Arthur Brühlmeier

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Pestalozzis Bild vom Menschen

Untersuchung von Prof. Dr. Heinrich Roth, Pestalozzianum Zürich, 1985, 80 Seiten

„In ferne Welten wallet die irrende Menschheit.“ Es fällt schwer, Pestalozzi hierin zu widersprechen, haben wir Menschen uns doch, übers Ganze gesehen, verrannt und verstrickt. Wir haben im Wahn, alle Probleme pfiffig lösen zu können, Berge neuer Probleme geschaffen. Wenn wir wissen wollen, wie dies kommen konnte und was uns allenfalls weiterhelfen könnte, erweist sich eine Auseinandersetzung mit dem Gedankengut grosser Denker allemal als fruchtbar. Freilich werden wir, je nachdem, wo wir anklopfen, andere Antworten erhalten, und dies nicht zuletzt deshalb, weil nicht jeder Denker dasselbe Bild des Menschen und des Menschseins in sich trägt.

Heinrich Pestalozzis Menschenbild ist weitherum unbekannt geblieben. Sein gewaltiger Ideenkosmos ist zumeist zur griffigen Formel ‚Kopf – Herz – Hand‘ zusammengeschrumpft. Das ist sehr zu bedauern, denn Pestalozzi hat in jahrzehntelanger schmerzlicher Gedankenarbeit ein umfassendes, in sich stimmiges und mit den Lebensrealitäten übereinstimmendes Menschenbild entwickelt. Dieses ist wie kaum ein anderes Ideen–System geeignet, die reale Situation des Einzelmenschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse schlüssig zu klären und gleichzeitig jene Wege aufzuzeigen, die es zu beschreiten gilt, wenn mehr Menschlichkeit und Menschenwürde verwirklicht werden soll.

Es lässt sich nicht verschweigen: Pestalozzis Schriften zu lesen, ist anspruchsvoll und erfordert Konzentration und Musse. Es ist daher jeder Versuch zu begrüssen, Pestalozzisches Gedankengut konzentriert, griffig, klar und knapp zusammenzufassen, um möglichst vielen Menschen den Zugang zu diesem grossen Denker zu erleichtern. Und man darf es uneingeschränkt sagen: Heinrich Roth ist mit seinem neuesten Bändchen über ‚Pestalozzis Bild vom Menschen‘ diesem Anspruch gerecht geworden. Er zeigt zuerst, dass Pestalozzis Menschenbild in seiner Frühschrift ‚Die Abendstunde eines Einsiedlers‘ eine erste Gestalt gewann. Pestalozzi sah darin den Menschen einerseits berufen zu einer nahen Beziehung zum Mitmenschen und zu Gott, anderseits aber abirrend vom ‚Pfad der Natur‘ und sich ans Vordergründige verlierend. Die folgenden Jahre grosser Entbehrungen und Enttäuschungen führten dann Pestalozzi in eine pessimistische Stimmung, die kaum mehr einen lebendigen Glauben an die Wirksamkeit göttlicher Kräfte im Menschen aufkommen liess. So wusste denn der Schulmeister und Leutnant Glüphi, der in Pestalozzis berühmtem Dorfroman ‚Lienhard und Gertrud‘ die philosophischen Ansichten des Autors vertrat, vom Menschen, „so wie er von Natur aus ist und wie er, wenn er sich selbst überlassen wild aufwächst und seiner Natur nach notwendig werden muss“, nur noch Schlechtes zu sagen.

Im Zentrum von Heinrich Roths Schrift steht nun Pestalozzis erneute Suche nach einem tragfähigen Fundament und dessen Ausgestaltung in der philosophischen Hauptschrift ‚Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts‘ (1797). Es gelingt Roth, die teilweise schwierigen Gedankengänge Pestalozzis klar und verständlich zu entwickeln und so den Leser ins Zentrum Pestalozzischen Philosophierens hineinzuführen. Der Leser wird befähigt, das Leben des Einzelmenschen und die gesellschaftlichen Prozesse in der ganzen Widersprüchlichkeit mit Hilfe des Pestalozzischen Ansatzes zu verstehen und eine Antwort auf die Frage zu finden, auf welchen Wegen und unter welchen Bedingungen der Mensch zu einer Harmonie mit sich selbst und mit dem Schöpferwillen kommen kann. Roth zeigt dann weiter, wie sich Pestalozzis Erfassen der menschlichen Existenz als natürliches, gesellschaftliches und sittliches Leben für das erzieherische und politische Handeln als fruchtbar erweist. Der Autor besteht auch mit Recht immer wieder darauf, dass Pestalozzi nur verstanden werden kann, wenn man seine Sichtweise akzeptiert, dass die Sittlichkeit des Menschen letztlich im göttlichen Urgrund der Menschennatur wurzelt. Von hier her skizziert Roth dann abschliessend einen Vergleich zwischen Pestalozzi und Marx, wobei dem Autor gewiss bewusst ist, dass das Problem, das hier angeschnitten wird, eigentlich eine ausgreifendere Untersuchung erforderte.

Es ist dem Pestalozzianum und seinem Leiter, Dr. h. c. H. Wymann, zu danken, dass es eigene Publikationen wagt, die abseits von erziehungswissenschaftlichen Modeströmungen liegen. Möge der auch äusserlich ansprechenden Schrift Heinrich Roths eine verständige Leserschaft beschieden sein.

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