Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier
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Pestalozzis ‚Nachforschungen‘ –
ein Gegenstand der Lehrerbildung?

Pestalozzis philosophisches Hauptwerk ‚Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts‘, 1797 im Druck erschienen und in der Kritischen Gesamtausgabe die ersten 166 Seiten des 12. Bandes beanspruchend, ist hierzulande kaum im Bewusstsein der gebildeten Schicht präsent, weshalb die Frage, inwiefern es sich rechtfertige, dieses Werk im Rahmen der Lehrerbildung zu behandeln, als fast überflüssig erscheint. Dies gilt um so mehr, als im Pestalozzi-Jahr einzelne Autoren die Ansicht vertraten, Pestalozzis Gedankenwelt gehöre der Vergangenheit an, sei deshalb bloss noch von historischem Interesse und ohne Bedeutung für die Bewältigung gegenwärtiger Probleme (vgl. This Wachter, Pestalozzi hilft nicht, in SLZ 7/97, S. 22). Da indessen das Gedankengut der ‚Nachforschungen‘ in meiner eigenen, etwa 25 Jahre dauernden Lehrerbildungs-Praxis so etwas wie das Rückgrat bildete, gebe ich hier (nachdem ich den Schuldienst quittiert habe) gerne Rechenschaft darüber, was mich zu dieser hohen Bewertung von Pestalozzis Anthropologie bewog.

Vorerst möchte ich festhalten: Es gibt keine Instanz, die objektiv zu entscheiden befugt wäre, welche Gedanken lebenswirksam werden dürfen oder sollen. Ob sich jemand in seinem Denken auch heute noch von Pestalozzis Ideen anregen und bereichern lassen will, ist ganz seine Freiheit, und ebenso ist es die Freiheit eines Lehrerbildners, jene Ideen oder Werke als bildend zu erachten, die ihm einleuchten und als hilfreich erscheinen. Dementsprechend vertrete ich hier nicht die Position, Pestalozzis ‚Nachforschungen‘ seien – objektiv betrachtet – für die Lehrerbildung von zentraler Bedeutung, sondern ich kann lediglich als Einzelner einsichtig zu machen versuchen, weshalb ich dieses Werk in meiner Praxis zum Bildungsgegenstand erhob.

Pestalozzis ‚Nachforschungen‘ als Bildungsgegenstand?

Zuerst sei auf eine Schwierigkeit hingewiesen, die manch gut gemeinten Versuch scheitern lassen könnte: Es ist schlicht unmöglich, mit einer Lerngruppe Pestalozzis ‚Nachforschungen‘ als ganzes Werk zu lesen. Die Materie ist voll grundsätzlicher Probleme und gibt zu den weitläufigsten Diskussionen Anlass, weshalb man, will man nicht pfuschen, pro Stunde kaum eine ganze Seite schaffen würde. Man muss also in jedem Falle die tragenden Kernstellen auswählen und insbesondere selber als einer, der über Pestalozzis Gedanken-Instrument frei verfügt, aufzeigen können, wie fruchtbar dieser Ansatz sein kann für das Verständnis gegenwärtiger Probleme. Das setzt voraus, dass man sich als Lehrerbildner intensiv in die Materie hineingedacht hat – ein Vorgang übrigens, der erfahrungsgemäss in jeder Diskussion mit Studenten neue Nahrung erhält. Im meiner Praxis hat es sich zudem bewährt, dass ich für die Studenten jeweils eine eigene abrisshafte Darstellung der grundlegenden Gedanken verfasst habe.

Ich gebe zu, dass mir der Aufwand zu gross wäre, im Rahmen der Lehrerbildung dieses philosophische Werk bloss sachlich analysierend zu behandeln. Ich wollte mehr: nämlich dem künftigen Lehrer ein Instrument in die Hand geben, mit Hilfe dessen er sich selbst, seine Mitwelt und insbesondere auch alle sozialen Komplikationen besser verstehen kann, um schliesslich besser mit den Widersprüchen menschlicher Existenz umgehen und damit seinem eigenen persönlichen und beruflichen Leben einen tieferen Sinn geben zu können. Ich übte daher mit den Studenten stets auch die Anwendung von Pestalozzis Denken auf gegenwärtige Situationen.

Dabei ging es mir nie um die ‚Nachforschungen‘ als Werk, sondern um die Gedanken, die Pestalozzi zwar dort systematisch abgehandelt hat, die aber eben auch in andern Schriften zum Tragen kommen, so etwa in der etwa gleichzeitig geschriebenen Stellungnahme zur Französischen Revolution (‚Ja oder Nein?‘) oder in seinem grossen politischen Werk anlässlich der politischen Neuordnung Europas nach dem Sturz Napoleons (‚An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes‘). Ich wollte eben nicht ‚ein Buch behandeln‘, sondern Pestalozzis ‚Lehre vom Menschen‘, d.h. seine auch für die Pädagogik grundlegende Anthropologie vermitteln. Es scheint mir nämlich, dass es Pestalozzi gelungen ist, die verwickelten Widersprüche, woran Menschen je und je litten und leiden, hinsichtlich ihrer Ursachen, ihres Sinns und ihrer Möglichkeit der Überwindung einsichtig zu machen, und zwar dadurch, dass er den Menschen nicht eindimensional (wie das Tier), d.h. stets mit sich in Harmonie sieht, sondern ihn erkennt als ein Wesen, das den drei verschiedenen Existenzformen des Natürlichen, des Gesellschaftlichen und des Sittlichen verpflichtet ist, drei Seinsweisen also, die sich in ihrem Wesen unterscheiden und zu deren Gestaltung je eigene Gesetzmässigkeiten gelten. Zu bedenken ist aber, dass Pestalozzi vor allem in den pädagogischen Schriften nach 1800 oft die Zweiheit ‚tierische Natur – höhere Natur‘ stärker betont hat als die in den ‚Nachforschungen‘ entwickelte Dreiheit ‚Naturzustand – gesellschaftlicher Zustand – sittlicher Zustand‘. Es gilt daher, diese beiden Denkfiguren in einer Zusammenschau darzustellen.

Pestalozzis Anthropologie

Um nachfolgend aufweisen zu können, inwiefern Pestalozzis Anthropologie für einen heutigen Menschen und insbesondere auch für einen Lehrer hilfreich sein kann, lege ich sie hier zuerst abrisshaft in 20 Thesen dar. Ich greife dabei zurück auf eine jener Darstellungen, die ich meinen Studenten abgegeben habe:

  1. Anders als beim Tier ist die menschliche Natur nicht eindimensional, sondern unterscheidbar in ‚tierische‘ und ‚höhere‘ Natur.
  2. Mit dem Begriff ‚tierische Natur‘ sind all jene Aspekte des menschlichen Daseins ins Auge gefasst, welche die physische Existenz des Menschen bedingen und im Dienste der Selbstbehauptung bzw. des selbstbezogenen Lebensgenusses stehen: Biologische Bedürfnisbefriedigung, Triebhaftigkeit, Gebundenheit an die Sinnesorganisation und damit das Streben nach Lust bzw. die Vermeidung von Unlust, Trägheit, Selbsterhaltungstrieb und Selbstsucht.
  3. Mit dem Begriff ‚höhere Natur‘ ist all das ins Auge gefasst, was den Menschen in positivem Sinne über die Möglichkeiten des Tieres hinaushebt: Wertbezogenheit, Wahrheitserkenntnis, Religiosität, Gewissen, Freiheit und Verantwortung, Kultur, Hingabe an eine Sache oder den Mitmenschen in Liebe, Selbstvervollkommnung.
  4. Tierische und höhere Natur stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis, vergleichbar einer Frucht mit Schale und Kern. Die höhere Natur ist das letztlich Beständige, Unzerstörbare, die tierische Natur ist vorläufig und vergänglich. Die höhere Natur kann indessen ohne die tierische nicht bestehen: Sie entwickelt sich aus der tierischen Natur und soll im Verlaufe der Entwicklung auch die Herrschaft über sie gewinnen. Die tierische Natur ist gut, insofern und solange sie der Herausentwicklung des Höheren dient; sie wirkt negativ in ihrer Tendenz, sich der Dominanz des Höheren entgegenzustellen.
  5. Die oben beschriebene Dynamik faltet sich aus in einem dreistufigen Entwicklungsgang: Vom Naturzustand über den gesellschaftlichen Zustand zum sittlichen Zustand.
  6. Im Naturzustand dominiert die tierische Natur; das Höhere ist im Zustande keimhafter Anlagen. So ist das Wohlwollen ein Ausdruck der tierischen Natur, gleichzeitig aber die Naturgrundlage für die höchste Form der Sittlichkeit: die Liebe. Oder: Die Neugier ist Ausdruck der Sinnlichkeit, gleichzeitig aber Grundlage für das echte Wahrheitsinteresse. Oder: Die Trägheit entspringt der Tendenz, Unlust zu vermeiden, aber sie ist gleichzeitig die Naturgrundlage für ‚Kaltblütigkeit des Urteils‘. Oder: Der Mutterinstinkt ist Ausdruck der tierischen Natur, aber gleichzeitig die Grundlage für die ’sehende Liebe‘.
  7. Theoretisch ist zu unterscheiden zwischen ‚unverdorbenem‘ und ‚verdorbenem‘ Naturzustand.
  • Der unverdorbene Naturzustand lässt sich bloss denken: als Zustand der völligen Gegenwartsbezogenheit und des Gleichgewichts zwischen erlebten Bedürfnissen und den zu deren Befriedigung nötigen Kräften.
  • Real erfahrbar ist der verdorbene Naturzustand: geprägt durch Selbstsucht, durch Selbstbehauptung und Suche nach Lust bzw. Vermeidung von Unlust, geprägt auch durch das Missverhältnis zwischen Bedürfnissen und Kräften und damit durch Sorge um die Zukunft und durch den Kampf um Sicherheit.
  1. Der verdorbene Naturzustand des Menschen ist so geartet (Suche nach Lust und Vermeidung von Unlust, gepaart mit der Fähigkeit zu denken und zu planen), dass der Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand unvermeidlich und nicht mehr rückgängig zu machen ist. Durch die Vergesellschaftung kommt der Mensch einerseits in den Genuss von Rechten, unterliegt aber anderseits dem Anspruch, Pflichten erfüllen und Einschränkungen ertragen, d.h. gehorchen zu müssen.
  2. Durch die Vergesellschaftung schaffte und schafft sich der Mensch eine Welt, die im Tierreich nicht existiert: Rechte und Pflichten, Gesetze, Institutionen (Staat, Wirtschaft, Geldwesen, Vereinigungen jeglicher Art, Kommunikationssysteme) – kurz: die Zivilisation.
  3. Der Eintritt in die Gesellschaft löscht im Einzelnen den naturgegebenen Egoismus nicht aus; die Gesellschaft schränkt ihn lediglich ein und schützt damit die andern vor seinen negativen Auswirkungen. Der Mensch kommt somit durch die Vergesellschaftung in einen Widerspruch mit sich selbst als Naturwesen, das er auch im gesellschaftlichen Zustand bleibt: Aus egoistischen Motiven wünscht er all jene Vorteile, die nur durch die Gesellschaft zu erreichen sind, und aus demselben Egoismus heraus möchte er all jene Einschränkungen und Belastungen vermeiden oder verweigern, welche die gesellschaftlichen Vorteile erst möglich machen.
  4. Der Staat als Hüter der Rechtsordnung kann demzufolge die im Gesetz getroffenen Regelungen gegen den Egoismus der Einzelnen nur durchsetzen, wenn er über Instrumente der Macht verfügt. Insofern es Aufgabe des Staates ist, dem Einzelnen Sicherheit zu gewährleisten, muss er einerseits von allen verlangen, dass sie bei der Lösung von Konflikten auf die Anwendung physischer Gewalt verzichten, muss aber andererseits die an ihn delegierte Gewalt gegen jene einsetzen, die gegen diese Übereinkunft verstossen wollen. (Mit andern Worten: Der Staat als Staat kann nicht ‚christlich‘ handeln; das ist allenfalls Sache des Einzelnen.)
  5. Im Hinblick auf das Streben des Individuums, in Harmonie mit sich selbst zu kommen, erweist sich somit der Eintritt in die Gesellschaft als Illusion. Erstens ist – wie erwähnt – der Egoismus des Einzelnen nicht ausgelöscht, und zweitens wird die Spannung zwischen Bedürfnis und Kraft beim Individuum noch dadurch erhöht, dass die Gesellschaft einerseits stets neue Bedürfnisse weckt und andererseits die Kräfte des Individuums durch die gesellschaftlichen Annehmlichkeiten schwächt. Der Mensch erreicht folglich den Zweck, um dessentwillen er in den gesellschaftlichen Zustand eintrat, durch eben diesen Eintritt nicht.
  6. Die Gesellschaft als solche kann somit dem Einzelnen niemals wahre Erfüllung seines Lebens garantieren, sondern stets nur einen Rahmen als Ermöglichung der Selbstverwirklichung schaffen. Der Einzelne bleibt solange im Widerspruch mit sich selbst und leidet so lange an den im Wesen der Gesellschaft liegenden Widersprüchen, bis er erkennt, dass wahre Erfüllung des Lebens nur durch den frei gewählten Verzicht auf egoistische Ansprüche zu erreichen ist. Die Belastungen des gesellschaftlichen Zustandes haben darin ihren tiefen Sinn, als der Einzelne nur durch das Leiden an ihnen zum Entschluss gelangen kann, die Möglichkeit der Sittlichkeit selbst zu verwirklichen.
  7. Der sittliche Mensch erkennt, dass er eine Lebensaufgabe zu erfüllen hat: die eigene Vervollkommnung. Diese ist nur zu erreichen im Verzicht auf den Egoismus und in der Entwicklung der sittlichen bzw. Herzens-Kräfte: Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit, Gemeinschaftssinn, Schönheitssinn, Verantwortung für das Ganze, Kreativität, Religiosität, freier Wille zum Guten usf. Durch die Verwirklichung der Sittlichkeit wird der Mensch ‚Werk seiner selbst‘ und ist er wahrhaft ‚frei‘.
  8. Somit sind die im verdorbenen Naturzustand und im gesellschaftlichen Zustand gefühlten Widersprüche nur durch eigene Versittlichung zu lösen. Sittlichkeit verwirklicht sich in dem Masse, als die höhere Natur über die Ansprüche der tierischen Natur überwiegt.
  9. Da aber der einzelne Mensch die tierische Natur als physisches Wesen mit Trieben und Bedürfnissen grundsätzlich nicht abstreifen kann (ausser im Tod) und da er in jedem Fall Teil einer konkreten Gesellschaft ist, mithin an kollektiven Systemen partizipiert (und sie mitträgt), die grundsätzlich der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung dienen, kann er berechtigterweise als Einzelner nicht den Anspruch erheben, immer und in jedem Fall widerspruchsfrei zu leben. Niemand kann rein sittlich sein, wenn er physisch überleben will.
  10. Die Widersprüche gehören somit zum Wesen des Menschen. Sie sind erklärbar, weil in den drei Zuständen je andere Gesetzmässigkeiten gelten:
  • Als Wesen des Naturzustandes behauptet sich der Mensch selbst, ist er auf sich selbst bezogen, sucht er seinen Vorteil und unterliegt er auch dem Zwang der Triebe (‚Werk der Natur‘).
  • Als gesellschaftliches Wesen ist der Einzelne Teil eines funktionierenden Systems (‚Werk der Gesellschaft‘), dessen Vorteile er geniessen möchte, das aber diese Vorteile nur solange ermöglicht, als die Einzelnen ihre Bereitschaft, Teil des Ganzen zu sein (zu funktionieren), trotz des oft damit einhergehenden Frustrationserlebnisses nicht verweigern.
  • Als sittliches Wesen (‚Werk seiner selbst‘) verzichtet der Mensch auf egoistische Ansprüche, sucht er das Wohl des andern und des Ganzen und vervollkommnet er sich dadurch, dass er all jene Kräfte und Anlagen entfaltet, die ihm diese Hingabe an die Mitmenschen und die Gemeinschaft ermöglichen.
  1. Naturzustand und gesellschaftlicher Zustand auf der einen und sittlicher Zustand auf der andern Seite stehen zueinander in einer Wechselbeziehung: So wie die tierische Natur die notwendige Schale für die Bildung des unzerstörbaren Samens (die höhere Natur) bildet, ebenso sind jene beiden Zustände, in denen die tierische Natur dominiert (der Naturzustand und der gesellschaftliche Zustand) die notwendige Voraussetzung für die Versittlichung des Einzelnen. Andererseits wirkt der sittliche Mensch hinein in die konkrete Gestaltung des gesellschaftlichen Zustandes (als Gesetzgeber und in der Art, wie er sich an die Gesetze hält), wodurch eine konkrete Gesellschaft um so weniger belastend ist, je mehr Individuen die eigene Versittlichung als ihre Lebensaufgabe wahrnehmen.
  2. Die drei Zustände sind zu verstehen als drei verschiedene Existenzweisen, denen wir stets gleichzeitig verbunden oder verpflichtet sind oder (im Falle des sittlichen Zustandes) sein sollen. Jeder menschliche Lebensvollzug kann somit analysiert werden hinsichtlich der drei Zustände. Hier einige Beispiele (teils von Pestalozzi):

    Naturzustand

    gesellschaftlicher Zustand

    sittlicher Zustand

    Beruf

    • Motivation: Befriedigung primärer Bedürfnisse
    • physische und psychische Voraussetzungen zur Ausübung des Berufs
    • physische und psychische Belastungen
    • Arbeitsvertrag
    • staatliche Gesetzgebung
    • Partizipation am Bildungswesen
    • Zugehörigkeit zu einer Organisation
    • Berufung, Verwirklichung von Lebenssinn im Beruf
    • Verantwortung für andere Menschen und Umwelt
    • Identifikation mit Idealen
    • Motivation: Erhaltung der eigenen Familie

    Ehe

    • Verliebtheit
    • Sexualität
    • Gewohnheiten des gemeinsamen Lebensalltags
    • ’neurotische‘ Beziehungsstrukturen
    • Zivil-Ehe
    • staatliches Eherecht
    • Ehe-Verträge
    • Liebe, Treue
    • Wille zu gemeinsamem seelisch-geistigem Wachstum
    • gegenseitige Hilfe
    • Verantwortung für die Gemeinschaft

    Erziehung

    • ungewertete Entfaltung natürlicher Anlagen und Kräfte
    • Einübung in gesellschaftliche Normen
    • Erwerb von Kulturtechniken
    • Entfaltung der Herzenskräfte
    • Unterordnung der intellektuellen und handwerklichen Kräfte unter die sittlichen

    Freiheit

    • Anspruch und Möglichkeit, tun und lassen zu können, was einem beliebt
    • gesellschaftlich zugesicherter Freiraum zur Wahrung eigener Interessen und Befriedigung eigener Bedürfnisse
    • politische Mitbestimmungs-Möglichkeiten
    • Freiheit von eigenen inneren Zwängen und Abhängigkeiten
    • Wille zu selbstverantwortetem Handeln aus dem Gewissen

    Friede

    • Fehlen von Konfliktursachen
    • Diktatur der Stärkeren
    • im Innern des Kollektivs: Konfliktlösungen auf der Basis des anerkannten Rechts
    • gegen aussen: vertragliche Absicherung der gegenseitigen Unantastbarkeit
    • jeweilige Absicherung des Rechts durch kontrollierte kollektive Macht
    • Verzicht auf Gewalt bei Konflikten
    • Annahme des Nächsten als Mitmenschen

    Konflikt-
    lösung

    • Ausspielen physischer oder psychischer Überlegenheit
    • Inanspruchnahme des Rechts und der für Konfliktlösungen vorgesehenen Institutionen
    • gegenseitiges Eingehen auf die Probleme und Bedürfnisse des Konfliktpartners
    • niederlagelose Konfliktlösung

    Macht

    • physische Gewalt und psychische Macht des Einzelnen
    • strukturelle Macht
    • institutionelle Macht
    • Autorität, geistige Ausstrahlung
    • Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft, Vorbild
    • anerkannte und mit Verantwortung gehandhabte Sach-Kompetenz

    Religion

    • äussere Organisation in Kirchen, Vereinigungen, Sekten
    • Religiöse Sitten und Gebräuche
    • innere Erhebung zu Gott, persönliches Gebet
    • Lebensführung als Antwort auf das Faktum der Geschöpflichkeit

     

    1. Aufgabe der Erziehung ist es, dem heranwachsenden Menschen unter Berücksichtigung der legitimen Ansprüche der tierischen Natur die in dieser angelegten Kräfte und Anlagen so zu entfalten, dass die höhere Natur zum bestmöglichen Ausdruck kommt. Oder: Die Erziehung muss den heranwachsenden Menschen lehren, mit den Ansprüchen des Naturzustandes richtig umzugehen, sie muss mit ihm die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einüben und ihn befähigen, im eigenen Leben die Sittlichkeit zu verwirklichen.

    Pestalozzis Anthropologie im Rahmen der Lehrerbildung

    Ich betrachte Lehrerbildung als Persönlichkeitsbildung. Weder Sachwissen noch didaktisches Rüstzeug – beides getrennt gesehen von einer konkreten Person –, können letztlich den Bildungs- und Erziehungserfolg eines Lehrers garantieren. Zwar ist beides wichtig, aber entscheidend ist das ‚Wesen der Gesamtpersönlichkeit‘. Dass dieser Begriff nicht wissenschaftlich eindeutig zu erfassen ist, weiss ich, aber ich stehe auch gar nicht auf dem Standpunkt, Wissenschaftlichkeit sei die letztverbindliche Lebensnorm. Wissenschaft ist stets sekundär und vermag die Fülle des Lebens bloss ausschnitt- und ansatzweise in Griff zu nehmen. Bildung hingehen muss Leben sein, und dies ist in jedem Fall unendlich mehr, als Wissenschaft jemals erfassen kann.

    Versteht man Bildung als etwas Ganzheitliches, so kann man sich nicht bloss um Schulleistungen (sprich: gute Noten) kümmern, sondern man setzt sich auseinander mit der gesamten Persönlichkeit des Schülers, mit seiner Lebensgestaltung. Zur Bildung gehört dann auch der Aufbau einer in sich stimmigen, aber trotzdem offenen und ausbaufähigen Weltsicht, gehört auch die Identifikation mit Grundwerten und damit die Entwicklung von sittlichen Grundhaltungen sowie das Einüben in Verhaltensweisen, in denen zugleich die unverwechselbare Individualität wie auch die Verankerung in einer einsichtig zu machenden Wertordnung erkennbar sind. Das ist sehr anspruchsvoll, und in dieser anspruchsvollen Aufgabe leistet nach meiner Erfahrung Pestalozzis Anthropologie als Orientierungshilfe und als gedankliches Zugriffsinstrumentarium, um komplexe Sachverhalte – insbesondere im sozialen Bereich – besser (bzw. überhaupt) verstehen zu können, beste Dienste.

    Im Rahmen dieser Arbeit lässt sich dieser Ertrag Pestalozzischen Denkens allerdings nur an ganz wenigen Beispielen aufzeigen:

    In meiner Lehrerbildungs-Praxis hatte ich es mit Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren zu tun. In diesem Alter sind Menschen sehr beeinflussbar, was gelegentlich zur Forderung führt, man habe sich als Lehrperson weitmöglichst zurückzunehmen und sich auf die wertungsfreie Darstellung von Sachverhalten zu beschränken. Alles andere sei Manipulation. Da wird meines Erachtens irrtümlich angenommen, der junge Mensch bilde völlig autonom seine Überzeugungen aus, und es wird ignoriert, dass die reale gesellschaftliche Situation ein Lebenselement ist, das geschwängert ist von einer beängstigenden Fülle gezielter Manipulationen. Da scheint es mir ehrlicher und für die Entwicklung des Jugendlichen förderlicher, klar Stellung zu beziehen, aber dann auch die nicht mehr zu beweisenden weltanschaulichen Axiome offenzulegen und aufzuzeigen, wie sich gewisse Lebensentscheidungen von diesen Grundlagen her ergeben. Eine deklarierte Position ist dann auch angreifbar, und ich betrachte die Auseinandersetzung damit – gerade auf dem Hintergrund der sonst allgegenwärtigen Manipulation – als wesentlichen Beitrag, den organisierte Bildung zur Entwicklung eines jungen Menschen zu leisten hat.

    Betrachte ich nun dieses manipulative Lebenselement – so etwas wie der ‚Zeitgeist‘ –, so lässt es sich unschwer als unverbundenes Konglomerat von Extrempositionen charakterisieren: Unerbittlicher Rationalismus steht grenzenloser Sentimentalität, optimistische Paradieseshoffnungen stehen pessimistischen Weltuntergangsängsten gegenüber; moralische Maximalforderungen der totalen Selbstlosigkeit, des Konsumverzichts und der Gewaltfreiheit bis zum Selbstopfer stehen in Konkurrenz mit nackter Gewalt, mit Konsumrausch und einem bis zur Selbstzelebration führenden Selbstverwirklichungsanspruch.

    Ein junger Mensch, auf der Suche nach Welt- und Selbstverständnis, muss dies alles als sehr widersprüchlich erleben. In dieser verwirrenden Situation vermag Pestalozzis Anthropologie liebgewonnene Selbsttäuschungen zu entlarven und manches Diffuse zu klären. Von fundamentaler Bedeutung ist die Erkenntnis, dass erstens der Widerspruch und damit das Unvollkommene zum Menschen gehört und es somit ein logisches Unding ist, sich in eine Welt reiner Harmonie hineinzuträumen, und zweitens, dass es zwar nötig ist, sich für eine bessere Welt einzusetzen, dass sich aber der eigentliche Lebenssinn des Einzelnen nicht am Erreichenkönnen und Erreichthaben verbesserter Weltzustände misst, sondern dass vielmehr jedes Individuum eine Aufgabe an sich selbst zu erfüllen hat, die ihm keine noch so gut geartete Gesellschaft und kein noch so sozial organisierter Staat abnehmen können: nämlich die Verantwortung für das eigene Leben selbst zu übernehmen, seine eigenen Kräfte zu entdecken und sie in einer menschlichen Weise zu entfalten. Gerade für angehende Lehrer ist die Grunderkenntnis wichtig, dass Bildung, Selbstbildung für jeden Menschen die zentrale Lebensaufgabe darstellt und dass er sich Gewalt antut, wenn er sich einem erfolgssüchtigen Weltverbesserungsaktionismus verschreibt.

    Mit andern Worten: Pestalozzis Anthropologie untermauert realistische Zielsetzungen und eine ebenso realistische Beurteilung der Welt, wie sie wirklich ist.

    Und zu dieser Welt gehört nun eben auch die gesellschaftliche Existenz des Menschen. Sie ist zwar nicht die einzige und auch nicht die entscheidende Bedingung für ein menschenwürdiges Dasein, aber Pestalozzi zeigt, dass sie dazu eine unverzichtbare Voraussetzung ist. Dann ist es denn eben reine Logik, dass man jene Gesetzmässigkeiten akzeptieren muss, die gesellschaftliches Leben erst ermöglichen. Dazu gehören Recht und Gesetz und damit auch die Notwendigkeit, sich einzuschränken, Pflichten zu erfüllen, Macht zu akzeptieren – kurz: sich zu fügen. Das ist natürlich nicht angenehm, aber wir tun jungen Menschen einen schlechten Dienst, wenn wir dem Mythos, der Mensch könne als gesellschaftliches Wesen unumschränkte Freiheit geniessen, nicht entgegentreten. Gerade für einen künftigen Staatsangestellten ist die Einsicht wichtig, dass er als solcher Teil eines rechtlich definierten Systems ist und somit einerseits über Rechte verfügt, die ihm niemand streitig machen kann, aber auch Pflichten unterliegt, die er erfüllen muss. Die Auseinandersetzung mit Pestalozzis Anthropologie vermag ihn zu sensibilisieren für den Unterschied zwischen jener Macht, die ein demokratisch gewähltes Behördemitglied in Erfüllung seiner Aufsichtspflicht ausübt, und der rein personalen Macht des ‚Naturzustandes‘, die – wie wir von Adler her wissen – bloss der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen dient.

    Mit andern Worten: Ein künftiger Lehrer muss im Bilde sein über die Spannung, in welcher der Mensch als natürliches, gesellschaftliches und sittliches Wesen ganz allgemein steht. Dann kann er ja sagen zu seiner Natürlichkeit, ohne sie absolut zu setzen, er kann das gesellschaftlich Notwendige akzeptieren und gleichzeitig die Freiräume für seinen sittlichen Gestaltungswillen nutzen. Der Lehrerberuf bietet dazu die beste Voraussetzung, sind doch letztlich ‚erzieherisches Wirken‘ und eigenes ’sittliches Sein‘ identisch.

    Ein Letztes: Verschiedene moderne Philosophen haben die Ambivalenz menschlichen Daseins in der Alternative ‚Haben‘ und ‚Sein‘ dargestellt. Diese beiden Existenzmöglichkeiten entsprechen ziemlich genau dem, was Pestalozzi einerseits unter gesellschaftlichem, andererseits unter sittlichem Zustand versteht (wobei, will man den Naturzustand einbeziehen, der unverdorbene Naturzustand dem ‚Sein‘, der verdorbene dem ‚Haben‘ zuzuordnen wären). Aber anders als etwa Erich Fromm, der sein Buch bezeichnenderweise mit ‚Haben oder Sein‘ betitelt und dementsprechend fordert, es müsse die Gesellschaft des Habens durch eine Gesellschaft des Seins ersetzt werden, denkt Pestalozzi nicht in der Kategorie des Entweder-Oder, sondern in derjenigen des Sowohl-Als auch. ‚Haben‘ ist zwar – das gesteht auch Pestalozzi ein – dem ‚Sein‘ untergeordnet und vorläufig, aber hat eben doch als wesentliche Bedingung des ‚Seins‘ seinen unverzichtbaren Eigenwert. Es ist erfahrungsgemäss leicht, junge und idealistisch gesinnte Menschen für jene Lebensvollzüge zu erwärmen, die sich als ‚Sein‘ charakterisieren lassen. Die Beschäftigung mit Pestalozzi mag ihnen dann nahelegen, dass ‚reine Sittlichkeit‘ realistischerweise nicht zu machen ist, sondern dass das ‚Sein‘ zumeist das ‚Haben‘ voraussetzt und fast immer auch ‚Haben‘ produziert und dieses dann in einen Bereich entlässt, der eigenen – eben den gesellschaftlichen – Gesetzmässigkeiten unterliegt. Zum Schluss gestatte ich mir, wesentliche Vollzüge und Aspekte des Menschseins, die den beiden Bereichen jeweils zuzuordnen sind, einander rein tabellarisch gegenüberzustellen. Auch diese Darstellung ist im Verlaufe meiner Unterrichtspraxis entstanden und bildete eine Grundlage für ausgedehnte Diskussionen, die letztlich stets auf die Erkenntnis hinausliefen, dass beide Seiten ihre Existenzberechtigung haben, auch wenn sie einander zu widersprechen scheinen. So ist etwa das Misstrauen im gesellschaftlichen Zustand durchaus nötig (man denke an alle staatlichen Kontrollmechanismen, ohne die jede Gesetzgebung sinnlos wäre), im sittlichen Zustand (d.h. in personalen Beziehungen) aber klar destruktiv. Analog verhält es sich mit der Macht. Auch sie ist nicht – wie oft behauptet – ‚an sich böse‘, sondern eben ambivalent: im einen Fall unverzichtbar (wenn auch gefährlich), im andern zerstörend.

     

    Gesellschaftlicher Zustand / ‚Haben‘
    Sittlicher Zustand / ‚Sein‘
    Zivilisation Kultur
    Kollektivexistenz Individualexistenz
    Teilaspekt des Menschen Ganzer Mensch
    Mensch als Mittel Menschsein als letzter Wert in sich
    das Quantitative das Qualitative
    das Abstrakte: Gesetze, Regelungen, Institutionen das Konkrete: Existenz als unwiederholbares Ereignis, personale Beziehungsphänomene, kreative Lösungen
    das Statische, Überdauernde, Tradierbare das Aktualisierbare (durch Resonanz), gegenwärtig sein
    das Perfektionierbare Leben als Ereignis der Fülle
    Absicherung, Misstrauen Offenheit, Wagnis, Vertrauen und Zutrauen
    Kampf um Positionen, Einfluss, Besitz, Macht, Recht Liebe, Verständnis, Hilfe
    Problemlösungen schaffen neue Probleme Möglichkeit echter Problemauflösungen
    heteronome Verpflichtungen:
    aussengeleiteter Mensch
    autonome Verpflichtungen:
    innengeleiteter Mensch
    Zwecke Sinn

     

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