Arthur Brühlmeier

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Pestalozzi neu entdeckt fürs Gymnasium

In zweierlei Hinsicht gebührt Pestalozzi ein Platz im Gymnasium.

Erstens: Den Begriff „humanistische Bildung“ braucht Pestalozzi nicht; er spricht von „Menschenbildung“. Das Postulat einer „humanistischen Bildung“ Humboldtscher Prägung dreht sich stark um Inhalte, um bildende Inhalte. Anders Pestalozzi. Ihm geht es um das Menschliche des Bildungsprozesses. Ihn interessiert weniger das Was, aber sehr zentral das Wie. Wirklich bildend in seinem Sinne ist eine Beschäftigung mit einem Lerninhalt erst dann, wenn es gründlich geschieht, wenn auch das kleinste Detail nicht unverstanden bleibt, wenn überall nach den Wurzeln gegraben, wenn Stein auf Stein logisch aufeinandergesetzt wird und wenn alle, Schüler (siehe Anmerkung 1 am Textende) und Lehrer, mit ihrem ganzen Wesen, mit „Kopf, Herz und Hand“, bei der Sache sind, sich also von dem ergreifen lassen, was sie geistig in die Hände nehmen, und es als wesentlich, als lebenswert, ja, als liebenswert erfahren. „Nur das, was den Menschen in der Gemeinkraft der Menschennatur, d.h. als Herz, Geist und Hand ergreift, nur das ist für ihn wirklich, wahrhaft und naturgemäss bildend“ (sämtliche Werke, Band 28, S. 58). Als Ertrag einer so verstandenen Bildung resultieren, nebst spezifischen Wissensinhalten und Fertigkeiten, in erster Linie „entwickelte Kräfte“, Dispositionen zur eigenständigen Bewältigung der anfallenden Lebensprobleme.

Man nehme – als Beispiel – die Sprache. Gewiss ist es wünschenswert, Regeln der Syntax verstanden zu haben, Versmasse und Reimmuster eines Gedichtes zu kennen, den Inhalt eines Romans wiedergeben oder klassische von romantischen oder neuzeitlichen Texten unterscheiden zu können. Nur macht dies allein noch niemanden glücklich. Doch menschliche Bildung soll glücklich machen, sie soll das Erlebnis des inneren Bereichertseins, des Erfülltseins gewährleisten. Deshalb erschöpfen sich die Ziele eines guten Sprachunterrichts nicht im blossen Verstehen, was zwar schon viel ist, sondern greifen weiter: zum Empfinden, zum Gernhaben, zum Gerntunwollen. Ein guter Sprachunterricht hilft dem Schüler, ein Gedicht nicht bloss (das auch) inhaltlich verstehen, literaturgeschichtlich einordnen und technisch analysieren zu können, sondern mit seiner Seele in den Klang, in die Innenwelt eines sprachlichen Kunstwerks einzuschwingen, dieses von seinem eigenen Wesen her zu erleben, es als Schatz ins Leben mitzunehmen. Der Schüler soll nicht bloss ein paar gewichtige Bücher kennen lernen, sondern von ihnen auch beeindruckt oder ergriffen werden, so dass er sich lebenslang als empfindsamer und kompetenter Leser gerne durch die Denk- und Gefühlswelt anderer Menschen bereichern lässt. Er soll nicht bloss um guter Noten willen ein paar lesenswerte Aufsätze schreiben, sondern das Beglückende und Bereichernde des eigenen Schreibens derart erfahren, dass er es gerne auch weiterhin pflegt.

Oder nehmen Sie die Physik. Was bringt es, befriedigende Noten erzielt zu haben, indem man die Aufgaben der Physikprüfungen mehr oder weniger korrekt lösen konnte, dabei aber seine Wahrnehmung, sein Alltagsbewusstsein nicht im eigentlichen Sinne naturwissenschaftlich gebildet hat? Nur wenn dies wirklich geschehen ist, wird alles, was einem begegnet, immer wieder fragwürdig, des Fragens würdig, und man erkennt in tausend Alltagssituationen, wie das Verhalten der materiellen Welt mathematisch erfassbaren Gesetzmässigkeiten folgt. Weshalb möchte sich bei der Warmduscherei der Vorhang an die Unterschenkel schmiegen? Weshalb brauchen die Satelliten keinen Antrieb? Weshalb tönt das „Dü-da-dü“ der Ambulanz höher, wenn sie kommt, als wenn sie geht? Weshalb schwingt ein Fensterflügel bei einem bestimmten Luftzug rhythmisch hin und her? Weshalb finde ich nach meiner Bergwanderung die leere Pet-Flasche eingedrückt in meinem Rucksack? Weshalb fliegt überhaupt ein Flugzeug? Ich muss das alles nicht durchrechnen können, aber ein guter Physikunterricht in Pestalozzischer Prägung hat mich beobachten, fragen und verstehen gelehrt. Physik ist dann kein Fach, von dem ich nach der Matura gewiss nichts mehr wissen will, weil ich mich schliesslich für ein Linguistik-, Jura- oder Psychologiestudium entschlossen habe. Physikalisches Denken und Fragen, verbunden mit physikalischen Kenntnissen, die man wirklich eingesehen hat, ermöglichen den verstehenden Zugang zur materiellen Welt.

Selbststudium, selbstgesteuertes Lernen, alles selber herausfinden können, ist heute Trumpf. Der Lehrer soll Organisator von Lernsituationen sein, soll als Person zurücktreten, soll ja nicht belehren wollen. So will’s die derzeitige Ideologie. Frontalunterricht ist beinahe unmoralisch. Aber Pestalozzi sieht das anders. „Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, nur von Herz zu Herz menschlich“ (Sämtliche Werke,  Band 24A, S. 19). Die Ernsthaftigkeit, Intensität und emotionale Beteiligung, mit welcher sich der Lehrer selber mit dem Lerninhalt auseinandergesetzt und seelisch-geistig verbunden hat, seine eigene Betroffenheit, seine eigene Übersicht über das Lerngebiet ergreifen den Schüler in dessen eigenem Wesen, regen ihn an und sind ihm eine unverzichtbare Hilfe. Bildung ereignet sich letztlich in einem geheimnisvollen Netz von Beziehungen: emotionalen Beziehungen zum Lerngegenstand bei beiden, Lehrern und Schülern, aber auch mitmenschlichen Beziehungen zwischen Lehrer, Schülern und Mitschülern. Lernen ist keine reine Privatsache im Sinne von „Ich und der Computer“, Lernen ist Austausch, Teilhabe, Gemeinschaftserleben.

Zweitens: Pestalozzis Wirken und Hinterlassenschaft gehört als Lerninhalt in die Gymnasien, insbesondere in schweizerische und allen voran in aargauische. Pestalozzi hat ja nicht nur mit dem Bau des Neuhofs seinen Familiensitz im heute aargauischen Birr errichtet und dort seine ersten agrarischen, gewerblichen, sozialpädagogischen und pädagogischen Versuche unternommen und wichtigste philosophische, politische und literarische Werke verfasst, sondern wurde ein Jahr vor seinem Tod 1826 zum aargauischen Ehrenbürger erkoren. Abgesehen vom kurzlebigen Ruf hervorragender Sportler, dürfte Heinrich Pestalozzi der weltweit bekannteste Schweizer sein. Trotzdem weiss ein Grossteil unserer Landsleute, auch wenn sie Mittel- und Hochschulen erfolgreich durchlaufen haben, von seinem Wirken nur sehr wenig und von seinen Ideen – ausser der meist gedankenlos eingebrachten Formel „Kopf, Herz und Hand“ – so gut wie nichts.

Das hat verschiedene Gründe: Bei der früheren gymnasialen Organisation fiel Pestalozzi durch die Maschen unseres traditionellen Fächerkanons. Niemand fühlte sich so recht zuständig: In der Geschichte ist die Stoffmenge derart erdrückend, dass kaum Zeit bleibt, sich beim Wirken einzelner Persönlichkeiten, insbesondere solcher, die nur mittelbar auf den Lauf der politischen Ereignisse eingewirkt haben, zu verweilen. Geht es um die Bedeutung von Sozialreformern, vermag sich Pestalozzi gegenüber andern grossen Namen kaum zu behaupten. Im Fach Deutsch hätte er einen Platz finden können, doch er selbst verstand seine literarischen Erzeugnisse – den Roman „Lienhard und Gertrud“, einige kleinere dramatische Versuche und einen Band mit über 260 Fabeln – nicht als Beitrag zur zeitgenössischen Literatur, sondern als politische Agitation. Er wollte wirken, Ästhetik lag ihm fern, und wenn sie da ist, ist sie ihm gewissermassen passiert.

Nun aber kann Pestalozzi seinen Platz finden im Schwerpunktfach PPP (Philosophie, Pädagogik, Psychologie), denn tatsächlich hat er uns als grosser Denker, der er war, nicht nur eine konsistente Erziehungs- und Bildungstheorie, sondern insbesondere auch eine hoch interessante Anthropologie hinterlassen. Ausgehend von den allgemein erlebbaren und kaum widerlegbaren Widersprüchen des menschlichen Daseins, zeigt er deren Ursachen und teilweise Unvermeidbarkeit, auch deren Sinn und die möglichen Wege zu deren Überwindung. Im Zuge dieser Analyse erhellt er die Grundzüge des menschlichen Wesens und Daseins und wirft er ein Licht auf die wahre Bestimmung des Menschen: die Entwicklung seiner eigenen Menschlichkeit. Das allerdings, eben die Überzeugung, dass der Mensch eine Bestimmung habe, mag möglicherweise ein weiterer Grund sein, weshalb man ihm lieber aus dem Wege geht.

Als ein schwerer wiegendes Hindernis, sich mit Pestalozzi ernsthaft zu befassen, erweist sich seine Sprache. Eigentlich hätte er es gekonnt, so zu schreiben, dass er allgemein verstanden wird, denn das zeigen die beiden ersten Bände von „Lienhard und Gertrud“ oder „Christoph und Else“, in welchem Werk er die Intentionen seines Romans auszudeutschen versucht. Aber in seinen theoretischen Schriften wirkt er sehr umständlich mit seiner eigenwilligen Terminologie und oft auch formelhaften Ausdrucksweise. Seine sperrige Syntax zeugt davon, dass er beim Schreiben von einem wahren Gedankensturm heimgesucht wird, den er dann unbedingt in einem einzigen komplexen Schachtelsatz sprachlich dingfest zu machen versucht. Ein solches Satzungeheuer kann gelegentlich fast eine Buchseite beanspruchen, und da sitzt dann auch der Fachmann ein halbe Stunde über der Arbeit, um herauszufinden, was sich auf was bezieht und was Pestalozzi wirklich sagen will. Würde man solches den Gymnasiasten im Original vorlegen, wären sie mehrheitlich glatt überfordert und verginge ihnen auch die Lust, sich weiterhin und in der erforderlichen Intensität mit Pestalozzis Ideen auseinanderzusetzen.

In didaktischer Hinsicht besteht somit meines Erachtens nur dann eine Aussicht auf Erfolg, wenn sich der Fachlehrer selber in die einschlägige Primär- und Sekundärliteratur einliest, dabei Wesentliches von Unwesentlichem scheidet, um im Rahmen des Klassenunterrichts Pestalozzis Philosophie und Erziehungstheorie, allenfalls auch seine theologischen, sozialpolitischen und ökonomischen Gedankengänge, selber übersichtlich und verständlich darzulegen. Dabei können gewisse Kernstellen, deren es viele, auch leichter verständliche, gibt, als Diskussionsgrundlage, Denkanstösse oder Zusammenfassungen Verwendung finden. Ein ganzes Werk Pestalozzis mit einer Gymnasialklasse so lesen zu wollen, dass es nicht bei oberflächlicher Halbbildung bleibt, halte ich angesichts der knappen Zeit, unter welcher wohl alle Fachlehrer leiden, für unmöglich. Ich habe daher selbst bei verschiedenen Anlässen mehrere Texte verfasst, in welchen ich Pestalozzis Grundgedanken allgemein verständlich darstelle (siehe hier unter „Lehrtexte“), und meines Erachtens ist es legitim, angesichts der hier dargelegten Schwierigkeiten auf solche Vorarbeiten zurückzugreifen. Ich schlage daher vor, dass Pestalozzis Wirken und Denken im Geschichtsunterricht, den alle besuchen, summarisch dargestellt wird, dass man aber im Schwerpunktfach PPP sowie im Ergänzungsfach PP Pestalozzis Erziehungsphilosophie und Anthropologie in gebührender Gründlichkeit behandelt. Dann werden die Schüler auch erkennen, in welchem Masse Pestalozzis Ideen allenfalls eine Hilfe sein können, um erzieherische Aufgaben besser bewältigen und komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge besser verstehen zu können.

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