Arthur Brühlmeier

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Zuerst etwas zum Begriff: ‚Qualität’ ist vorerst rein beschreibend und meint einfach die Eigenart irgend eines Sachverhaltes. Zumeist aber verwenden wir den Begriff ‚Qualität’ wertend, etwa dann, wenn sich jemand darum bemüht. seiner Schularbeit ‚mehr Qualität’ verleihen zu wollen. Auch ich werde ihn künftig so verwenden.

Ist in diesem Sinne von Qualität die Rede, kommen also in jedem Falle Werte – und damit auch das Werten – mit ins Spiel. In engsten Zusammenhang damit steht das Beurteilen, das dann eben, insofern damit ein Sollens-Anspruch verbunden ist, zum eigentlichen Bewerten wird. Indem man also eine Sache bewertet, stellt man – und dies gilt insbesondere für den Bereich von Bildung und Erziehung – gleichzeitig immer auch einen Anspruch. Man kann also nicht von Qualitätssteigerung sprechen, wenn man sich vor dem Werten scheut und nicht wagt, höhere Ansprüche zu stellen. Zu all dem braucht es aber – und besonders heutzutage – Mut. Dazu gibt es mehrere Gründe:

  1. Diskutiert man über Werte, bewegt man sich philosophisch auf brüchigem Eis. Der Philosophenstreit dreht sich zumeist um die Frage, ob es objektive Werte gebe, die nicht in der freien Verfügbarkeit des Menschen stehen, oder ob, was als wertvoll oder wertlos zu gelten habe, entweder gesellschaftlich definiert oder aber der subjektiven Entscheidung des Individuums anheimgestellt sei. Im eigentlichen Sinne zu ‚beweisen’ ist keiner der beiden Standpunkte. Letztlich sind sie eine Frage der grundlegenden Weltanschauung. Ich selbst neige stärker zum ersten Standpunkt, ohne zu bestreiten, dass viele Wertvorstellungen einem gesellschaftlichen Wandel, aber auch subjektiven Entscheidungen unterworfen sind. Ich ziehe es aber vor, im Falle von gesellschaftlich veränderbaren Verhaltensansprüchen von ‚Normen’ zu sprechen, dies in der Überzeugung, dass es sich hierbei um gesellschaftlich bedingte Konkretisierungen von objektiven Werten handelt. Diese Werte sind dann freilich relativ abstrakt und allgemein, wie etwa ‚das Wahre’, ‚das Gute’, ‚das Schöne’, das ‚Heilige’. Gemäss diesem Denkansatz ist dann z.B. ‚Schönheit’ mehr als das, was gerade Mode ist, d.h. von einer einflussreichen Gruppe für schön gehalten wird. Vielmehr stellen dann alle Moden zusammengenommen (zumindest jene, die beanspruchen, schön zu sein) letztlich den Versuch dar, den Wert des Schönen in konkreten Dingen erfahrbar zu machen. Auch ‚Kunst’ ist dann nicht einfach das, was irgend eine mächtige Minderheit oder meinetwegen eine Mehrheit für ‚Kunst’ hält, sondern eine Qualität, die nicht jedem menschlichen Produkt zugesprochen werden kann und um deren Wesen man sich von jedem erreichten Verständnis aus je neu bemühen muss.
  2. Sei dem, wie ihm wolle: Es herrschte wohl niemals – und heute schon gar nicht – Einigkeit darüber, welche Werte als verpflichtend gelten sollen. Angesichts dieser ungeklärten Frage erheischt der heutige Zeitgeist immer wieder, sich jeglicher Wertung zu enthalten. So hört man denn etwa die Forderung, der Schulunterricht habe wertfrei oder wertneutral zu sein. Im Rahmen von Bildung, Unterricht und Erziehung ist aber die Forderung, auf das Werten zu verzichten, die reine Unmöglichkeit, denn sie bindet jedem Lehrer die Hände: Was er als falsch ‚empfindet’, könnte ja ebenso richtig sein, was ihm als hässlich ‚erscheint’, möchte ein anderer als schön beurteilen, und was er als schlecht ‚betrachtet’, könnte ein anderer für gut halten. So ist es dann wohl am besten, man lässt das Kind ‚entscheiden’ und heisst dann alle seine Äusserungen a priori gut. Aber damit hilft man dem Kind nicht weiter, sondern lässt es im besseren Fall stets um sich selber kreisen, und im schlechteren Fall überlässt man es seiner Verwahrlosung.
    Ich weiss, dass viele Lehrkräfte an diesem Dilemma leiden und es immer wieder erleben, dass man ihnen ihren wertenden Standpunkt zum Vorwurf macht. Ich sehe die Lösung dieses Zwiespalts so: Da Bilden, Unterrichten und Erziehen in jedem Fall nur möglich sind, wenn man die Äusserungen des Schülers auf dem Hintergrund einer Wertordnung beurteilt und daraus entsprechende Ansprüche und Forderungen ableitet, sind zur Ausübung dieser Aufgabe nur solche Menschen geeignet, die es trotz der Unmöglichkeit, absolute Werte für alle Leute einsichtig zu machen und verbindlich zu erklären, wagen, dem Kinde gegenüber mit einem Anspruch zu begegnen. Zwar werden diese zum Lehrerberuf geeigneten Menschen so wenig als irgend ein Philosoph ihre Werte letztverbindlich rechtfertigen können, aber sie sind bereit, mit ihrer eigenen Lebensführung für diese Werte einzustehen und ihre Ansprüche den Kindern (und deren Eltern) gegenüber zu verantworten. Auch diese Formel schliesst den Konflikt nicht aus, denn man kann grundsätzlich nicht beides haben: auf der einen Seite eine ideologisch konfliktfreie Situation und auf der andern Seite eine Aufgabe, die nur zu erfüllen ist, wenn man seine Wertungen in seinen Ansprüchen und Forderungen einbringt.
  3. Das sachlich gerechtfertigte Beurteilen und Bewerten ist nicht zuletzt darum problematisch, weil es tatsächlich Situationen gibt, in denen das Beurteilen unnötig oder gar störend ist. Es ist ja wirklich lästig, wenn jemand dauernd all das, was in den Kompetenzbereich seiner Mitmenschen gehört, seinen eigenen Urteilen glaubt unterwerfen zu müssen. Solche Menschen sind wie von der fixen Idee beherrscht, sie seien für das Verhalten ihrer Mitmenschen verantwortlich, und deshalb ziehen sie diese in ihrem Innern stets in irgend einer Weise zur Rechenschaft. Es ist, wie wenn sie sich – gewissermassen reflexartig – an die Stelle ihrer Mitmenschen gesetzt fühlten und darum für sie denken und urteilen müssten. Das hat dann zur Folge, dass man sich in der Umgebung solcher Menschen stets genötigt sieht, alles, was man tut, zu rechtfertigen. Meist meidet man diese Menschen, da sie eine Atmosphäre des sich Bemächtigens verbreiten.
    Man gewinnt daher zum ganzen Problem des Wertens nur dadurch ein richtiges Verhältnis, dass man über klare Unterscheidungskriterien verfügt. Ich sehe es so: Das Beurteilen eines Sachverhalts, das heisst das Einschätzen, inwieweit er den erwünschten Wert- und Qualitätsvorstellungen entspricht, ist berechtigt, ja erforderlich in zwei Situationen: Erstens, wenn man für den Sachverhalt verantwortlich ist, und zweitens, wenn die eigenen persönlichen Bedürfnisse und Wünsche betroffen sind. In allen andern Fällen ist Beurteilen nicht erforderlich und oft genug ein Laster. Für einen Lehrer bedeutet dies, dass er das Recht und die Pflicht hat, das Verhalten und die Leistungen der Schüler zu beurteilen, da er dafür eine nicht geringe Mitverantwortung trägt.
    Es gibt heute allerdings Lehrkräfte, die sich der Pflicht des Bewertens weitgehend entziehen möchten, da sie den Standpunkt einnehmen, für die Leistungen sei der Schüler grundsätzlich selbst verantwortlich und darum solle er sie auch selber beurteilen. Während meiner Tätigkeit als Lehrerbildner habe ich dabei mitgewirkt, das System der reinen Fremdbeurteilung durch Zeugnisnoten zu ersetzen durch ein System der Selbstbeurteilung. Ich stehe also dem Gedanken der Selbstbeurteilung durchaus positiv gegenüber. Was mich aber von der oben angedeuteten Haltung unterscheidet, ist meine Überzeugung, dass (erstens) auch die Selbstbeurteilung gelernt werden muss, was bedeutet, dass der Schüler sich immer wieder auch an Fremdbeurteilungen orientieren können muss, und dass demzufolge (zweitens) der Grad unserer Mitverantwortung für die Schülerleistung altersabhängig ist. Die Mitverantwortung der Lehrer für den Lernerfolg wird indessen nie ganz aufgehoben; selbst an Hochschulen variieren die Leistungen der Studenten je nach Ansprüchen und pädagogischem Geschick der Professoren.
    Darüber hinaus hat ein Lehrer, wie bereits erwähnt, das unbestrittene Recht, das Verhalten der Schüler zu beurteilen, wenn es direkt auf seine Person bezogen ist. Er muss sich also keinesfalls irgend eine Frechheit bieten lassen, und auch die Missachtung seiner Arbeit durch all die vielen bekannten lästigen Störungen muss er nicht einfach unwidersprochen hinnehmen.
  4. Ein weiterer Grund, weshalb sich viele Lehrer im Beurteilen eines Schülerverhaltens oder einer Schülerleistung zurückhalten möchten, liegt in der Angst begründet, das gute Verhältnis zu den Kindern könnte dadurch in Brüche gehen. Auf meinen Schulbesuchen stand ich mehrmals unter dem Eindruck, der Lehrer fühle sich hin- und hergerissen zwischen einem (beinahe verschütteten) Wissen, mit der Klasse bzw. den einzelnen Kindern gewisse im Lehrplan formulierte Ziele erreichen zu müssen und einer beständig lauernden Angst, sich durch die entsprechenden Ansprüche bei den Schülern schuldig zu machen. Das führte jeweils dazu, dass diese Lehrer von den Schülern fast alles akzeptierten. Sie quittierten geradezu gewohnheitsmässig jede Schüleräusserung mit ‚gut’, ‚schön’ oder ‚prima’, und zwar auch dann, wenn das, was der Schüler sagte oder vorzeigte, ganz und gar nicht gut oder schön und schon gar nicht prima war. Oft schauten sie das, was ihnen gezeigt wurde, gar nicht richtig an, d.h. so kurz, dass der Schüler niemals auf die Idee kommen konnte, der Lehrer setze sich mit seiner Arbeit ernsthaft auseinander. Eine solche Gewohnheit, auf die Schüler und ihre Leistungen zu reagieren, führt dazu, dass auch die Schüler diese Art der Rückmeldungen nicht mehr ernst nehmen. Für sie sind dies keine Aussagen mehr über ihre Leistung, sondern lediglich eine – allerdings ziemlich schale – Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit. Darum kommen sie dann auch alle Augenblicke zum Lehrer gelaufen, um ‚gut’, ‚schön’ oder ‚prima’ zu hören, allerdings ohne je daran zu denken, dies auf ihre Arbeit zu beziehen und sich dort entsprechend einzurichten.
    Natürlich ist es nicht bloss richtig, sondern unumgänglich, auf ein gutes Verhältnis zu den Schülern zu achten, denn ein gedeihliches Unterrichten und Arbeiten ist nur im Rahmen einer ungestörten zwischenmenschlichen Beziehung möglich. So muss es denn tatsächlich die erste Sorge jedes Lehrers sein, eine positive Beziehung zwischen sich und den Schülern, aber auch zwischen den Schülern aufzubauen und zu pflegen. Die oben beschriebene Art der Pflege wird indessen auf lange Sicht nicht wirksam bleiben, denn ihr fehlt das Wichtigste: die Wahrheit. Eine zwischenmenschliche Beziehung ist erst dann wirklich gut, wenn auch die Schwächen und Mängel offen zutage treten dürfen. In einer guten Beziehung geschieht der Hinweis auf das Ungenügende in einem Ton und einer Atmosphäre der Annahme, und es ist auch allen bewusst, dass alle (auch der Lehrer) an ihren Unvollkommenheiten arbeiten und man sich dabei gegenseitig aus besten Kräften hilft.
  1. Und schliesslich fällt es vielen Lehrern oft darum schwer, die Schüler wirklich mit Ansprüchen und Forderungen zu konfrontieren, weil sie die heute weit verbreitete Ansicht teilen, dass alles, was das Kind erlernen und leisten soll, wie von selbst aus ihm selber herauskommen müsse. Spontaneität, Kreativität, Selbstverwirklichung, Phantasie sind darum hoch im Kurs. Dies geschieht durchaus zu Recht, wenn man die spontan vom Kinde her kommenden Lebensäusserungen als die eine Seite des Bildungsprozesses zu erkennen vermag, der aber nur gelingt, wenn auch die andere Seite zu ihrem Recht kommt. Denn wahre Bildung kommt nur zustande durch die Synthese zwischen all dem, was das Kind – und zwar als Individualität – aus seiner eigenen seelisch-geistigen Wirklichkeit heraus äussert, und einer Reihe von Ansprüchen, die sich aus der gesellschaftlichen und kulturellen Situation ergeben, in der das Kind lebt. Pestalozzi (auf den ich mich immer wieder beziehen möchte) bezeichnet die beiden Seiten plakativ als ‚Natur’ und ‚Kunst’. Zwar kommt – wie Pestalozzi immer wieder betont – der Natur des Kindes die Priorität zu, was bedeutet, dass einerseits keine gesellschaftlichen bzw. kulturellen Anforderungen ans Kind gestellt werden sollen, die seiner Denk-, Fühl- und Auffassungsweise und –möglichkeit widersprechen, und dass andererseits die Lebensäusserungen des Kindes richtungsweisend sind für all das, was man ihm zuzumuten gedenkt. Aber ebenso klar spricht Pestalozzi aus: „Der Mensch wird nur durch Kunst Mensch.“ Das heisst: Das Kind braucht, damit es sein Menschsein voll entfalten kann, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Ansprüchen und die Beschäftigung mit Gehalten der menschlichen Kultur. Und beides kommt nicht vom Kinde selbst, sondern beides wird repräsentiert in den Ansprüchen und Forderungen, welche die Schule an es stellt. Diese Forderungen sind (mindestens teilweise) rechtlich festgelegt in den Lehrplänen und Jahrgangszielen, und als Lehrer haben wir die Aufgabe, diese Ansprüche dem Kinde gegenüber zu vertreten und ihm die Gehalte der menschlichen Kultur nahe zu bringen.
    Das bringt uns dann freilich immer wieder in Widerspruch mit der augenblicklichen Gestimmtheit des Kindes. Es ist durchaus das Recht des Kindes, dass es seine Tätigkeit in Übereinstimmung mit seinem Bedürfnis nach Lust bzw. nach Vermeidung von Unlust sehen möchte. Setzen wir aber das rein egoistisch motivierte Lustprinzip des Kindes absolut, so verfehlen und verraten wir unsere Aufgabe, ihm auf seinem Wege zur Menschwerdung beizustehen. Unsere Aufgabe ist es, dem Kind zu helfen, sein Verhalten zunehmend nicht bloss nach seinem momentanen Lustbedürfnis, sondern nach einer stabilen Wertordnung ausrichten zu können; denn erst diese Ausrichtung macht ein gemeinschaftliches und gesellschaftliches Zusammenleben, aber auch ein wirklich erfülltes individuelles Menschsein möglich. Dabei soll das Kind immer wieder erleben, dass die Freude, die mit der Verwirklichung menschlicher Werte verbunden ist, einen allfälligen Verzicht auf eine augenblickliche Annehmlichkeit mehr als nur aufwiegt. In der Verankerung des Handelns in einer den Egoismus übersteigenden Wertordnung manifestiert sich letztlich die Geistigkeit des Menschen, und dadurch, dass wir Lehrer unsere Ansprüche und Forderungen, die wir an das Kind stellen, nach dieser Wertordnung ausrichten, verhelfen wir ihm, seine eigene Geistigkeit zu entwickeln. Dies zeigt sich z.B. darin, dass wir im sozialen Bereich nicht einfach das, was vom Kind her in der Regel von selbst kommt – nämlich die Selbstbehauptung gemäss dem Recht des Stärkeren (man beobachte etwa das Treiben auf dem Pausenplatz) – , ins Kraut schiessen lassen, sondern den Anspruch erheben, dass an Stelle des Machtkampfs Prinzipien wie Rücksichtnahme, Hilfe, Liebe, Annahme des andern und Verzicht auf egoistische Ansprüche zunehmende Gültigkeit erhalten. Solche Werte gelten aber auch im Leistungsbereich: Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit, Gründlichkeit, Sorgfalt im Arbeiten sind der Ausdruck eines Menschen, der sich aufrichtig bemüht, sein Verhalten nach den Grundwerten des Wahren, Guten und Schönen auszurichten.

Nach all diesen Erwägungen rate ich, nicht die Quadratur des Zirkels lösen zu wollen. Als Lehrer hat man nicht bloss das Recht, sondern auch die Pflicht, Ansprüche zu stellen, Forderungen zu erheben und Ziele zu verfolgen. Und im Hinblick auf diese Ansprüche, Forderungen und Ziele ist nicht alles, was die Kinder leisten (oft auch, ohne sich die geringste Mühe zu geben) ‚gut’, ‚schön’ oder ‚prima’. Erst, wenn die Schüler darauf gespannt sind, ob man ihre Arbeit als (beispielsweise) ‚gut’ oder ‚oberflächlich hingeworfen’ beurteilt, werden sie diese Worte wieder auf ihre Arbeit beziehen und sie als solche ernst nehmen und nicht bloss die Aufmerksamkeit des Lehrers in Anspruch nehmen wollen. Das setzt aber voraus, dass man sich wirklich auf jede vorgelegte oder mündlich geäusserte Leistung des Schülers einlässt und zwar in jedem Fall in der Vergegenwärtigung dessen, was dieses Kind grundsätzlich zu leisten imstande ist. Nur dann kann man eine ihm angemessene Rückmeldung geben, die diesen Namen verdient und die dann aber auch geeignet ist, die nächstfolgende Leistung positiv zu beeinflussen.

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