schweigen bringen und mein letzter Ruf sie bewegen, zu tun, was Rechtens ist, mit Ruhe, Würde und Anstand, wie es Männern geziemt! Möge der Friede, zu dem ich eingehe, auch meine Feinde zum Frieden führen! Auf jeden Fall verzeihe ich ihnen, meine Freunde segne ich und hoffe, dass sie in Liebe des Vollendeten gedenken und seine Lebenszwecke auch nach seinem Tode nach ihren besten Kräften fördern werden.“

Eduard Biber hat sich weiter mit Pestalozzis Leben und Ideen beschäftigt und wandelte sich dabei von seinem Feind zu einem seiner grössten Verehrer. Er ging später nach England und hat dort sein ganzes Leben eingesetzt, um Pestalozzis Ideen zu verbreiten und in die Tat umzusetzen.

Pestalozzi fand seine letzte Ruhestätte an der Mauer des kleinen Schulhauses Birr, unweit des Neuhofs. Auf seinen Wunsch hin setzte man auf sein Grab einen weiss blühenden Rosenstrauch. Anlässlich seines 100. Geburtstages im Jahre 1846 errichtete der Kanton Aargau über seinem Grab ein Denkmal, in dem die wichtigsten Stationen seines Lebens in goldenen Buchstaben eingemeisselt sind:

Hier ruht

Heinrich Pestalozzi

geb. in Zürich am 12. Jänner 1746

gest. in Brugg am 17. Hornung 1827.

Retter der Armen auf Neuhof,

Prediger des Volkes in Lienhard und Gertrud,

Zu Stanz Vater der Waisen,

Zu Burgdorf und Münchenbuchsee

Gründer der neuen Volksschule,

Zu Iferten Erzieher der Menschheit.

Mensch, Christ, Bürger.

Alles für Andere, für sich Nichts.

Segen seinem Namen!

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