Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier
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Die Erwägungen des letzten Kapitels sind im Wesentlichen auf den Lehrer bzw. Erzieher konzentriert: Es geht um seine Autorität, um seine richtige Einstellung zur Macht. Der Autorität des Erwachsenen entspricht auf Seiten des Kindes bzw. Jugendlichen der Gehorsam. Auch dieser Begriff löst heutzutage – ähnlich wie ‚Macht‘ bzw. ‚Autorität‘ – bei vielen Missmut, Ablehnung, Aggressionen aus, obwohl jeder praktizierende Lehrer oder Erzieher den Gehorsam der Schüler oder zu erziehenden jungen Menschen beinahe ununterbrochen erwartet, weil ein Grossteil seiner Massnahmen auf der Gehorsamsbereitschaft der ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen gründet. Ich möchte daher versuchen, zur nüchternen Beurteilung des Gehorsams dadurch etwas beizutragen, dass ich mir Gedanken mache über dessen anthropologische Bedeutung, das heisst: über das Wesen des Gehorsams im Rahmen des gesamten Menschseins.

Die Gestaltpsychologie und die Phänomenologie zu Beginn unseres Jahrhunderts haben unser Bewusstsein für die Tatsache geschärft, dass wir Menschen im Insgesamt unserer Wahrnehmungen durchaus nicht einem Chaos zusammenhangloser Reize ausgesetzt sind, sondern dass das Wahrnehmen an sich immer schon ein Deuten dessen ist, was wir als ‚Welt‘ (d.h. als ,Nicht-Ich‘) erfahren oder – vielleicht noch etwas pointierter ausgedrückt – dass sich ein wahrnehmendes Subjekt eben erst in der deutenden Wahrnehmung die Welt schafft. Ein wesentliches Merkmal dieser deutenden Reizverarbeitung besteht darin, dass wir die ‚Gegenstände‘ unseres Wahrnehmungsfeldes nicht als isoliert bestehende Tatbestände wahrnehmen, sondern als in irgend einer Weise sinnvoll aufeinander zugeordnet. Die jeweilige Struktur von Bedeutungen, auf die wir uns in einem Lebensaugenblick wahrnehmend, erlebend und auch handelnd beziehen, lässt sich als ‚Situation‘ bezeichnen. Es ist fast sinnlos, dazu einige Beispiele zu machen, weil sich eben letztlich jeder Existenzvollzug, der sich sprachlich oder erlebnismässig aus dem Strom unseres Lebens herausheben lässt, in einem als ‚Situation‘ zu bezeichnenden Bedeutungsgefüge abspielt: Wir warten vor einer besetzten Telefonkabine, wir arbeiten im Garten, wir geraten in einen Verkehrsunfall, wir besuchen eine Ausstellung, wir stehen vor einem Bild etc. etc. Die beiden letzten Beispiele zeigen, dass wir durch Umstellung unserer Aufmerksamkeit auf einen weiteren oder engeren Bereich immer gleichzeitig auch die Situation neu definieren, auf deren Hintergrund sich unser Erleben abspielt.

Ich habe hier diese grundlegenden Erwägungen vorgetragen, weil sie in einem logischen Zusammenhang stehen mit dem Wesen des Gehorsams. Wir sehen uns nämlich den jeweiligen Situationen, in denen wir uns als handelnde Subjekte erleben, nicht indifferent gegenüber gestellt, sondern erfahren die jeweils massgebende Situation als einen Tatbestand, der an uns einen Anspruch stellt. In welchem Masse diese Ansprüche gesellschaftlich vermittelt, d.h. anerzogen sind, ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang. Es geht hier lediglich um die Erkenntnis, dass wir uns mit aller Selbstverständlichkeit bei der Wahrnehmung bzw. Definition einer Situation dem Anspruch ausgesetzt fühlen, sich an jene Verhaltensregeln zu halten, die untrennbar mit dem Wesen der jeweils erlebten Situation verbunden sind. So gebietet ein stiller Kirchenraum Schweigen oder zumindest leises Sprechen, schickliche Kleidung und gemessene Bewegungen. Ganz andere Aufforderungen gehen aus von einer Discothek, einem Strandbad, einem Bürotisch, einem Waldweg, einer Küche kurz nach dem Essen oder einer steilen Felswand. Das Leben des einzelnen Menschen, aber auch das gesellige Zusammenleben wird in höchstem Masse dadurch angeregt und gesteuert, dass man sich – meist ohne es zu bemerken – mit aller Selbstverständlichkeit dem Anspruch, den eine Situation stellt, unterzieht. Mit andern Worten: Es ist das Normalste der Welt, dass wir uns situationsgerecht verhalten. Oder noch anders ausgedrückt: Wir gehorchen dem Anspruch, der durch die Wahrnehmung einer bestimmten Situation mitgegeben ist. Damit wird eine Situation zur Autorität, der wir uns in den weitaus meisten Fällen fügen. Darum ist Gehorsam – verstanden als die Ausrichtung des eigenen Handelns nach einer Autorität, die durchaus nicht personal sein muss – auch für den erwachsenen Menschen beinahe so selbstverständlich wie das Atmen und Essen. Dementsprechend ist nicht situationsgerechtes Verhalten gleichzusetzen mit existentiellem Ungehorsam. So sind etwa Menschen im eigentlichen Sinne ungehorsam, die auf einem gefährlichen, abschüssigen Gelände herumalbern, kopflos und ohne auf den Verkehr zu achten auf eine belebte Strasse rennen, gefährliche Chemikalien in den Greifbereich kleiner Kinder stellen, Abfälle im Wald entsorgen oder durch lästiges Schäkern die Andacht betender Kirchenbesucher stören.

Man kann sich natürlich fragen, weshalb der Mensch so ohne Weiteres zu gehorchen bereit ist. Dafür sind wohl zwei Gründe ausschlaggebend: Erstens projizieren wir häufig die Regeln selber in die Situation hinein, weshalb sie mit unseren Wertvorstellungen übereinstimmen und es uns daher als gut und vernünftig erscheint, sich an sie zu halten; und zweitens zieht die Missachtung der situationsgemässen Regeln oft genug auch missliebige Konsequenzen nach sich: Man verunglückt, fällt unangenehm auf, bleibt erfolglos, wird abgelehnt, getadelt, allenfalls auch gebüsst oder bestraft, und all dies erzeugt schmerzende Gefühle.

Neben diesen psychologischen Gründen für den alltäglichen Gehorsam der Menschen gilt es aber auch dessen wesentlichen Sinn zu bedenken: Die Möglichkeiten der Kommunikation und des gesellschaftlichen Handelns hängen weitgehend daran, dass in einer bestimmten Gesellschaft unzählige Situationen als einigermassen identisch wahrgenommen werden. Wäre dies nicht der Fall, erlebte sich jeder isoliert in seiner eigenen Welt. Erst die Tatsache, dass sich die meisten Menschen situationsgerecht verhalten, macht das gesellige Zusammenleben erträglich. Würden sich nicht die allermeisten Menschen mit grosser Selbstverständlichkeit situationsgerecht verhalten, so gliche unsere Welt einem Tollhaus, dessen Wirken darin bestünde, den Einzelnen noch verrückter zu machen als er allenfalls schon ist. Oder etwas milder ausgedrückt: Das von den meisten Menschen nicht hinterfragte situationsgerechte Verhalten garantiert jenen unverzichtbaren Grundbestand an Selbstverständlichkeit, auf dessen Hintergrund sich eine bewusste Lebenskultur erst eigentlich gestalten lässt.

Damit ist freilich noch nichts darüber ausgesagt, ob und inwieweit im Einzelfall die Beachtung der situationsgemässen Regeln auch moralisch gut ist. Es gibt nämlich viele Situationen, die dem Einzelnen ein Verhalten als konform nahelegen, das unter höheren Gesichtspunkten als verwerflich zu taxieren ist. Man beobachte etwa das Verhalten einzelner Individuen, wenn der eigene Club verloren hat, wenn ein Grossteil der Gruppenmitglieder betrunken ist oder Drogen konsumiert, wenn eine Strassenschlacht im Gange ist oder wenn eine Kriegsrotte mordend, brennend und vergewaltigend von Dorf zu Dorf zieht. Da geschehen Dinge, die jene, die sie tun, selbst nicht mehr verstehen, sobald sie der destruktiven Situation entronnen sind. Angesichts dieses Tatbestands ist es eine Aufgabe der Erziehung, so auf den heranwachsenden Menschen einzuwirken, dass er überall dort, wo situationsgemässes Verhalten lebensfördernd und moralisch unbedenklich ist, zur Einhaltung der Regeln neigt, aber andererseits den Gehorsam gegenüber den herrschenden Regeln dort verweigert, wo ihn die Suggestion einer Situation zu destruktivem und moralisch verwerflichem Verhalten verleiten möchte.

Damit ist nun die Erziehung und somit auch der Gehorsam in Schule und Familie zur Sprache gebracht. Auf dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen wird deutlich, dass es dann, wenn der verantwortungsbewusste Erzieher vom jungen Menschen Gehorsam verlangt, überhaupt nicht um seine eigene Macht – gewissermassen die Macht des Stärkeren – geht, sondern dass seine personale Macht (wenn möglich im Sinne der echten Autorität; siehe voriges Kapitel) wirksam wird, damit der junge Mensch lernt, die tragenden Regeln einer Situation zu erkennen und sich – soweit diese moralisch verpflichtend sind – an sie zu halten. Eine Autorität, die Gehorsam fordert, tritt somit im Wesentlichen als Hüterin der lebensregelnden Situation auf. So schreitet denn eben ein Lehrer ein, wenn Rechnen angesagt ist und der Köbi aus dem Arbeitsblatt einen Papierflieger macht und ihn über die Köpfe der rechnenden Mitschüler fliegen lässt. Dasselbe Verhalten kann gleich in der nächsten Stunde, im Werken, am Platze und erwünscht sein – eben je nach Situation.

Hätte ich heute eine Schulklasse zu führen, würde ich mit ihr über das, was ich hier ausführte, immer wieder reden. Ich würde meinen Schülern immer wieder in Erinnerung rufen, wie ich als Erwachsener – mit allen andern – vom Morgen bis zum Abend mit selbstverständlichem Gehorsam auf die Anforderungen einer Situation antworte und dass das Gehorchen-Müssen nicht etwas ist, das man als Erwachsener endlich ablegen kann, sondern umgekehrt: dass das Gehorchen-Können zum Wesen des verantwortungsbewussten Erwachsenen gehört.

Wie immer, ist auch diese Sicht bloss die eine Seite der Medaille. So gibt es immer wieder gute Gründe, sich der Suggestion irgendeiner Situation zu entziehen und sich rebellisch oder als Revolutionär zu verhalten. Ein Mensch, der sich zu solchem Tun entschliesst, sollte indessen – wenn er ernst genommen werden will – über die blosse Unfähigkeit, gehorchen zu können, aber auch über den blossen eigensinnigen Trotz und die dem blanken Egoismus entsprungene Verweigerung hinausgekommen sein, und das kann er nur, wenn er durch die Erziehung das Primäre und Selbstverständliche – nämlich sich situationsgerecht verhalten zu können – gelernt hat. Auch kann es unmöglich die prinzipielle Aufgabe der Erziehung sein, die jungen Menschen gegen jede Anpassung an gesellschaftliche Konventionen aufzureizen, da man damit wohl kaum etwas anderes erreichte als die verinnerlichte Verwechslung von Aufrührertum und asozialer Verweigerung mit wirklicher Autonomie.

Nach meinem Versuch, den Gehorsam in einen weiteren, anthropologischen Zusammenhang zu stellen, gilt es nun (nochmals) zu verdeutlichen, welche Beziehung zwischen Gehorsam auf der einen und Schulpädagogik bzw. Qualitätssteigerung auf der andern Seite besteht. Neben der bereits erwähnten Zielsetzung, in den heranwachsenden Menschen den Sinn für den Gehorsam als situationsgerechtes Verhalten zu entwickeln und sie so auf das Erwachsenendasein vorzubereiten, ist der Gehorsam in zweierlei Hinsicht eine notwendige Voraussetzung für Bildung:

  • Vorerst ist der Gehorsam ganz einfach die Bedingung, dass Unterricht überhaupt organisiert werden kann. Das ist so selbstverständlich, dass darüber nichts Weiteres gesagt werden muss.

  • Wesentlich entscheidender ist aber der Gehorsam als seelische Grundhaltung, damit Bildung als Umgestaltung, Entwicklung und Erweiterung der Schülerpersönlichkeit im eigentlichen Sinne geschehen kann. Wie gezeigt wurde, ist Gehorsam die Bereitschaft, sich in sachliche Erfordernisse einzulassen und sich in sie hineinzuverfügen. Genau das aber ist nötig, um überhaupt etwas zu lernen. Deshalb ist – neben mangelnder Lernbegabung – der Eigensinn eines der Haupthindernisse für erwünschten Bildungserfolg. Leider wird der Eigensinn beim Kind oft als Eigenwille oder Eigenständigkeit missdeutet. Diese sind selbstverständlich erwünscht und darum pädagogisch zu fördern. Im Gegensatz zu ihnen aber ist der Eigensinn nicht sachlich begründet und immer destruktiv. Bei ihm geht es – wider jede Logik und jedes sachliche Erfordernis – um die Verweigerung oder allenfalls ums Anders-Machen oder Anders-Sein als Prinzip im Sinne einer fatalen kompensatorischen Selbstbehauptung. Gelingt es nicht, den Eigensinn zu erkennen und ihn – mit viel Geduld und Verständnis – allmählich zu überwinden, artet er aus in Starrsinn und schliesslich in vollendete Sturheit. Solche Menschen sind dann gegenüber jeder Objektivität verschlossen, oder, wie der Schweizer sagt, „zu“. Es handelt sich also dabei exakt um das Gegenteil von dem, was im Mosaikstein Nr. 6 als wesentliche Voraussetzung für Bildung dargestellt ist: Offenheit.
    Dieser Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit zum Gehorsam und der Unfähigkeit, richtig zu lernen, wurde mir einmal auf einem Schulbesuch von einem Unterstufen-Schüler drastisch vor Augen geführt. Dessen Eltern hingen der sog. antiautoritären Erziehung an und waren strikte dagegen, von einem Kind irgend etwas zu verlangen, was nicht aus ihm selbst herauskam. Nun war in der Stunde Rechnen angesagt, es wurde geschrieben, und ich sah, dass der Schüler zu keinem brauchbaren Ergebnis kam. Aufgrund der hingeschriebenen Resultate war mir sofort klar, dass sowohl die grundlegenden Zahlbegriffe wie auch das Wesen der Operationen nicht gefestigt waren. Ich versuchte ihm im Einverständnis mit der Lehrerin beizustehen, indem ich ihn durch Anschauung und Handeln zur richtigen Einsicht zu führen gedachte. Aber es war nicht möglich, einen Fortschritt zu erzielen, da er keine Bereitschaft zeigte, sich auf Tätigkeiten oder Gedankengänge einzulassen, die ihm von aussen zugemutet wurden. Er beharrte eigensinnig auf seinen falschen „Lösungen“ und gab unzweideutig zu verstehen, dass das, was er wollte, richtig sein müsse, und zwar einfach darum, weil er es wollte.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die Fähigkeit zum Gehorsam ist nicht bloss ein Erziehungsziel hinsichtlich der Möglichkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens und auch nicht nur eine Voraussetzung, dass Unterricht organisiert werden kann, sondern ist darüber hinaus jene Grundgestimmtheit der Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, die Lernen, Bildung und insbesondere Bildungsqualität erst möglich machen. Demgegenüber bilden Verweigerung des Neuen und Anderen, Eigensinn, Starrsinn und schliesslich Sturheit grundsätzliche Lern- und Bildungshindernisse, die es im Ansatz zu erkennen gilt und auf die man mit psychologisch begründeter Pädagogik eingehen muss.

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