Arthur Brühlmeier

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Die Beziehungen zwischen Pestalozzi und dem Kanton Thurgau

Zum 250. Geburtstag von Johann Heinrich Pestalozzi am 12. Januar 1996

Licht auf diese Beziehung wirft ein Briefwechsel zwischen Pestalozzi und dem Frauenfelder Pfarrer Hans Georg Kappeler. Der Kanton Thurgau hatte gemäss der Napoleon’schen Mediationsverfassung (1803) die allgemeine Schulpflicht eingeführt, und die liess sich gegen die Widerstände der Bevölkerung nur durchsetzen, wenn die Schulen erfolgreicher wurden. Der kantonale Schulrat, dessen Aktuar der Frauenfelder Pfarrer war, musste sich also etwas einfallen lassen. Und da Pestalozzi seit seiner Burgdorfer Zeit (1800 bis 1804) europäischen Ruf genoss und seine neuen Lernmethoden vielerorts Aufsehen erregten, lag es nahe, sich an ihn zu wenden. So teilte denn Kappeler am 16. Sept. 1805 dem berühmten Pädagogen mit, der Schulrat habe beschlossen, ihm einen fähigen jungen Mann zur Lehrerausbildung zu schicken. Pestalozzi, der für sein Institut 1804 eine endgültige Bleibe im Schloss Yverdon gefunden hatte, antwortete: „In meinem Hause würde er genährt und unterrichtet. Nebst dem gewöhnlichen Unterricht, der den Zöglingen gegeben wird, erhielte er täglich noch zwei besondere Lektionen als künftiger Lehrer. In dem Hause selbst könnte er aber gegenwärtig nicht logieren; deswegen müsste ich ihn bitten, ein Zimmer aussert dem Hause mit einem Bett zu mieten, dergleichen hier leicht zu finden sind. Für die Besorgung, die ein solcher Lehrer in meinem Institut erhält, bin ich gewohnt, jährlich 25 Louisdors zu verlangen.“

Die Wahl fiel auf Kaspar Meyer. Dessen Lehrer, Johann Caspar Haefeli, schrieb in seinem Empfehlungsschreiben an Pestalozzi, er sende ihm einen jener Schüler, der ihn bisher „nie betrübt“ hätte, zum Zwecke, dass sich „die ersten Keime geistiger und sittlicher Kräfte“ in seiner Seele entwickeln möchten. In Yverdon hatte man inzwischen dafür gesorgt, dass er „bei honetten Bürgersleuten“ eine Unterkunft fand. Bereits am 15. Januar 1806 schickte Pestalozzi dem Schulrat die Rechnung für das 2. Vierteljahr und schrieb über den jungen Meyer: „Er ist fleissig, gutmütig, fähig und anhänglich. Ich bin versichert, dass er die Methode vorzüglich fassen und dem Endzweck, um dessentwillen er hierher gesandt worden, zu Ihrer Zufriedenheit entsprechen wird. Er macht sich Lehrer und Knaben zu Freunden, und sein Betragen ist in allen Rücksichten nur lobenswert. Ich freue mich sehr in der Hoffnung, dass dieser Jüngling in Ihrer Mitte der Methode Ehre machen werde.“

Wie hier ersichtlich, bezeichnete Pestalozzi damals seine Erziehungs- und Bildungsidee einfach als ‘Methode’; später nannte er sie ‘Idee der Elementarbildung’. Es handelt sich dabei einerseits um fundamentale pädagogischen Grundsätze: Bildung und Erziehung müssen sich der menschlichen Natur unterwerfen; die naturgegebenen Kräfte und Anlagen des Menschen können nur durch Selbsttätigkeit, durch Gebrauch und Übung allseitig ausgebildet werden; die intellektuellen und die handwerklichen Kräfte haben sich den gebildeten Herzenskräften unterzuordnen; wahrhafte Bildung erfordert eine von Liebe und Vertrauen geprägte zwischenmenschliche Beziehung; man darf in keinem Bildungsschritt weiterfahren, bevor er wirklich gefestigt ist; man muss bei allem Lernen beim Elementaren ansetzen und solide Fundamente legen; Ausgangs- und Orientierungspunkt jeder guten Erziehung und Bildung ist die von ‘sehender Liebe’ der Eltern geprägte Wohnstube; es gilt, jedes Kind in seiner Individualität ernstzunehmen. Auf der andern Seite entwickelten Pestalozzis Mitarbeiter eine Reihe von unterrichtspraktischen Methoden, die damals viele Interessierte einfach als Rezepte übernahmen. Dazu gehörten z.B. die neue Lesemethode mit Hilfe des Setzkastens, den Pestalozzi in Burgdorf erfunden hatte, das Chorsprechen und das Erlernen des Rechnens mit exakt ausgearbeiteten arithmetischen Übungsreihen. Natürlich sind diese konkreten Lernmethoden heute teilweise überholt. Zeitlos gültig bleiben seine grundlegenden Ideen, die er aus seiner tiefen Sicht in die menschliche Natur geschöpft hat.

Noch während Meyer in Yverdon weilte (er blieb bis 1808), erkundigte sich der Thurgauer Schulrat bei Pestalozzi auch über die Möglichkeiten der Ausbildung von Töchtern. Pestalozzi führte nämlich in Yverdon neben seinem Knabeninternat im Schloss auch ein Töchterinstitut in der Stadt. Am 25. Feb. 1807 schrieb sein engster Mitarbeiter, der Theologe Johannes Niederer, dem Thurgauer Schulrat, „der besondere Unterricht und die Übung in speziellen weiblichen Kenntnissen und Arbeiten“ beruhe auf der allgemeinen Entwicklung von Kopf, Herz und Hand, aber Pestalozzi stehe erst „noch im Anfang der Ausführung seines umfassenden Entwurfs einer allgemeinen Industriebildung“. Pestalozzi befasste sich damals mit der Systematisierung der handwerklichen Bildung als Grundlage für alle handwerklichen Berufe, was allerdings nie zur Reife gelangte. Möglich, dass die Thurgauer durch eine Bemerkung Niederers abgeschreckt wurden: Er wies nämlich nicht bloss darauf hin, dass die Töchterschule vorwiegend nach Geistes- und Herzensbildung strebe, sondern stellte fest, sie eigne sich „mehr für etwas Begüterte und für den wohlhabenden Bürgerstand, und anderseits für die Bildung von Lehrerinnen und Vorsteherinnen weiblicher Erziehungsanstalten selbst“.

Natürlich beschränkte sich Pestalozzis Einfluss in den Thurgau nicht bloss auf die Wirkungsmöglichkeit eines einzelnen besonders gut ausgebildeten Lehrers. Etwa 80 Lehrer des Kantons besuchten nebenberuflich zweijährige Kurse, wo sie sich unter anderem mit Pestalozzis Lesemethode vertraut machten. Kein Wunder, dass sich Pestalozzi dafür interessierte, wie sich die Dinge in diesem Kanton entwickelten. Am 14. Febraur 1808 erstattete dann Pfarrer Kappeler dem Pädagogen in Yverdon einen umfassenden Bericht über den Zustand des Schulwesens im Kanton Thurgau. Da erfahren wir u.a., dass sich die Eltern gegen die Pestalozzischen Rechenübungen wandten, „weil die Sache zu langsam geht“. Kappeler selber verteidigt aber die neue Lehrart, weil er verstanden hat, dass es sich ausbezahlt, wenn man lange bei den Fundamenten weilt. Es scheint, dass er selber auch Kinder unterrichtete, schreibt er doch: „Die Erfahrung hat mich in meiner Schule gelehrt, dass vermittelst der Anfangsgründe der Grammatik und der beweglichen Buchstaben in einem halben Jahr Bauernkinder von 10 bis 12 Jahren fehlerfrei schreiben lernen und dabei manche für ihr ganzes Leben nützliche Sachkenntnis sammeln.“ Auch das Chorsprechen stiess bei gewissen Leuten auf Unverständnis. Für Pestalozzi war es ein Mittel, um die Artikulation zu verbessern und gleichzeitig alle Schüler zu aktivieren, aber die Bauern sahen darin ein Gebaren, das „einer katholischen Litanei gleicht“. Kappeler ergreift stets für Pestalozzi Partei. Als führender Kopf des Thurgauer Schulrats hat er das Wasser der Yverdoner Quelle auf die Thurgauer Schuläcker geleitet.

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