Arthur Brühlmeier

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Fragen der Geschichtsdidaktik

Die folgenden Überlegungen bilden eine Weiterführung meines grundlegenden Aufsatzes „Vom Wesen und Sinn der Geschichte und vom bildenden Wert des Geschichtsunterrichts.“ Ich habe dort u. a. gezeigt, dass der bildende Wert der Beschäftigung mit der Geschichte in erster Linie darin besteht, dass der Schüler in der Menschheitsgeschichte das Wesen des Menschen – eingespannt zwischen Gut und Böse und in das ganze Spektrum unterschiedlichster Existenzweisen – und damit sich selbst in seinen potentiellen Möglichkeiten zu erkennen vermag. Darüber hinaus bildet ein guter Geschichtsunterricht wohl die beste Grundlage für politisches Wissen und staatsbürgerliche Erziehung, ein Anliegen, das angesichts der Verrottung der politischen Sitten (man gestatte mir diese Sicht) täglich dringender wird. Verlust an geschichtlichem Bewusstsein steht in direktem Zusammenhang mit dem Verlust möglicher Freiheit. Ich teile Vazlav Havels Überzeugung: „Nur ein geknechtetes Volk hat keine Geschichte“

Bei diesen geschichtsdidaktischen Erwägungen geht es nun um die Frage: Wie soll ich als Lehrer in der Primarschule den Geschichtsunterricht gestalten, damit das Bildende, das in der richtigen Beschäftigung mit der Geschichte liegt, wirklich zum Tragen kommt?

Menschsein in Raum und Zeit

Ausgangspunkt der menschlichen Entwicklung bei der Geburt ist das Erleben des „Hier“ und „Jetzt“. Ein Neugeborenes hat noch keinerlei räumliche und zeitliche Perspektive, sondern greift erst allmählich im Verlaufe seiner Entwicklung aus in Raum und Zeit.

Von den beiden grundlegenden Kategorien Raum und Zeit, die letztlich die Bedingungen darstellen, unter denen sich materielles Sein überhaupt ereignen kann, wird der Raum im Vergleich mit der Zeit als konkreter erlebt. Dessen Dreidimensionalität ist unserer Anschauung unmittelbar zugänglich, aber wenn man gelegentlich von Seiten der Physik hört, die vierte Dimension sei mit der Zeit identisch, so strapaziert dies unsere Vorstellungskraft ausserordentlich. Die Zeit lässt sich auch nicht wie der Raum anschauen, sondern lediglich denken, und je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr entgleitet sie einem. Es ist darum kein Zufall, dass man zum Messen des Raums natürlicherweise auf Räumliches zurückgreifen kann, dass man aber, um die Zeit zu messen, von Zeiträumen spricht und deren Ablauf in einen räumlichen Vorgang umwandeln muss: Der Zeiger der Uhr bewegt sich im Kreise.

Es ist darum sehr natürlich, dass sich das Kind zuerst den Raum erobert und ihn mit seinem Körper erlebnishaft ausmisst und täglich erweitert, längst bevor es in seinem Erleben aus dem „Jetzt“ heraustritt und Fäden zum Vergangenen und Künftigen spinnt.

Zeitliches und historisches Bewusstsein

In den folgenden Erwägungen unterscheide ich zwischen zeitlichem und historischem Bewusstsein:

  • Das zeitliche Bewusstsein ist rein formal und bedeutet die (teilweise abstrakte) Vorstellung (Begriff) eines zeitlichen Ablaufs, eines Hereinbrechens der Zukunft in die Gegenwart und eines Versinkens des Gegenwärtigen in die Vergangenheit, aber auch die Vorstellung von Zeiträumen.
  • Ein historisches Bewusstsein ist in dem Masse vorhanden, wie diese Zeiträume in unserer Vorstellung mit konkreten Inhalten gefüllt sind: Geschehnisse, gesellschaftliche, politische, kulturelle Phänomene und Entwicklungen.

Das Bewusstsein des zeitlichen Ablaufs entwickelt sich später und wohl langsamer, als viele Geschichtsdidaktiker anzunehmen belieben. Für das kleine Kind ist das, was dem aktuellen Geschehen entronnen ist, nicht so selbstverständlich wie für uns in der Vergangenheit aufgehoben, sondern ganz schlicht der Existenz entschwunden. Damit dürfte zusammenhängen, dass wir Erwachsene zumeist keine konkreten Erinnerungen mehr haben von den Erlebnissen der ersten drei Lebensjahre. Erinnerung setzt ein zeitliches Bewusstsein voraus, und dieses entwickelt sich erst allmählich. Diese Entwicklung geht parallel zur Bildung zeitlicher Begriffe wie „vorher“, „nachher“, „jetzt“, „früher“, „später“, „erst jetzt“, „noch nicht“, „als“, „wann“, „dann“, „Tag und Nacht“, „Morgen und Abend“, „gestern und morgen“, „vorgestern und übermorgen“, „am Samstag, Sonntag usf.“, „letzte Woche“, „im nächsten Monat“, „vor einem Jahr“ usf.

Wenn viele Erstklässler die Wochentage noch nicht kennen oder zumindest deren kreisförmige Abfolge noch nicht erfasst haben, wenn einzelne sogar die Begriffe von „gestern“ und „morgen“ noch nicht gefestigt haben, wenn der Kreislauf der Jahreszeiten oder der Monate für sie noch ein spanisches Dorf ist, so lässt sich leicht vorstellen, wieviel da geschehen muss, damit sie dann drei Jahre später (gemäss gewissen Lehrplänen) schon einem veritablen Geschichtsunterricht folgen können sollten. Wenn also ein Grossteil der Schüler im Geschichtsunterricht Mühe bekundet, so einfach deshalb, weil sie noch kaum ein tragfähiges zeitliches Bewusstsein ausgebildet haben, um geschichtliche Abläufe in ihren zeitlichen Dimensionen überhaupt begreifen und in ein inneres Gefüge zeitlicher Vorstellungen einordnen zu können.

Ein wirklich geschichtliches Bewusstsein, in das sich einzelne historische Phänomene immer sicherer einordnen und in welchem sie sich mit vielen andern verknüpfen lassen, bildet sich erst mit der Pubertät oder möglicherweise noch später (oft erst gegen das 20. Lebensjahr) und bedingt eine ausserordentlich aufwendige Bildungsarbeit.  Ein Geschichtsunterricht, der den Anspruch erhebt, elementar zu sein, trägt diesen Sachverhalten Rechnung und mutet Mittelstufen-Schülern nicht geistige Leistungen zu, zu denen sie natürlicherweise noch gar nicht in der Lage sind.

Von diesem Tatbestand her leiten sich zwei Fragen für uns Lehrer ab. Erstens: Wie lässt sich Geschichtsunterricht unter diesen psychologischen Gegebenheiten in der Primarschule überhaupt sinnvoll gestalten? Und zweitens: Wie können wir als Lehrer den Aufbau eines historischen Bewusstseins fördern?

Geschichtsunterricht in der Primarschule

Betrachten wir die Inhalte der historischen Wissenschaft, so lassen sie sich durchaus unter zwei verschiedenen Aspekten würdigen:

  • Einerseits können wir sie auffassen als Ereignisse, denen als Ereignisse eine eigenständige Bedeutung zukommt.
  • Andererseits können wir sie verstehen als historische Phänomene, die nur in ihren zeitlichen Bezügen angemessen erfasst werden können.

So kann man z.B. Bruder Klaus als gottesfürchtigen Menschen sehen, der in die Einsamkeit ging, dort unter ungewohnten Umständen Gott gehorsam war, den Seinen mit Rat beistand und als Ratgeber sogar einen politischen Streit weitsichtig schlichtete. Dieses historische Phänomen liesse sich als „existentielle Gestalt“ (im gestaltpsychologischen Sinne) bezeichnen, sie ist als solche in sich sinnvoll (und erzählenswert), ganz gleich, wann und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie sichtbar geworden ist.

Selbstverständlich lässt sich dasselbe Phänomen, Bruder Klaus, in seiner historischen Bedingtheit und Bedeutung darstellen, und damit wird es zu einer „historischen Gestalt“ (wiederum nicht als „Mensch“, sondern gestaltpsychologisch verstanden).

Bedenken wir nun, dass Primarschüler noch kaum ein tragfähiges zeitliches Bewusstsein ausgebildet haben, so kann, wenn wir die oben gemachte Unterscheidung anwenden, der Geschichtsunterricht trotzdem sinnvoll und sehr bildend sein, nämlich dann, wenn wir die historischen Phänomene hinsichtlich ihrer existentiellen Gestalt zur Darstellung bringen. Wir bereichern damit die Vorstellungen und das Innenleben der Schüler mit Möglichkeiten menschlicher Existenz oder gesellschaftlicher Situationen, aber diese sind uns einstweilen nicht in ihrer zeitlichen und historischen Bezogenheit wesentlich, sondern in ihrer eigenen, in sich geschlossenen Sinnhaftigkeit. Damit dienen sie uns Pädagogen als Vorgaben, um in den Schülern seelisch-geistige Kräfte zu entfalten. Uns als Lehrern bleibt dabei durchaus bewusst, dass wir das Phänomen nicht in seiner ganzen Fülle ausgeschöpft haben; aber wir können darauf vertrauen, dass das dargestellte und vom Schüler wirklich innerlich erlebte Ereignis von ihm selbst (allenfalls unter Mithilfe eines späteren Lehrers) im Verlaufe der Entwicklung seines zeitlichen Bewusstseins zu einem Baustein eines historischen Bewusstseins wird und dass er im Zuge dieser Entwicklung das einzelne Phänomen allmählich in seiner historischen Bedingtheit, Bezogenheit und Bedeutung zu erkennen vermag.

Bildung des historischen Bewusstseins

Damit sind wir auch gleich zur zweiten Frage vorgestossen, nämlich, wie sich historisches Bewusstsein heranbilden lasse.

Vorerst geht es darum, das zeitliche Erleben des Kindes mit ihm zugänglichen Inhalten zu verknüpfen. Es hat durchaus keinen Sinn, einem Drittklässler eine eiserne Rüstung zu zeigen und ihm zu erklären, im Mittelalter hätte man in solchen Rüstungen gekämpft. Dieser Rede entnimmt er lediglich, dass in dieser Rüstung „einmal“ ein Mensch steckte und sich damit im Kampfe vor den Schlägen des Gegners schützte. „Mittelalter“ ist für ihn eine leere Worthülse, und sie bleibt es auch, wenn wir sagen „vor tausend Jahren“.

Anknüpfen muss man am gegenwärtigen Erleben des Kindes: Was hast du früher erlebt? An diese Erlebnisse lassen sich Erzählungen des Lehrers anknüpfen: Was habe ich früher erlebt, wie sah es bei uns früher aus? Dann werden die Schüler bald merken, dass man noch mehr erfährt, wenn man ältere Leute anhört. Sie werden allenfalls ihre Grosseltern ausfragen, oder man bittet einen pensionierten Kollegen ins Schulzimmer, er möge von alten Zeiten berichten. Er kann dann auch noch davon erzählen, was er von seinem Vater und seinem Grossvater hörte; das reicht schon ziemlich weit zurück, sicher über hundert Jahre.

Die Erzählung konkreter Begebenheiten muss nicht weltbewegend sein. Es geht um den erlebten Alltag der betreffenden Menschen, allenfalls auch um herausragende Geschehnisse oder Kuriositäten. Es soll auch nicht beim blossen Wort bleiben. Vieles von früheren Zeiten ist aufgehoben worden: Alte Bücher und Bilder, alte Apparate und Geräte, alte Gefässe und Gewänder usf. Über sie lässt sich vieles erzählen. Der Schüler lernt so auch Quellen kennen, welche die Historiker benutzen: Mündliche Überlieferung, Gegenstände, Urkunden u.a. Wichtig ist in jedem Fall, dass der Schüler die Zeiträume, von denen die Rede ist, mit seiner eigenen gelebten Zeit in Beziehung setzen kann. Und weil sich Zeit nun einmal nicht anders als räumlich darstellen lässt, entsteht nun ein erster Geschichtsfries, nicht aufgebaut vom Urknall her, sondern rückwärts greifend, von der Gegenwart her. Er setzt mit heute an, geht zunächst zum Geburtsjahr der Schüler, dann allenfalls zum eigenen, dann zu den Lebensdaten jener Personen, von denen in den erwähnten Erzählungen die Rede war, insgesamt etwa hundert Jahre. Herausragende Ereignisse der letzten hundert Jahre, von denen die Rede war, können eingetragen werden. Damit beginnt der Schüler den Zeitraum eines Jahrhunderts zu erahnen. Weitere Jahrhunderte lassen sich rückwärts aufbauen, eins nach dem andern, vorerst noch ohne jeden Inhalt. Und wenn zwanzig aneinandergereiht sind, kann man die Geburt Jesu Christi eintragen und damit den Beginn unserer Zeitrechnung.

Ich halte die 4. Klasse für den richtigen Zeitpunkt, so etwas zu tun. Heute werden viele Lehrer dies schon in der dritten tun wollen. Wer es noch weiter vorverlegt, wird Verwirrung stiften.

Ganz unabhängig von dieser Unternehmung sollte im Kind das Wort „Es war einmal“ mit Gehalt gefüllt werden. So wie es eine Sehnsucht nach der Ferne gibt, gibt es eine Sehnsucht nach dem Vergangenen, weit Zurückliegenden. Eine rationale Einordnung in ein zeitliches Kontinuum ist nicht erforderlich, sondern es geht um das gemüthafte Erahnen des in ferner Vergangenheit Liegenden. Vielleicht klingt in der Tiefe der Seele des Kindes wie eine Erinnerung einer noch heilen Existenz an.

In den Steiner-Schulen baut man auf diesem Erlebnis des „Es war einmal“ auf und entwickelt den Geschichtsunterricht aus den Märchen heraus. Ihnen folgen Legenden, mythische Sagen und geschichtliche Sagen, welche ganz natürlich zur historischen Erzählung überleiten. Ich bin überzeugt, dass dieser Gang der Entwicklung des menschlichen Geistes entspricht.

Sobald man nun (etwa in der 4. Klasse) zur Erzählung historischer Begebenheiten vorstösst, dürfte man nun eben nicht den Fehler machen, diese in ihrer primär historischen Dimension behandeln zu wollen. Sie sollen vielmehr als existentielle Gestalten, wie ich es oben beschrieben habe, zum Tragen kommen und pädagogisch fruchtbar werden. Ob man sie entlang eines gewissen geschichtlichen Ablaufs auswählt, ist m.E. sekundär. Sobald die grundlegende Übung mit dem Geschichtsfries vorgenommen wurde, lassen sich die behandelten Geschehnisse graphisch einordnen. Sie bilden erste Bausteine zu einem historischen Bewusstsein, das sich nur in einem sehr aufwendigen und langen Entwicklungsprozess erzeugen lässt.

Längs- oder Querschnitte?

Seit der Erfindung des Films gelingt es uns, die Richtung des zeitlichen Ablaufs der Geschehnisse umzukehren: Wir müssen bloss den Film rückwärts laufen lassen. Aber jeder erkennt natürlich sofort das Unnatürliche der Situation, wenn jemand zuerst dem Sarg entsteigt, sich lebenslang rückwärts bewegt, dann immer weniger kann, immer kleiner und hilfloser wird und sich schliesslich in den Mutterleib zurückzieht. Genau so unnatürlich wäre ein Geschichtsunterricht, dem es nicht nur um isolierte Darstellung einzelner Ereignisse, sondern um Darstellung der historischen Entwicklung geht, wenn er nicht aus der Vergangenheit in Richtung Gegenwart voranschritte, sondern sich stets rückwärts in die noch fernere Vergangenheit bewegte.

Zwar müssen wir, wenn wir die Vorstellung von Zeiträumen im Kinde natürlich entwickeln wollen, – wie dargelegt – von seiner Gegenwart aus in die nähere Vergangenheit zurückgreifen; aber wenn es um konkrete Füllung der Vorstellungen der Jahrhunderte mit den relevanten historischen Inhalten geht, müssen wir jene Richtung einschlagen, welche die Ereignisse und historischen Entwicklungen selbst genommen haben: Von der fernen Vergangenheit in die Gegenwart. Es ist darum keine Beliebigkeit, wenn man den systematischen Geschichtsunterricht in der höheren Mittelstufe mit der Urgeschichte beginnt.

Aus dieser Notwendigkeit erwächst der Schule ein Problem, an dem sie wohl immer schon litt und mit jedem Tag vermehrt leidet. Je mehr nämlich die Geschichtswissenschaft interessante Befunde der Vergangenheit aufdeckt, desto mehr Ursache haben wir, bei diesen Stoffen gemächlich zu verweilen – dies um so mehr, als alles Frühere die Grundlage für das Spätere abgibt und insofern elementar ist –, und desto sicherer wird der Fall eintreten, dass man sich dann als Geschichtslehrer so gegen die Französische Revolution hin zu beeilen beginnt, da schliesslich die beiden Weltkriege und ein Stück Gegenwartsgeschichte auch noch dazu kommen sollen… Hinzu kommt, dass jeder Tag neue historische Ereignisse schafft, weshalb jede neue Schülergeneration, wenn sie historisch á jour sein sollte, noch mehr lernen muss. So liesse sich der gesamte Geschichtsunterricht auf der Oberstufe ohne weiteres mit dem füllen, was zwischen meiner eigenen Jugendzeit und heute passiert ist. Die beklagte Stoff-Fülle wird also aus den beiden genannten Gründen immer grösser.

Seit Jahren suchen Geschichtsdidaktiker aus dieser Klemme einen Ausweg. Ehedem praktizierte man weitherum eine gewisse geographische Beschränkung, aber je mehr sich unser Blick durch die universalen Verknüpfungen unseres Lebens und durch die Massenkommunikation ausweitete, desto unhaltbarer wurde ein solches Beschränkungsprinzip. Martin Wagenschein empfahl eine exemplarische Beschränkung: Man sollte bei einzelnen Themen gründlich in die Tiefe gehen, so richtig Wurzeln schlagen oder – um ein anderes Bild zu wählen – Brückenpfeiler bauen, und dann dazwischen verbindende Bögen durch kurze, summarische Informationen schaffen. Wieder andere neigen zu einer Radikalkur: Alles vor der Französischen Revolution weglassen und sich so weit wie möglich auf Gegenwartsgeschichte konzentrieren. Angesichts der Tatsache, dass viele Schüler in ihrem Gang durch die abendländische Geschichte kaum ins 20. Jahrhundert herein kamen, ist ein solcher Gedanke verständlich; den Liebhaber der abendländischen Kultur vermag er aber auch nicht zu befriedigen.

Ein weiterer Versuch, der Stoff-Fülle Herr zu werden, ist die gegenwärtig von vielen propagierte Behandlung der Geschichte in „Längsschnitten“. Ausgangspunkt sind dann nicht mehr die heute in der Geschichtsschreibung als relevant geltenden Ereignisse in den vergangenen Jahrhunderten, sondern Phänomene der Gegenwart, deren historische Entwicklungslinien man dann durch die Jahrhunderte verfolgt. So könnte ein Thema „Bekleidung“ lauten, und dann wird man, wenn man es gründlich machen will, das Phänomen der menschlichen Bekleidung vom Höhlenbewohner her bis zur Gegenwart darstellen – eine zweifellos interessante Sache. Neben die Bekleidung können dann die Ess- und Trinksitten, der Wohnungsbau, der Geldverkehr, der Warentransport, die Verkehrsmittel, der Handel, die Güterproduktion, die Bewaffnung, die staatliche Organisation, das Bildungswesen, die religiösen Gepflogenheiten, die öffentliche Kommunikation, die Wissenschaften, die Künste und sonst noch vieles treten. Mit andern Worten: Man ist punkto Stoff-Fülle gleich weit, und zeigten sich die unvermeidlichen Lücken im traditionellen Geschichtsunterricht darin, dass ganze Jahrhunderte leer blieben, so erzeugen die Lücken der Längsschnitt-Methode die Vorstellung eines Menschseins, das bloss noch aus einzelnen der oben erwähnten Komponenten besteht.

Wenn ich die Längsschnitt-Methode für wenig brauchbar halte, so allerdings nicht bloss aus dem erwähnten Grund (denn dies ist kein Nachteil, der zu ihrem Wesen gehört, sondern sich lediglich aus ihrer unvollständigen Anwendung ergibt). Ich glaube vielmehr, dass man sich Illusionen macht, wenn man glaubt, man könne die geschichtliche Entwicklung eines Phänomens im Verlaufe der Jahrhunderte oder der kulturgeschichtlichen Epochen darstellen und verstehen, ohne bereits eine einigermassen tragfähige Vorstellung jener Epochen zu haben, mit denen man das einzelne Phänomen in Beziehung setzt. Wie soll ich z.B. sinnvoll von der Bekleidung der Römer, der Helvetier, der Alemannen, der Leute im Mittelalter, in der Renaissance, im Barock usf. reden, wenn diese Begriffe nicht viel umfassender bereits ausdifferenziert sind? Und wenn man mir zumuten würde, alle diese Begriffe im Rahmen des Themas „Bekleidung“ in den historisch noch wenig erfahrenen Kindern zu bilden, so reden wir im Geschichtsunterricht monatelang nur noch von Bekleidung, indem wir riesige Exkurse machen und gelegentlich wieder zum Thema zurückkehren. Mit andern Worten: Behandlung geschichtlicher Phänomene in Längsschnitten ist eine hoch interessante Sache für Menschen, die bereits über ein gewisses historisches Bewusstsein verfügen, eignet sich aber meines Erachtens nicht für den Aufbau eines historischen Bewusstseins. Der sinnvolle Umgang mit Längsschnitten setzt einen bereits vorhandenen Raster voraus, und dieser ist wohl kaum anders zu erzeugen als durch das Legen von „Querschnitten“. Ein solches „Querschnitt-Thema“ würde etwa lauten: Was heisst Renaissance? Wie lebten damals die Menschen, und welches sind die wichtigsten Ereignisse, die in jenem Jahrhundert vorgefallen sind?

Wenn man nun fragt, wie ich die Lösung des Problems sehe, nachdem mir die Längsschnitt-Methode nicht einleuchtet, muss ich sagen: Ich sehe keinen andern Weg als den Vorschlag Wagenscheins. Es gälte, da und dort exemplarisch in die Tiefe zu steigen und dazwischen verbindende Bögen (bestehend aus blossem Wissen, das man als besonders Interessierter später einmal vertiefen kann) zu schaffen. Als wichtigstes Anschauungsmittel dazu dient ein Geschichtsfries, der permanent ausgebaut wird.

Die Bedeutung der gemüthaften Anteilnahme und der Lehrererzählung

Seit über 10 Jahren führe ich mit den eintretenden Seminaristen Gespräche über ihren Geschichtsunterricht. Viele erlebten ihn als öde, langweilig und mühselig. Andere hingegen liessen sich für Geschichte erwärmen und begeistern und fanden, sie hätten einen guten Geschichtslehrer gehabt. Wenn ich dann jeweils den Gründen nachgehe und mir die Art des Geschichtsunterrichts beschreiben lasse, so stelle ich mit aller Regelmässigkeit fest: Als gute Geschichtsdidaktiker werden jene Lehrer erlebt, die von geschichtlichen Ereignissen spannend erzählen können. Als mühselig wird der Geschichtsunterricht dort empfunden, wo bloss irgendwelchen Papieren gedient wird, wo vorwiegend nackte Daten gebüffelt oder geschichtliche Probleme ausschliesslich rational besprochen werden. Gelegentlich gibt es auch Ausnahmen, aber der allgemeine Trend ist unzweideutig klar.

Eigentlich ist das ganz natürlich. Erstens liebt jeder gesunde Mensch spannende Geschichten, in denen Figuren agieren, mit denen er sich entweder gefühlsmässig identifizieren oder von denen er sich distanzieren kann, Geschichten also, die ihn in seiner Phantasie und in seinem Gemüt ansprechen. Zweitens bilden „Geschichten“ – wenn auch nicht nur Geschichten – das Elementare der Geschichtsschreibung.

Wenn ich an die grosse Bedeutung der Erzählung und der gemüthaften Anteilnahme im Geschichtsunterricht erinnere, so deshalb, weil ich aus meiner Warte feststelle, dass diese beiden Komponenten in der neueren Geschichtsdidaktik und in entsprechenden Lehrmitteln vernachlässigt werden und das rationale Element überwiegt. Selbstverständlich gehören rationale Erwägungen – das Diskutieren von Ursachen und Wirkungen, das Erklären geschichtlicher Ereignisse durch eigenes Denken – zu einem guten Geschichtsunterricht. Für problematisch halte ich dies erst dann, wenn dies alles bleibt und damit die farbige Erzählung geschichtlicher Ereignisse und die Schilderung vergangener Zustände, aber auch die gefühlsmässige Anteilnahme (Angst, Enttäuschung, Freude, Begeisterung, Hoffnung, Abscheu, Verehrung, Identifikation oder Distanzierung) vernachlässigt oder verunmöglicht werden.

Ich sehe zwei Gründe, weshalb ein einseitig rational ausgerichteter Geschichtsunterricht in der Volksschule nicht erfolgreich sein kann, nämlich einen sachlogischen und einen psychologischen:

  • Eine Behandlung geschichtlicher Ereignisse, die sich praktisch im Diskutieren von Gründen und erwarteten oder gar zwingenden Folgen erschöpft, ist (von meiner Warte aus) sachlich nicht gerechtfertigt. Dies würde nämlich grundsätzlich einen geschichtlichen Gang voraussetzen, der nach den Gesetzen der Logik und damit einigermassen zwingend und berechenbar abläuft. Diese Annahme ist der Ausdruck einer bestimmten Geschichtsphilosophie, die ich – wie im zu Beginn erwähnten Aufsatz bereits dargelegt – so nicht teile. Geht man nämlich von der Möglichkeit der freien Entscheidung einzelner Menschen aus, so wird verständlich, dass sich in der Geschichte vieles absolut nicht in zwingender Weise logisch ereignet und darum überhaupt nicht voraussehbar ist, sondern erst – in der ordnenden Geschichtsschreibung und -Interpretation – im Nachhinein logisch wird. Was z.B. jetzt im Nahen Osten oder im ehemaligen Jugoslawien passiert, ist zwar in seinen Abläufen verständlich, d. h. logisch nachvollziehbar, aber andere Entwicklungen könnten, wenn sie einträten, als ebenso folgerichtig empfunden werden.
  • Unter entwicklungspsychologischer Sicht ist jede rein rationale Beschäftigung mit einem Lerngegenstand in der Volksschule (und insbesondere in der Primarschule) verfehlt. Das Kind bis hin zur Pubertät (und zumeist auch noch weit darüber hinaus) hat gar nicht die Möglichkeit, sich mit einer Sache bloss gedanklich zu verbinden. Es ist daher töricht, jene Gefühls- und Fantasie-Erlebnisse, die die Beschäftigung mit der Geschichte grundsätzlich ermöglichen, nicht aufkommen zu lassen. Demzufolge drängt es sich auch auf, mehr die Schicksale einzelner Menschen oder Gruppen als allgemeine, abstrakt formulierte historische Entwicklungslinien ins Zentrum des Unterrichts zu stellen. Der elementare Geschichtsunterricht in der Volksschule darf sich in seiner gesamten Gestaltung durchaus klar und eindeutig von jenem unterscheiden, der für angehende Historiker im Rahmen ihres Fachstudiums angemessen ist.

Einige didaktische Anregungen

Aus all diesen Erwägungen leite ich die geschichtsdidaktische Forderung ab, dass die Lehrererzählung, welche die Kinder im Gemüt anspricht, das Rückgrat des Geschichtsunterrichts bilden soll. Die Fertigkeit des Erzählens ist eine Kunst, die ein Lehrer lebenslang üben und verbessern kann. Ein wesentliches Element ist das Konkretisieren. Vieles ist in den Unterlagen des Lehrers (Geschichtsbücher) bloss abstrakt, gedanklich dargelegt, und es gehört zu seinem Geschick, dies in konkrete Geschehnisse und Bilder umwandeln zu können. Ganz allgemein lässt sich sagen: Je mehr sich der Lehrer selbst in den Stoff vertieft und ihn in möglichster Klarheit verinnerlicht hat, desto besser gelingt ihm das farbige, anschauliche Erzählen. Es lohnt sich auch, sich die mit einigem Aufwand die geeigneten Hilfen zu beschaffen. Didaktische Zentren und Bibliotheken sind einem gerne behilflich, und es ist auch empfehlenswert, sich den Rat erfahrener Kollegen einzuholen.

Um die Lehrererzählung herum soll sich alles andere gruppieren, nämlich Vertiefen des Stoffs durch:

  • Nacherzählung
  • Präsentation von Anschauungsmaterial: Bilder, Modelle, originale Gegenstände
  • zusätzliche Lektüre: Geschichtsbuch, historische Quellentexte, historisierende Erzählungen, historischer Roman
  • eigenes schriftliches Ausformulieren (Heftführung, Aufsatzunterricht)
  • Zeichnen und graphische Darstellungen
  • Dramatisieren
  • vertiefende Diskussionen (Gruppen, Klasse) über Ursachen, Zusammenhänge, Wirkungen, Bewertungen
  • Exkursionen, Besuche von Museen.

Alle die erwähnten Aktivitäten sind Formen der Übung. Auch im Geschichtsunterricht muss – wie überall – intensiv geübt werden. Möglichst vielfältige Lernkontrollen sollen dem Schüler die Möglichkeit geben, seinen Lernfortschritt zu zeigen, und sollen dem Lehrer als Hinweise für die Effizienz seines Unterrichts dienen.

Ein Wort gegen das schlechte Gewissen

Ein Lehrer, der das oben aufgeführte didaktische Instrumentarium im Rahmen einer stofflichen Einheit ausschöpft, wird feststellen, dass dies alles viel Zeit erfordert. Wenn man alles behandeln will, was in einzelnen (nicht allen) Lehrplänen und Lehrmitteln aufgeführt ist, so lässt sich dies nur oberflächlich machen. Wir Lehrer stehen darum immer vor der Wahl: Soll ich mich dem Druck, in die Breite zu gehen, fügen und vieles oberflächlich behandeln, oder soll ich weniges auswählen und dies gründlich (exemplarisch) behandeln. Wirkliche Bildung kann nur auf die zweite Art entstehen, weshalb man sich das schlechte Gewissen ersparen sollte, sofern man während allen Geschichtsstunden intensiv gearbeitet hat.

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