Arthur Brühlmeier

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Rezension von Meiers Dissertation

Pestalozzis Pädagogik der sehenden Liebe

Zur Dialektik von Engagement und Reflexion im Bildungsgeschehen

Dissertation von Urs P. Meier

angenommen von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern auf Antrag der Herren Professoren Dr. Traugott Weisskopf und Hans Aebli

Verlag Paul Haupt Bern und Stuttgart, 1987, 480 Seiten

„Pestalozzi ist eine Welt. Wer in sie eintritt, kann sie, wenn überhaupt, nur innerlich gewandelt verlassen.“  Mit diesem Bekenntnis eröffnet Urs P. Meier seine umfangreiche Dissertation, die sich eingehend mit ‚Pestalozzis Pädagogik der sehenden Liebe‘ auseinandersetzt. Meier geht in seiner Arbeit von der Annahme aus, es müsste sich doch in Pestalozzis Werk ein Begriff finden lassen, der geeignet wäre, „die Quintessenz seiner pädagogischen Botschaft in prägnanter – d. h. knapper und gehaltvoller – Weise wiederzugeben“ (S. 13). Angesichts des schier unüberblickbaren Gedankenkosmos Pestalozzis kann ein solches Unterfangen ebensogut scheitern wie glücken.

Nun sind solche Versuche an sich nicht neu. ‚Harmonische Kräftebildung‘ oder ‚Bildung von Kopf, Herz und Hand‘ sind solche griffigen Formeln, die als Kristallisationspunkte Pestalozzischen Denkens aufgefasst werden können. Ausgehend oder sich absetzend von Arbeiten von Guyer, Bachmann und Ballauf entwickelt nun Meier seinen eigenen Ansatz, wonach das gesuchte Schlüsselwort im Begriff der ‚sehenden Liebe‘ zu finden sei. Meiers Arbeit ist ein Beleg für die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes. Er kann überzeugend nachweisen, dass der Begriff der ‚sehenden Liebe‘ gleichsam „den Schnittpunkt von Pestalozzis Leben und Werk bezeichnet“, denn Pestalozzi hat zeit seines Lebens um das Sehendmachen der eigenen Liebeskräfte gerungen, und im Begriff der ‚sehenden Liebe‘ hat sich seine jahrzehntelange gedankliche Arbeit verdichtet.

Eine vorläufige Analyse des Konzepts der sehenden Liebe erhellt die folgenden vier für die Pestalozzische Pädagogik relevanten Tatbestände:

Die Wahrheit ist nicht einseitig. Leben – und damit auch Erziehung – ereignet sich stets im Spannungsfeld und in der Wechselwirkung polarer Prinzipien.
Das Wesentliche der Erziehung ist die Liebe, und zwar sowohl im Hinblick auf den Weg als auch auf das Ziel.
Das Moment des ‚Sehens‘ stellt der Liebe Reflexion, Voraussicht und Rücksichtnahme auf die Komplexität menschlicher Seinsverhältnisse polar gegenüber.
Obschon unentbehrlich, behält dieses ‚Sehen‘ instrumentale Funktion, ist also dem Lieben unterzuordnen.
Meiers Arbeit gliedert sich in sechs Teile. Im 1. Teil macht er dem Leser bewusst, inwiefern Pestalozzis Botschaft der Liebe als radikale Zeitkritik verstanden werden muss. Der aufklärerische Optimismus hatte bekanntlich einen uneingeschränkten Glauben an die Perfektibilität des Menschen durch Belehrung und Einsicht genährt und dessen Verwurzelung in der Religion weitgehend durch eine Verankerung in philosophisch begründeten Moralsystemen ersetzt. In der 1779 verfassten Schrift ‚Die Abendstunde eines Einsiedlers‘ stellt nun Pestalozzi dem Ansinnen, Gerechtigkeit auf ‚Erleuchtung‘ zu bauen, seine grundlegende Überzeugung entgegen, dass wahre Gerechtigkeit nur durch Liebe zu erwirken ist, und zwar durch Liebe, die im tiefen Bewusstsein der Gotteskindschaft wurzelt. Der Mensch steht von Natur aus in der Spannung von Liebe und Selbstsucht und erlebt sich selbst auch stets als ein Wesen des Mangels, aber diese Grundspannung und diese Seinsdefizienz lassen sich nur überwinden durch die dem innern menschlichen Wesen eigene Liebeskraft. Demgemäss ist Menschenbildung ihrem Wesen nach stets Bildung zur Liebe, wobei Liebe zugleich als das Fundamentale, das Konstitutive, das Zentrierende, das Allmächtige, das Unauslöschliche, Erneuernde, Befreiende, Gemeinschaftsstiftende, Massgebende und Veredelnde verstanden werden muss. In diesem mehr als 20 S. umfassenden Kapitel leistet Meier auf der Basis des Pestalozzischen Textbestands eine differenzierte Phänomenologie der Liebe und erhellt im Anschluss daran ebenso differenziert Pestalozzis ‚Methode der Liebe‘.

Im 2. Teil zeigt Meier nun auf, inwiefern sich Pestalozzi seine Botschaft der Liebe als fraglich erweisen musste: nicht, weil er etwa die Liebe nicht mehr als das tragende Mittel zur Überwindung der menschlichen Not anerkannt hätte, sondern weil er sich allmählich der Vieldeutigkeit und Missverständlichkeit seiner Botschaft bewusst wurde. Es galt, das tiefere Wesen der Liebe gegen blosse Sympathie, Zuneigung oder den auf Einigung drängenden Eros, gegen Gefühlsseligkeit, Gutmütigkeit, Mitleid, Empfindsamkeit und Rührung abzugrenzen. Darüber hinaus vertritt Meier die These, dem ursprünglichen Liebesbegriff Pestalozzis fehlten noch weitgehend die Elemente der Reflexion und bewussten Distanznahme, der Selbstüberwindung, Stabilität und Verlässlichkeit, der Stärke, Kraft und Belastbarkeit, der Klarsicht, Nüchternheit und des Realismus sowie der Verantwortung, Verpflichtung und Treue. Inwiefern diese Position vom Textbestand her wirklich haltbar ist oder sich als Konsequenz von Meiers Versuch erweist, nicht nur den Begriff der ‚sehenden Liebe‘ an sich zu erhellen, sondern auch dessen allmähliche Herausdifferenzierung im Verlaufe der Pestalozzischen Biographie darzustellen, muss einer eingehenderen kritischen Analyse vorbehalten bleiben. Insoweit Pestalozzi in den Jahren zwischen etwa 1783 und 1799 (Stans) zeitweise zum harten Realisten wurde und sein Denken stärker an ‚das Kot der Welt‘ mit ihren Eigengesetzlichkeiten gebunden war, aber auch insofern er in diesen Jahren um begriffliche Klarheit im Bereiche der Sittlichkeit des Menschen rang, scheint eine solche, von Meier postulierte Notwendigkeit einer klareren begrifflichen Differenzierung und auch realistischeren Ausprägung des Pestalozzischen Liebesbegriffs als einleuchtend. Irritierend wirkt, wenn Meier auf der einen Seite in der Abendstunde (1779) unter Bezugnahme auf Stein ein „ursprüngliches, noch weitgehend ungeschiedenes und monistisches Liebesverständnis“ (S. 99) feststellt, dann aber beim Aufweis „des eigentlichen Prozesses von Pestalozzis Bewusstwerdung“ (S. 101) Textstellen aus frühern Schriften zur Sprache bringt.

Logisch stringent kommt dann Meier auf das negative Gegenbild der ‚sehenden Liebe‘, auf die ‚blinde Liebe‘, zu sprechen. In einer gründlichen Analyse einer Fülle einschlägiger Textstellen bietet er eine fein ausdifferenzierte Phänomenologie der ‚blinden Liebe‘. Dabei erweist sich einerseits die ‚Blindheit‘ der Liebe als Chiffre für die natürlich-sinnlichen Vorläufer der menschlichen Liebe – ihre Eigenschaften sind „instinktive und dranghaft-blinde Dumpfheit, ihre Gefühlsbestimmtheit und Stimmungsabhängigkeit sowie ihre verletzliche Zartheit“, was zu „Unbeständigkeit, Lebensschwäche und Kurzsichtigkeit“ führt und dem „tierischen Wohlwollen“ eine „ausgeprägte Impulsivität“ verleiht (S. 117) –, andererseits ist ‚Blindheit‘ ein Bild für eine ganze Reihe von Fehlentwicklungen und Scheinformen einer nicht veredelten Liebe wie etwa Beherrschtwerden durch Gefühle, Unfähigkeit zu weiser Selbstkontrolle, Schwäche und Kraftlosigkeit, fehlende Tatbereitschaft, mangelnde Kritikfähigkeit und fehlenden Wirklichkeitsbezug, Intoleranz und Fanatismus, Selbstbezogenheit und Eigenliebe. Aber die ‚Blindheit‘ bezeichnet nicht nur die Defizienz der ‚unerleuchteten‘ Liebe an sich, sondern auch die Unfähigkeit realen Erkennens solcher ‚Gegen-Stände‘, auf die sich allenfalls menschliche Liebe beziehen kann.

In einem zusätzlichen Kapitel zeigt nun Meier auf, inwiefern Pestalozzi selbst die Gefährdung und den Fall eines Menschen, der in blosser blinder Liebe befangen ist, an einer literarischen Gestalt dramatisch darstellt. Es handelt sich um die Geschichte der Künigunde, die Pestalozzi im ‚Schweizerblatt‘ (1782) publiziert hat. Dabei besteht Meier durchaus zu recht darauf, dass der endgültige Fall des Mädchens erst möglich wurde, als sie aus dem Glauben an Gott herausgefallen war. Nachdem Meier auch die biographisch-existentiellen Wurzeln des gestellten Problems anhand einer Darstellung von Pestalozzis Kindheit aufgezeigt hat, hält er als vorläufigen Ertrag die folgenden Bedeutungselemente sehender Liebe fest: Sehende Liebe bewährt sich in der Welt und bewahrt sich dennoch selbst, sie ist Lebensstärke und Lebensweisheit, ist fähig, Pflichten wahrzunehmen. sie ist hellwach und offen für das Hier und Jetzt, sie vermeidet Umklammerung, Überforderung und Verwöhnung, ist tatkräftig, lastmindernd und belastungsfähig, aber auch denkend und planend, in Treue ausharrend und innern Halt verleihend.

Im 3. Teil der Abhandlung setzt sich Meier mit drei Arbeiten eingehend auseinander, denen er einerseits manche Anregung verdankt, die aber andererseits seine Arbeitshypothese am stärksten in Frage stellen. Es handelt sich um Schriften von Guyer (1932), Bachmann (1947) und Ballauf (1957).

Guyer ist es zu verdanken, dass er als erster die ‚sehende Liebe‘ als das Herzstück von Pestalozzis pädagogischer Botschaft erkannte. Andererseits weist Meier zu Recht Guyers These zurück, Pestalozzi hätte den Grundbestand seines Denkens bereits im Schriftenkreis um die ‚Abendstunde‘ ausformuliert und die späte pädagogische Phase Pestalozzis sei eine blosse Rückkehr zum ursprünglichen Denken, nachdem Pestalozzi in der mittleren Phase, die literarisch in den ‚Nachforschungen‘ gipfelt, von seinem eigentlichen Denken abgewichen sei. Meier vermag dann aber auch nachzuweisen, dass Guyer das ‚Sehen‘ im Begriff der sehenden Liebe lediglich als additiv der Liebe beigeordnetes ‚Organ‘ versteht und nicht zum eigentlich dialektischen Gehalt dieses Begriffs vordringt.

Bachmannn – in der Existenzphilosophie Heideggers und Binswangers wurzelnd – sah Pestalozzis Denken eingespannt in den Widerspruch zwischen Sein als Sorge und Sein als Liebe. Von diesem Ansatz her gelang es ihm, – durchaus im Sinne Pestalozzis – die gängige Trichotomie ‚Kopf, Herz und Hand‘ wesentlich als Dichotomie, d.h. als Kräfte, die der Sorge verpflichtet sind (Kopf, Hand) und als solche, die dem Sein als Liebe zu Grunde liegen (Herz), zu erkennen. Meier ist aber dort nicht mehr bereit, Bachmann zu folgen, wo dieser den Widerspruch von Sein in Sorge und Sein in Liebe dialektisch aufgehoben weiss im Begriff der ‚tätigen Liebe‘. Zu Recht macht Meier darauf aufmerksam, „dass es nach Pestalozzis Überzeugung gerade nicht genügt, dass Liebe durch Räumlichung und Zeitigung in der Weit tätig wird. Verschiedentlich hat Pestalozzi nämlich daran erinnert, dass es auch eine blinde Form liebender Betätigung gibt, welche die Sorgestruktur der Welt nicht kennt und ihr darum auch nicht genügend Rechnung tragen kann“ (S. 237). Insofern erweist sich der Begriff der ‚sehenden Liebe‘ als umfassender und fruchtbarer.

Am eingehendsten setzt sich dann Meier mit Ballauf auseinander. Dieser – ebenfalls Heideggers philosophisches lnstrumentarium benutzend – tritt an Pestalozzi mit der Frage heran: Vernünftiger Wille oder gläubige Liebe? Und es ist sein Anliegen, Pestalozzi gegen alte neukantianischen Vereinnahmungen zu verteidigen, wobei er freilich die ‚Nachforschungen‘ von seinem Ansatz her als einen vorläufigen Standpunkt interpretieren muss, der dann in der endgültigen Position (gläubige Liebe) aufgehoben sei. Meier kritisiert dabei – völlig zu Recht – das einseitig passive Liebesverständnis Ballaufs im Sinne eines ‚Sichüberlassens an Mitmenschlichkeit‘ als unversöhnlichem Gegensatz zum Begriff der Sittlichkeit, und er wirft ihm berechtigterweise vor, er versuche „künstlich zu trennen, was im Pestalozzischen Denken oft nicht geschieden. sondern zumeist in eigentümlichen Mischungen und Verbindungen auftritt“ (S. 275). Wie sich dann später zeigen wird, erliegt Meier doch ein Stück weit der Ballaufschen (und dann auch Bürkischen) Suggestion, die von ihrem dichotomen Ansatz (Sittlichkeit oder Liebe, Humanismus oder Christentum) ausgeht. Es ist ein wesentliches Merkmal Pestalozzischen Denkens, dass er es vermocht hat, unversöhnlich scheinende Gegensätze zu einer Synthese zu vereinigen.

Im 4. Teil entwickelt nun Meier differenziert und ausführlich sein eigenes Konzept der ‚sehenden Liebe‘. Er versucht zu zeigen, wie – trotz gewisser Diskontinuitäten – Pestalozzis Liebesverständnis einen innern Entwicklungsprozess durchmacht, der sich über eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten erstreckt. Nach Meier ist die treibende Kraft dieses Entwicktungsgangs in erster Linie Pestalozzis Bewusstsein, „dass dem eigenen Gedanken der Liebe, in seiner frühesten Ausprägung, die Lebenstauglichkeit fehlt“ (S. 284). Meier zeigt diesen Klärungsprozess auf im Verlaufe von drei Phasen. Die erste Epoche ist gekennzeichnet durch eine Ablösung des jugendlichen Ethos moralischer Erneuerung durch das Pathos von Glaube und Liebe und gipfelt in der ‚Abendstunde‘. Die zweite Epoche hebt an mit einer kritischen Prüfung „des einsiedlerischen Traums“ (S. 287), führt durch die Krise der ökonomischen Periode, der ‚Nachforschungen‘ und auch der frühen methodischen Schriften, die zum Selbstzweck zu werden drohen, und findet ihren Abschluss in der prägnanten Formulierung der ‚sehenden Liebe‘ in der Neujahrsansprache von 1809. Zur Charakterisierung der 3. Phase greift Meier nochmals zurück auf Ballaufs Begriff der ‚gläubigen Liebe‘: Diese Epoche steht „im Zeichen der Wiedergewinnung jener christlich-religiösen Tiefendimension, welche der Liebe ursprünglich zwar eigen war, die aber dann, im Zuge ihrer ‚Erleuchtung‘, zunehmend aus dem Blick geraten ist. Der Schritt von der ‚sehenden‘ zur ‚gläubigen‘ Liebe, welche die letzte Epoche kennzeichnet, ist nötig, um wieder klar Distanz zur humanistischen Position zu schaffen, welcher sich Pestalozzi im Laufe der mittleren Epoche zeitweilig stark genähert hat. Er führt jedoch nicht zur Abkehr vom Irdischen, sondern lediglich zur erneuten, nunmehr bewussteren Verankerung des liebevollen Tuns im Glauben an Gott als einzige und ‚ewige Ouelle der Liebe‘“ (S. 287). Durch diesen Schritt relativiert Meier seinen Begriff der ‚sehenden Liebe‘ – auf Ballaufs Begriff möchte er sich im Hinblick auf die pädagogische Ausrichtung seines eigenen Ansatzes nicht festlegen –, hofft aber, „damit ein fehlendes Zwischen- und Bindeglied ermittelt zu haben, mit dem sich die allzuschroffe Entgegensetzung von ‚vernünftigem Willen‘, und ‚gläubiger Liebe‘ mildern liesse, und das geeignet wäre, zwischen humanistischem und christlichem Daseinsverständnis zu vermitteln, ohne ein Vorhandensein des ersteren bei Pestalozzi gleich ignorieren zu müssen“ (S. 282).

Die beiden vorstehenden Zitate zeigen, dass Meier – wie bereits erwähnt – die Positionen Ballaufs und Bürkis ein Stück weit übernommen hat (was ihm u. a. den Zugang zu den ‚Nachforschungen‘ erschwert), dass es ihm aber andererseits dabei nicht ganz wohl ist. Damit bietet er Stoff für die Fortsetzung eines alten Streits: Ist Pestalozzi Christ oder Humanist, geht es ihm um Liebe oder Sittlichkeit? Aber auch: Sind dies echte Gegensätze? Hat nicht gerade Pestalozzi in Leben und Werk bewiesen, dass eine Synthese von Humanismus und Christentum, von Liebe und Sittlichkeit, von Autonomie und Glaube möglich ist? In diesen Fragen liegt Zündstoff, der noch lange nicht ausgebrannt ist.

Wie dem auch sei: Meier kommt mit seinem Ansatz in bezug auf seine Thematik zu einem überzeugenden Resultat. Im Begriff der ‚sehenden Liebe‘, vereinigen sich tatsächlich sämtliche pädagogischen Postulate Pestalozzis, betreffe dies nun das Erziehungsziel, den Weg dazu oder die Grundhaltung des Erziehers. Die durch den Doppelbegriff intendierte Dialektik umfasst auch die Synthese von autonomer Sittlichkeit im Sinne des deutschen Idealismus (im Aspekt des ‚Sehens‘ als eines Gewahrwerdens des Seinsollenden) und gottbezogener Liebeshaltung. Offen bleibt die Frage, inwiefern Meier in seiner Arbeit den Sittlichkeitsbegriff in Pestalozzis ‚Nachforschungen‘ unter dem Einfluss von Stein, Ballauf und Bürki nicht zu kantisch liest und dabei zu wenig gewahr wird, dass Pestalozzi bei der Analyse des Begriffs der Sittlichkeit (der damals ja in jedermanns Mund war), ohne es vermeiden zu können, die Phänomene von Liebe und Glaube mitdachte. Auch ist es denkbar, dass Meiers Postulat der dreiphasigen Entwicklung des Liebesbegriffs hinsichtlich ihrer zeitlichen Fixierung gelegentlich Opposition erwächst. Aber wie Meier am Beispiel von Guyer, Bachmann und Ballauf selbst demonstriert hat, bietet mehr oder weniger jede dezidierte Position Ansatzpunkte zu weiterführenden Reflexionen.

Im 5. Teil zeigt Meier, wie sich ‚blinde‘ bzw. ‚sehende‘ Liebe an drei Grundformen des mitmenschlichen Bezugs konkretisieren: im partnerschaftlichen Bezug, in der Liebe der Mutter zum Säugling und in der Liebe zum Armen. Für alle drei Verhältnisse finden sich in Pestalozzis Leben und Werk ausreichend Belege. Im Bereiche der erstgenannten Thematik benutzt Meier eine meist unbeachtet gebliebene Quelle (‚Epistel über die Freundschaft an Phryne‘ im Schweizerblatt 1782), um Pestalozzis Postulat der Verwandlung leidenschaftlicher Liebe in Freundschaft darzulegen. Obwohl die Behandlung dieser Thematik vom Gesamttitel her nicht zwingend ist, bedeutet sie doch für den Leser eine Bereicherung. In gewohnter Gründlichkeit und Ausführlichkeit geht dann Meier auf die sehende Liebe in ihrem Bezug zum Neugeborenen ein. Dabei zeigt er überzeugend, welch zentrale Bedeutung der Ruhe im Pestalozzischen Bildungskonzept zukommt. Dann formuliert er in 13 Punkten die tragenden Komponenten der Mutterliebe – eine Passage, die manchem(r) zu denken geben kann. Schliesslich analysiert Meier die sehende Liebe als Nächstenliebe in ihrer Ausprägung als Liebe zum Armen. Dabei kann er sich weitgehend auf Leo Weber stützen, der bekanntlich eine differenzierte Analyse von Pestalozzis Armenerziehungsidee vorgelegt hat.

Im 6. Teil schliesslich fasst Meier seine Resultate nochmals zusammen und charakterisiert das Wesen der sehenden Liebe durch eine Reihe von Merkmalen .

Wer sich der anspruchsvollen Arbeit einer eingehenden Lektüre von Meiers Arbeit unterzieht, legt das Buch als Bereicherter und Erfüllter wieder weg. Es ist dem Autor, nicht zuletzt wegen seiner eigenen Ergriffenheit und dank seiner saubern Sprache, gelungen, Pestalozzischen Geist wieder von einer neuen Seite her sichtbar und erlebbar zu machen. Dass sich im Kenner gelegentlich der Widerspruchsgeist regt, liegt wohl an der hermeneutischen Methode. Danach strukturiert die Summe dessen, was wir verstanden und wie wir es verstanden haben, jeweils das neu zu Verstehende. Es liegt an uns, zu beherzigen, was uns Pestalozzi angesichts dieses Sachverhalts mitgibt: „Wenn der Gedanke eines Menschen der Gedanke von Hunderten wird, so werden aus einem Gedanken hundert Gedanken, von denen kein einziger mehr der Gedanke des ersten ist, von dem dieser ausgegangen. Das Meinige, wenn es in hundert andere übergegangen, bleibt nicht mehr das Meinige, es wird das Seinige eines jeden, der es in sich selber selbständig bearbeitet. So trennt sich auch das Erhabenste in der menschlichen Wahrheit, nur soll es in der Liebe geschehen. Keines Menschen menschliche Wahrheit ist die Wahrheit des andern.“

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