Arthur Brühlmeier

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Arthur Brühlmeier
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Macht und Autorität in der Erziehung

Grundsätzliche Erwägungen für die Erziehungspraxis in Schule und Elternhaus

Das Telefon schrillt. Eine verzweifelte Frau ist am Apparat. Eben ist ihre zwölfjährige Tochter davongelaufen. Schon seit langem macht sie, was sie will, und missachtet die Wünsche oder Verbote der Mutter. Da hat es eine laute Szene abgesetzt. Die Mutter wurde vom Zorn gepackt, sie schrie und schlug zu, und auch die Tochter schrie und schlug zurück. Und dann knallte sie die Türe hinter sich zu, und nun sitzt die Mutter da und weint. In ihrer Verzweiflung tut sie wohl das Vernünftigste: Sie wendet sich an die Erziehungsberatung.

Keine Frage: Die Mutter hat auf die Tochter Macht ausgeübt (natürlich auch die Tochter auf die Mutter), ja sie hat sich nach der gängigen Sprachregelung sehr ‘autoritär’ verhalten, und trotzdem fehlt es ihr – zumindest im Moment – an Autorität. Macht und Autorität sind somit nicht dasselbe, obwohl Autorität etwas mit Macht zu tun hat.

Um also die Bedeutung von Macht und Autorität für die Erziehung verstehen zu können, ist es vorerst nötig, differenziert über das Wesen der Macht nachzudenken.

Macht – was ist das?

Es ist heute schwierig, sachlich über Macht zu reden; sie ist in Verruf geraten: Viele denken dabei gleich an allgewaltige, aus dem Hintergrund wirkende Finanzhaie, an schlagende Polizisten, an schiessende Soldaten, an einsame politische Entscheide der Behörden, an Unterdrückung der Mitmenschen, an autoritäre Lehrer und Erzieher. Und da wird dann zumeist auch der berühmte Historiker Jakob Burckhardt zitiert, der bekanntlich gesagt hat, Macht sei an sich böse.

Ich kann diese Sicht nicht teilen. Mit gutem Grund sagt z.B. Pestalozzi: „Nicht die Macht, der Mensch, der sie in der Hand hat, ist schuld an dem Verderben seines Geschlechts. Alle Folgen der Macht sind heilig und gut, solange der Mensch, der sie in der Hand hat, treu ist und sein Wort ein biederes Wort und seine Treue unbeweglich ist wie die unbeweglichen Sterne“ (Sämtliche Werke 12, S. 49).

Offensichtlich ist entscheidend, wer die Macht ausübt, wer also Träger, Inhaber, Macht-Subjekt ist. Dabei sind folgende Fälle möglich:

  •  Individuelle Macht: Die Macht wird von einem konkreten Individuum gegenüber andern Individuen ausgeübt und zwar aus Gründen, die in der psychischen Verfassung des Machtausübenden liegen. Beispiele: Kinder plagen einander gegenseitig; Streit unter Nachbarn oder unter Kollegen am Arbeitsplatz.
  • Institutionelle Macht: Die Macht liegt bei einer Institution, welcher durch Recht und Gesetz definierte und beschränkte Macht zugesprochen ist. Beispiele: Der Staat zwingt zum Bezahlen von Steuern; ein Unternehmen verbietet den Gebrauch des Mobiltelefons am Arbeitsplatz. Die institutionelle Macht kann indessen ebenfalls von einem Individuum ausgeübt werden. Diese Machtausübung ist dann nicht in einem subjektiven Machtbedürfnis begründet, sondern ein Ausdruck von Kompetenzen, welche eine Institution bestimmten Personen übertragen hat. Beispiele: Ein Polizist geht gegen einen Gesetzesbrecher vor; ein Arbeitgeber oder Vorgesetzter erteilt einem Untergebenen einen Befehl; ein Lehrer gibt einem Schüler einen Auftrag.
  • Strukturelle Macht: Die Macht wirkt unkontrolliert und diffus und geht ganz allgemein aus von Gegebenheiten und Strukturen der Gesellschaft. Beispiele: Menschen fügen sich dem Modediktat; die Werbung verlockt zum Kauf bestimmter Produkte.

Da das einzelne Individuum sowohl aus eigenem Machtbedürfnis wie auch auf der Basis von entsprechenden Kompetenzen Macht ausüben kann, fasse ich diese beiden unterschiedlich begründeten, aber in ihren Erscheinungsformen oft kaum zu unterscheidenden Arten der Machtausübung zusammen als personale Macht.

Alle meine weiteren Ausführungen beschränken sich auf die personale Macht, und zwar nur insofern sie Auswirkungen auf andere Menschen hat. Man könnte nämlich auch die Möglichkeit eines Menschen, irgendwelche dinglichen Verhältnisse nach seinem eigenen Willen zu gestalten (z.B. ein Auto zu fahren, ein Haus zu bauen usf.) als Macht bezeichnen, doch lasse ich dies unberücksichtigt. Unter personaler Macht verstehe ich folglich die Möglichkeit eines Individuums, das Verhalten oder das Schicksal eines andern Menschen dem eigenen Willen oder dem Willen einer Institution zu unterwerfen.

Nun gehört die Einflussnahme auf das Schicksal eines Menschen ohne dessen Einwilligung in den Bereich der Manipulation und widerspricht einem pädagogischen Konzept, das sich die Mündigkeit des jungen Menschen zum Ziele setzt. Ich vernachlässige daher hinfort auch diese – an sich wichtige – Komponente der personalen Macht.

Fassen wir nun also die personale Macht als die Möglichkeit eines Menschen ins Auge, das Verhalten eines andern Menschen seinem eigenen Willen oder dem Willen einer Institution zu unterwerfen, so ist nicht einzusehen, weshalb dies von vornherein schlecht sein soll. Macht, so verstanden, ist an sich wertfrei, und ob sie gut oder ungut ist bzw. wirkt, hängt von vielen weiteren Umständen ab.

Erscheinungsformen personaler Machtausübung

Ich gehe wiederum von Beispielen aus: Drei Schüler benehmen sich gegenüber ihrem jeweiligen Lehrer frech. Lehrer Schlägli versetzt Daniel darauf eine Ohrfeige, Lehrer Schreier tadelt Marius mit harten Worten und droht mit Arrest, während Lehrer Liebermann zu Michael sagt: Deine Rede verletzt mich, ich möchte deshalb mit Dir reden. Der Bub lässt sich auf ein Gespräch ein und ändert hinfort sein Verhalten.

Nach unserer Definition wurde in allen drei Fällen Macht wirksam, denn alle drei Lehrer wirkten auf ein Kind mit dem Willen ein, sein Verhalten zu ändern.

Um die Unterschiede im Handeln dieser drei Lehrer zu verstehen, ist die Vorstellung hilfreich, dass der Mensch eine dreigliedrige Ganzheit aus Körper, Psyche und Geist darstellt. Dabei soll offen bleiben, inwiefern es sich bei dieser Gliederung um gedankliche Konstruktionen oder um substanzhafte Wesensschichten des Menschen handelt. Es ist mir auch bewusst, dass die Abgrenzung der drei Schichten bzw. Aspekte sehr schwierig ist. Insbesondere die Unterscheidung von Psyche und Geist ist voller Probleme. Der Tendenz nach meint sie folgendes: Das Psychische wurzelt im Subjektiven, es hat mit Gefühlen, Trieben und ichbezogenen Ansprüchen und Bedürfnissen zu tun und unterliegt grundsätzlich dem Gesetz der Notwendigkeit. Das Geistige hingegen wurzelt im Objektiven, es hat mit Vernunft, mit objektiven Werten und sachlichen Erfordernissen zu tun und unterliegt dem Gesetz der Freiheit, mithin auch dem moralischen Urteil. Rückt das Psychische die konkrete Individualität mit ihren momentanen Befindlichkeiten in den Vordergrund, so wird im Geistigen der überdauernde Wesenskern des Menschen sichtbar.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es reine Logik, dass sich die personale Macht – als Möglichkeit der Einwirkung auf andere Menschen – auf allen drei Ebenen manifestiert:

Bei der Macht auf der körperlichen Ebene handelt es sich um physische Gewalt auf der Basis von Muskelkraft und Geschicklichkeit sowie um den Gebrauch von physischen Waffen jeglicher Art.

Auf der psychischen Ebene erscheint die Machtausübung in zwei Formen, nämlich offen und verschleiert:

  • Die offene psychische Macht äussert sich als Druck, Nötigung oder Einschüchterung. Die Mittel kennt wohl jeder Mensch aus eigenem Erleben: Es wird befohlen, gefordert und verboten, es wird gedroht und gescholten, es werden Vorwürfe erhoben und verletzende Worte gesprochen.
  • Bei den verschleierten Formen handelt es sich klar um Manipulation, da die Absicht der Machtausübung unausgesprochen bleibt: Es werden Schuldgefühle erweckt, dem andern wird die Zuneigung entzogen, seine Minderwertigkeitsgefühle werden genährt, er wird verwöhnt und auf diese Weise vereinnahmt, oder sein Ehrgeiz wird angestachelt. Die meisten Menschen, die sich im zwischenmenschlichen Kontakt dieser Manipulationen bedienen, tun dies unbewusst. Sie benutzen ganz instinktiv auf schlaue Weise die psychischen Schwächen und Bedürfnisse des andern, um ihre eigenen Machtansprüche durchzusetzen, wobei sie es stets vermeiden, diese auch klar auszusprechen.

Neben diesen beiden Formen psychischer Machtausübung, die mehr oder weniger von allen Menschen angewendet werden, existiert eine Form psychischer Macht, die einzelne Menschen gewissermassen als ‚Talent‘ besitzen, nämlich die sog. ’natürliche Autorität‘. Sie bewirkt, dass sich andere Menschen relativ willig unterordnen, obwohl sich der Machthaber oft weder durch besondere Fähigkeiten, besondere Geistesgaben oder herausragende Moral auszeichnet. Vielleicht hat das etwas mit Sympathie zu tun, vielleicht mit der bestimmten Art des Auftretens und Sprechens, vielleicht mit einer schwer zu fassenden suggestiven Kraft. Setzen sich der ’natürlichen‘ Autorität, die nur gerade das und nichts darüber hinaus ist, Widerstände entgegen, so wirkt auch sie als Druck, Nötigung oder Einschüchterung. Fehlen diese Widerstände und ist diese natürliche Autorität nicht gepaart mit ‘geistiger Autorität’, so birgt sie in sich stets auch die Gefahr der Verführung. Die Geschichte der Menschheit ist voller Beispiele.

Der Mensch ist aber nicht bloss als physisches und psychisches, sondern auch als geistiges Wesen mächtig. Die Macht auf der geistigen Ebene erscheint als geistige Stärke, als Ausstrahlung der Persönlichkeit aufgrund ihres eigenen inneren Wertes, als Glaubwürdigkeit, als Überzeugungs- und Durchsetzungskraft. Ich fasse dies künftig unter dem vereinfachenden Begriff ‚geistige‘ oder ‚echte‘ Autorität zusammen.

Es ist nun zu betonen, dass im praktischen Leben diese drei Ebenen der Macht (physisch, psychisch, geistig) zumeist nicht in reiner Form auftreten, sondern miteinander durchmischt sind. So ist Gewaltanwendung fast immer mit psychischem Druck und Einschüchterung verbunden. Aber auch die ‚geistige‘ Autorität ist oft mit der ’natürlichen‘ Autorität (und gelegentlich sogar mit physischer Gewalt) gepaart und macht dann einen Menschen besonders stark und einflussreich.

Die Stufen der personalen Machtausübung

Ein Lehrerstudent lud mich einmal so beiläufig ein, einer Gesangslektion in einer 6. Klasse beizuwohnen, die er im Rahmen der Übungsschule zu erteilen hatte; ich müsse mich aber darauf gefasst machen, eine nicht zu bändigende „Rasselbande“ anzutreffen, denn der Übungslehrer sei heute abwesend. Viel werde daher bei seiner Lektion nicht herausschauen. Da flüsterte mir der Hochmuts-Teufel ein: Ja, der Seminarist schafft das eben nicht, aber dir wird es wohl gelingen, die Klasse zu beruhigen. Und so liess ich mich denn dazu verführen, den Seminaristen zu begleiten.

Es kam nicht gut heraus. Ich sass während längerer Zeit auf einem Stuhl und schaute dem Treiben zu. Der arme Seminarist konnte nun wirklich nichts, aber auch gar nichts mit der Klasse anfangen. Es herrschte ein solches Tohuwabohu, dass ich in diesem Augenblick in der Institution Schule nicht den geringsten Sinn mehr zu erkennen vermochte. Irgend einmal entschloss ich mich einzugreifen. Ich stand auf, stellte mich vor die Schüler hin, schaute sie streng an – einen Moment wurde es mäuschenstill, und ich begann schon zu triumphieren – und fragte dann: „Gefällt euch dies?“ Eine weitere Sekunde der Ruhe verstrich, aber dann ging’s wieder los, genau wie zuvor. Ich hatte nicht die geringste Chance, irgend einen Satz zu sagen, der von den Schülern gehört worden wäre. So herrschte ich sie denn an, ziemlich laut, und abermals kehrte eine gewisse Ruhe ein. Aber wiederum nur für kurze Zeit. So konzentrierte ich mich denn auf die zwei, drei schlimmsten Bengel, aber ich geriet an die falschen, denn die warfen mir Frechheiten an den Kopf, wie ich es mir nie hätte ausdenken können. Dass sie mich nicht gerade anspuckten, konnte ich noch als Glück bezeichnen. Schliesslich gebot ich dem Buben mit dem frechsten Maul, er solle das Zimmer verlassen, aber der tobte wild drauflos, warf mir nur noch üblere Gemeinheiten an den Kopf und war überhaupt nicht gesonnen, meine Anweisung zu befolgen. So packte ich ihn denn schliesslich an der Hand und stellte ihn gewaltsam vor die Türe, wo ich mir dann solche Beleidigungen gefallen lassen musste, dass ich es nur mit grösster Beherrschung schaffte, ihn nicht zu schlagen.

Ich habe hier viel gelernt. Erstens: Wenn die wirkliche Autorität nicht trägt, dann greift man, will man seine Ziele nicht aufgeben, unwillkürlich zu psychischem Druck, und reicht auch der nicht aus, landet man, will man wiederum nicht aufgeben, bei der physischen Gewalt. Allgemein gesprochen: Das Verhalten der Kinder stellte mich vor die Wahl, entweder mein Ziel – Ruhe zu schaffen, damit der Seminarist unterrichten konnte – aufzugeben oder bei der Anwendung meiner Machtmittel eine Stufe tiefer zu gehen und dabei gleichzeitig meine pädagogischen Idealvorstellungen aufzugeben. Denn: Versucht die echte Autorität das Kind von innen her zu wandeln und damit wirklich zu erziehen, so taugen Nötigung und Zwang in der Regel bloss zur Bereinigung der momentanen Situation.

Natürlich habe ich mich gefragt, weshalb meine erste Intervention ihre Wirkung verfehlte, und die Antwort liegt auf der Hand: Ich war für die Kinder keine Bezugsperson, sondern irgend ein hergelaufener Unbekannter, dessen Worte für sie Luft waren. Zwei Erkenntnisse lassen sich somit aus diesem Vorfall ableiten:

  1. Wirkliche Autorität wächst allmählich heran und wirkt nur im Rahmen einer lebendigen personalen Beziehung.
  2. Bleibt eine der höheren Formen der Macht wirkungslos, so steigen wir instinktiv zur jeweils tieferen Ebene hinab; ja, wir sind sogar dazu genötigt, wenn wir das Ziel nicht aufgeben wollen.

Reaktionen auf die drei Arten der Macht

Die Menschen reagieren unterschiedlich, je nachdem, welche Art personaler Macht auf sie ausgeübt wird:

Im Falle der physischen und der psychischen Macht fühlen sie sich – je nach Situation – unterdrückt, eingeschränkt, gegängelt, bevormundet, nicht ernst genommen oder verletzt. Logisch also, dass sie sich ihr nach Möglichkeit entziehen wollen.

Ganz anderes bewirkt die echte Autorität. Sie erzeugt im andern – das muss nicht immer ein Kind sein, denn auch der Erwachsene respektiert echte Autorität – das Gefühl des Geführt- und Erhobenseins, der Achtung, Ehrfurcht, Sicherheit und Geborgenheit. Der ‚geistigen‘ Autorität gegenüber reagieren wir im allgemeinen mit innerem Gehorsam. Dabei bleibt – wie schon erwähnt – die Freiheit erhalten, weil man das als gut Befundene ja selbst will.

Zwei Funktionen der personalen Macht

Der Unternehmer Müller kündigt einem seiner Angestellten, weil dieser seit Jahren seine Mitarbeiter belästigt und Unfrieden stiftet. Der Unternehmer Moser erscheint täglich in seinem Betrieb, und jedesmal macht er alles drunter und drüber. Aber er ist der Chef und darf das.

Kein Zweifel: Beide üben Macht aus. Aber es besteht dabei ein grundlegender Unterschied:

Herr Müller nutzt die Macht zur sachlichen Lösung eines Problems. Er macht dabei von jener Macht Gebrauch, die ihm rechtens als Unternehmer zusteht. Mit andern Worten: Er verkörpert in seiner Person die institutionelle Macht.

Anders Herr Moser. Er hat die Machtausübung aus psychischen Gründen selbst nötig. Dabei bedient er sich der institutionellen Macht, um sein subjektives Machtbedürfnis zu verschleiern.

Dies zeigt, dass grundsätzlich alle Menschen, denen bestimmte Kompetenzen zur Machtausübung durch eine Institution zugesprochen sind, in eine Doppelrolle geraten: Einerseits üben sie legitimerweise Macht aus im Auftrag der Institution, andererseits müssen sie mit ihrem eigenen subjektiv begründeten Machtanspruch oder Machtbedürfnis zurecht kommen. Zumeist sind sich die Machtausübenden genau so wenig wie jene, auf die die Macht ausgeübt wird, dieser Problematik bewusst. Das führt dazu , dass die ersteren dazu neigen, die institutionelle Macht in den Dienst ihrer subjektiven Machtansprüche zu stellen, während die letzteren die legitime institutionelle Machtausübung sehr oft als subjektiv begründeten Machtanspruch umdeuten. Diese Unklarheit führt zu vielen Konflikten. Bei der Analyse eines solchen Konflikts ist stets klarzustellen, ob die Machtausübung rein individuell ist oder ob sie sich von institutionellen Kompetenzen herleitet. Im zweiten Fall ist immer auch zu unterscheiden, ob der Machtausübende von der Institution zum Machtgebrauch genötigt ist oder ob es ihm frei steht, im konkreten Fall die Macht gemäss seinem Gutdünken einzusetzen.  

Ursachen des subjektiven Machtbedürfnisses

Der Tiefenpsychologe Alfred Adler hat sich lebenslang mit der Frage beschäftigt, weshalb wir Menschen in vielen Situationen offensichtlich mit Machtausübung reagieren, obwohl die anstehenden Probleme ohne Machtanwendung häufig besser und sachgerechter gelöst werden könnten. Er weist überzeugend nach, dass in jedem von uns von klein auf Minderwertigkeitsgefühle wirksam sind, die irgend einem Ausgleich – einer Kompensation – rufen, nämlich dem Streben nach Geltung, Überlegenheit oder Macht. Je stärker in einer Situation unsere latent vorhandenen (aber nicht bei allen Menschen gleich starken) Minderwertigkeitsgefühle spürbar werden, desto grösser ist unser Drang, durch Ausübung personaler Macht eine gewisse Sicherheit zu erlangen. Adler zeigt freilich, dass dies eine blosse Scheinsicherheit ist und dass wir besser daran täten, zu unseren unvermeidlichen Schwächen zu stehen und gleichzeitig das angeborene Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Im Gegensatz zum Machtstreben, das er als fiktives Ziel bezeichnet, handelt es sich nämlich bei der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls um eine reale Zielsetzung, weil daraus allgemein die Fähigkeit wächst, alle anfallenden Probleme sachlich (und nicht unter dem Aspekt, welches Prestige sie dem einzelnen eintragen) zu lösen.

Im Hinblick auf die Tatsache, dass jedes Kind – gleichgültig, in welchen sozialen Verhältnissen es lebt – sich als schwach und hilflos empfindet und dadurch Minderwertigkeitsgefühle entwickelt, ist nicht anzunehmen, dass es Menschen gibt, deren Verhalten keinerlei kompensatorischen Charakter hat. Jeder Mensch hat also in seinem Seelenleben „neurotische Züge“. Trotzdem ist der Anteil an Kompensation im Verhalten der einzelnen Menschen sehr unterschiedlich: Während bei den einen das Gemeinschaftsgefühl stark ausgebildet ist, dominiert bei andern das Überlegenheits- und Machtstreben. Theoretisch kann man davon ausgehen, dass sich das Machtstreben umgekehrt proportional (komplementär) zum Gemeinschaftsgefühl verhält: Je mehr vom einen, desto weniger vom andern. In der folgenden Auflistung finden sich einige komplementäre Haltungen und Verhaltensmöglichkeiten.

Machtstreben Liebesmöglichkeit
Minderwertigkeitsgefühl Selbstwertgefühl
Geltungsstreben Sachbezogenheit
Sicherungstendenz, Absicherung Risikobereitschaft
Angst Sicherheit
Selbst-Ablehnung Selbst-Annahme
Eigenliebe Selbstliebe
Verschlossenheit Offenheit
Maske, Rolle Echtheit
Misstrauen Vertrauen
Zwanghaftigkeit Freiheit
Heteronomie (wichtig ist, was man tut) Autonomie (Eigenständigkeit)

                              

Die Tabelle ist so zu verstehen: Man kann zwei beliebige Begriffe derselben Seite miteinander verknüpfen und sagen: Je mehr vom einen, desto mehr vom andern. Man kann aber auch irgend einen Begriff auf der linken mit irgend einem auf der rechten Seite verbinden und sagen: Je mehr vom einen, desto weniger vom andern. Also: Je grösser bei einem Menschen das Minderwertigkeitsgefühl ist, desto mehr sichert er sich ab. Oder: Je grösser bei einem Menschen das persönliche Machtstreben ist, desto weniger kann er den andern Vertrauen schenken.

Dabei ist zu bedenken: Beide Seiten gehören zum Menschen. Die Vorstellung, es liesse sich ein Menschsein ohne das Schattenhafte verwirklichen, ist irreal. Psychische Gesundheit ist demgemäss etwas Relatives: Je selbstverständlicher einem Menschen die Möglichkeiten der rechten Kolonne zur Verfügung stehen, desto gesunder ist er. Krank (neurotisch) sind Menschen, die in hohem Masse auf die Verhaltensweisen in der linken Kolonne fixiert sind und wenig Spielraum in die Gegen-Richtung mehr haben. Wie gross jeweils die Anteile der beiden Seiten sind, hängt einerseits von der generellen psychischen Gesundheit des Individuums und andererseits von der jeweiligen Situation ab.

Aus dem Gesagten geht hervor, dass das Machtstreben als Kompensation allgemein vorhandener Minderwertigkeitsgefühle eine Versuchung für alle Menschen darstellt und es demgemäss eine unserer Aufgaben ist, es in unserem Verhalten zu erkennen und uns – soweit Machtausübung einem lediglich psychischen Bedürfnis entspricht – entsprechend zu zügeln.

Macht und Autorität in der Erziehung

Erziehen bedeutet, im jungen Menschen positive Verhaltensweisen zu entwickeln, die ohne diese Einflussnahme nicht oder nicht in dieser Weise zustande kämen. Der Erzieher muss also die Möglichkeit haben, auf das Kind einzuwirken, er muss folglich Macht – in welcher Form auch immer – über das Kind haben. Diese Macht ist das Fundament, worauf alle Erziehung ruht.

Das mag hart klingen, aber es ist reine Logik. Wie soll z.B. ein Lehrer seine als gut erkannten Kommunikationsformen – Gespräch, aufeinander hören, in Ruhe von seinen eigenen Bedürfnissen und Problemen sprechen – in einer Schulklasse verwirklichen können, wenn er die Schüler nicht mehr dazu bringt, dass sie ihre Stühle nehmen und sich in einen Kreis setzen, um miteinander zu reden. Oder wie soll die Mutter, von der eingangs die Rede war, in einer ruhigen Stunde die gemeinsamen Probleme mit der Tochter besprechen, wenn sie es nicht mehr zustande bringt, dass die Tochter überhaupt zuhört. Da nützen die schönsten pädagogischen Grundsätze nichts mehr, denn sie kommen erst zum Tragen, wenn der Erzieher gewisse pädagogische Grundbedingungen durchsetzen kann.

Thesen

Die vorgelegte Analyse des Begriffs der Macht ermöglicht nun eine differenzierte Beurteilung der Bedeutung der Macht in der Erziehung. Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Beweggründe, weshalb ein Erzieher (Eltern oder Lehrer) Macht ausüben kann: subjektives Machtbedürfnis, institutionelle Vorgaben und/oder erzieherische Verantwortung. Dementsprechend halte ich folgende Thesen für zutreffend:

  1. In der Erziehung steht der Erzieher stets im Konflikt zwischen erzieherisch begründeter und/oder institutionell legitimierter Machtausübungauf der einen Seite und dem persönlichen Machtbedürfnis auf der anderen. Dabei besteht die Gefahr, dass das persönliche Machtbedürfnis nicht als solches erkannt und irrtümlich für erzieherisch nötig oder institutionell erforderlich bzw. gerechtfertigt gehalten wird
  2. Das persönliche Machtbedürfnis äussert sich als physische und psychische Macht und tritt insbesondere dann zutage, wenn der Erzieher persönlich verletzt wird und in einem Konflikt zu unterliegen droht. Werden nun physische und psychische Macht in erzieherischer Absicht oder als institutionelles Erfordernis eingesetzt, so interpretiert das Kind dies instinktiv als persönlichen Machtanspruch des Erziehers und reagiert daher meist mit einer eigenen Machtdemonstration: Ablehnung, Misstrauen, Gegendruck, Störung, Gehorsamsverweigerung.
  3. Die eigentlich erzieherisch wirksame Macht der Erwachsenen liegt in der ‚geistigen‘ Autorität.
  4. Je mehr ‚geistige‘ Autorität jemand hat, desto weniger muss er, um die in der Erziehung nötige Macht aufrecht zu erhalten, auf die psychische und physische Macht zurückgreifen, und umgekehrt.

Die drei Arten personaler Macht in der Erziehung

Wie oben dargelegt, üben wir Erzieher nicht nur aus pädagogischen Gründen Macht auf das Kind aus, sondern auch aus eigenen Bedürfnissen (weil wir in Ruhe gelassen oder uns vor irgendwelchen Angriffen des Kindes schützen wollen) oder aus eigenem Machtbedürfnis zur Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen. Diese Formen der Machtausübung kennzeichnen grundsätzlich jede konflikthafte Kommunikation zwischen Mensch und Mitmensch und sind primär nicht erzieherisch gemeint, sondern dienen der Selbstbehauptung. Zwar können solche Machtansprüche auch positive erzieherische Folgen haben, aber ihr grundlegendes Motiv ist nicht die Erziehung des Kindes, sondern eben der eigene Wille zur Macht, entspringe er nun einem sachlich begründeten oder einem bloss neurotischen Bedürfnis.

Physische Gewalt in der Erziehung

Die Verwechslung zwischen pädagogischem Einsatz von Macht und selbstbezogener Machtausübung des Erziehers zeigt sich besonders krass im verbreiteten Brauch, jede Form von Gewaltanwendung gegenüber einem Kind als „Körperstrafe“ zu bezeichnen. Von Körperstrafe kann nur gesprochen werden, wenn der Erzieher mit Überlegung und Verantwortungsbewusstsein handelt. Dass im Rahmen einer solchen Grundhaltung körperliche Bestrafung überhaupt angezeigt sein kann, dürfte die berühmte Ausnahme von der Regel sein (etwa dann, wenn man einem kleinen Kind durch einen Klaps auf die Hand das Grübeln in Steckdosen zu seinem eigenen Schutz verleiden will). Wer nämlich als Erzieher zu nüchterner und verantwortungsbewusster Überlegung fähig ist, wird auch das Zerstörerische der Körperstrafe erkennen und daher in der Regel darauf verzichten. 

Wenn indessen Erzieher ein Kind schlagen, so handelt es sich zumeist nicht um Strafe. Sehr oft ist es der verzweifelte Versuch, den letzten Rest von Macht, den man als Erzieher braucht, zu erhalten. Oft ist es aber noch simpler: Man setzt sich zur Wehr oder antwortet – ganz ‘normal’ – auf eine erlittene Frustration mit einer zornigen Aggression.

Angesichts der grossen Belastung, denen Erzieher durch ihre Aufgabe immer wieder ausgesetzt sind, sind solche aggressiven Entladungen verständlich, und die moralische Verurteilung von Eltern und Lehrern, die ihre Beherrschung verlieren, ist zumindest solange fehl am Platz, als sie ihre Schwäche nicht als pädagogische Massnahme ausgeben, sondern grundsätzlich bereit sind, ihr Versagen auch dem Kinde gegenüber einzugestehen und sich um jene Entwicklungsschritte bemühen, die dem Übel des Zorns an der Wurzel begegnen. Jene Erzieher, denen hie und da die Hand ausrutscht und die dies auch als Schwäche einzusehen bereit sind, können sich wohl damit trösten, dass eine gelegentliche Aggression gegen das Kind (ich rede nicht von Kindsmisshandlung) keine bleibenden Schäden verursacht, wenn im übrigen eine Atmosphäre der Liebe und Annahme die Beziehung zum Kinde prägt.

Schädlich und verwerflich indessen ist ganz klar ein autoritärer Erziehungsstil, in dem der Erwachsene dem Kinde ohne Einfühlung grobschlächtig und brutal begegnet und in welchem daher physische Gewaltanwendung gewissermassen an der Tagesordnung ist.

Druck, Nötigung und Manipulation in der Erziehung

Die meisten Machtäusserungen auf der psychischen Ebene geschehen unbewusst oder zumindest unwillkürlich: Man droht, schimpft, macht Vorwürfe, beleidigt oder erreicht seine Ziele geschickt durch Loben, Erwecken von Mitleid, Anstachelung des Ehrgeizes usf. Im normalen zwischenmenschlichen Umgang kämen wir nicht auf die Idee zu behaupten, diese Verhaltensweisen bezweckten die Erziehung unserer Konfliktpartner, sondern wir würden ohne weiteres eingestehen, dass sie eben unserer Selbstbehauptung dienen. Sind unsere Konfliktpartner aber Kinder, so halten wir die erwähnten Verhaltensweisen des psychischen Drucks und der Manipulation in der Regel für erzieherische Massnahmen. Es ist zwar richtig, dass man mit diesen Mitteln Kinder beeinflussen und allenfalls auch in die von uns gewünschte Richtung lenken kann, aber mit Erziehung im eigentlichen Sinne hat das wenig zu tun, weil die Motive auf Seiten des Kindes, unseren Absichten zu entsprechen, allesamt negativ sind: Es fügt sich dem Druck, weicht aus Angst, handelt aus aufgepfropften Schuldgefühlen heraus, frönt seinem Ehrgeiz oder lässt sich in seiner Eitelkeit kitzeln. Mit andern Worten: Je mehr wir als Erzieher die erwähnten Machtmittel einsetzen, desto abhängiger machen wir das Kind von uns und von seinen eigenen neurotischen Zügen.

Es ist zuzugeben, dass es schwierig ist, auf all die genannten Mittel der Machtausübung zu verzichten, allein schon darum, weil sie oft nicht als schädlich erkannt werden. Und da es eben absolute psychische Gesundheit nicht gibt, wird dies auch niemand ganz zustande bringen. Trotzdem tun wir als Erzieher gut daran, in dieser Beziehung auf der Hut zu sein.

Im übrigen ist an die Gesetzmässigkeit zu erinnern, die bereits dargelegt wurde: Wenn die Machtausübung der jeweils höheren Ebene versagt, bleibt uns – sofern wir im Augenblick die Ziele nicht aufgeben wollen oder können – gar nichts anderes übrig, als auf die nächst tiefere Stufe zurückzugehen. Da aber kein Erzieher grundsätzlich damit rechnen kann, dass seine ‚geistige‘ Autorität in jedem Fall wirksam ist, ist das Ausweichen auf die psychischen Machtmittel gelegentlich unvermeidlich.

Schliesslich ist zu fragen: Wenn wir uns schon genötigt sehen, auf psychische Machtmittel zurückzugreifen – welche sind dann besser, die offenen oder die verschleierten? Die Antwort liegt auf der Hand: Die offenen, denn das Kind kann diese als Machtdemonstration erkennen und entweder Gegendruck mobilisieren oder die Aussichtslosigkeit seines Bemühens erkennen und sich fügen. Viel schwieriger ist es, in den schleichenden Formen der Manipulation den Machtcharakter zu erkennen und darauf in gesunder Weise zu reagieren.

Geistige Autorität in der Erziehung

Was bewirkt ‚geistige‘ Autorität?

In einem Ferienlager bemerkte ein Lehrerstudent, wie einige Buben einen ihrer Kameraden ständig hänselten, plagten und aus dem Spiel ausschlossen. Zwar sprach er – richtigerweise – die Knaben auf ihr Verhalten an, warb um Verständnis für den ausgestossenen Mitschüler und appellierte an ihr Gewissen, aber resigniert stellte er dann fest: „Kaum hatte ich mich umgedreht, plagten sie ihn weiter, als hätte ich nichts gesagt.“ Was ihm eben fehlte, war ‚geistige‘ Autorität: Seine Worte hatten für die Kinder kein Gewicht.

Um nun das Wesen dessen zu erkennen, was ‚geistige‘ Autorität bewirkt (und nur durch sie bewirkt werden kann), müssen wir uns bewusst machen, dass wir Menschen – um mit Goethe zu sprechen – zwei Seelen in unserer Brust fühlen: eine, die uns in uns selbst einschliesst und uns zu Egoisten macht, und eine, die uns über uns hinaus hebt, uns zum Guten streben und unser wahres Selbst finden lässt. Auch nach Pestalozzi liegen im Menschen die ‚tierische‘ (triebhafte) und die ‚höhere‘ (geistige) Natur in einem unaufhebbaren Widerstreit. Dies ist gewiss auch bei jenen ‚bösen‘ Buben so: Sie verhalten sich unter bestimmten Umständen asozial, aber in jedem von ihnen liegt genau so sehr die Möglichkeit der Liebe, des Verständnisses für andere und der Rücksichtnahme – kurz: des Guten.

Mit Blick auf diesen Sachverhalt lässt sich nun die spezifisch pädagogische Wirkung der echten, ‚geistigen‘ Autorität erfassen: Durch sie (und nur durch sie) lässt sich erreichen, dass im Kinde die guten Kräfte gegenüber schlechteren die Oberhand gewinnen. ‚Geistige‘ Autorität weckt und stärkt im Kinde das Selbst, sie hilft ihm, auf echte Weise es selbst zu sein und zu werden.

Die echte Autorität begnügt sich demgemäss nicht mit Augenblickserfolgen. So geht es dem Erzieher, der einschreitet, wenn Kinder einen ihrer Kameraden plagen, nicht bloss darum, dass dieser künftig in Ruhe gelassen oder in die Gruppe integriert wird; er will vielmehr, dass alle Beteiligten an diesem Konflikt wachsen und eine Haltung in sich ausbilden, die sich auch auf andere, ähnliche Situationen positiv auswirkt. Im Sinne Pestalozzis  lässt sich sagen: Autorität will den innersten Kern der Person erreichen, das Herz. Autorität zielt auf die Entfaltung der Herzenskräfte ab: Einfühlungsvermögen, Vertrauen, Mut, Opferbereitschaft, Gerechtigkeitsempfinden, Dankbarkeit, Gemeinschaftssinn, Liebe, religiöser Glaube usf. sollen entwickelt werden.

Nun ist es eine der zentralsten Erkenntnisse Pestalozzis gewesen, dass sich seelische Kräfte nur durch deren Gebrauch ausbilden. So entwickelt der Mensch Vertrauen eben nur, indem er vertraut, in ihm wächst die Liebeskraft nur, indem er liebt, und ebenso gedeiht die Gabe der Einfühlung in andere nur dadurch, dass er sich eben in andere einfühlt.

Die Feststellung, dass sich im Kinde die geschwächte positive Seite nur durch echte Autorität des Erziehers stärken lässt, ist somit – von Pestalozzis Sichtweise her – gleichzusetzen mit der Feststellung: Nur durch ‚geistige‘ Autorität ist es zu erreichen, dass im Kinde die Herzenskräfte in Tätigkeit kommen.

Die Mittel der ‚geistigen‘ Autorität

Welches sind nun die Mittel, deren sich die echte Autorität bedient, um diese Selbstgestaltung des inneren Menschen im Kinde zu erreichen?

  • Oft wirkt die blosse Anwesenheit des Erziehers, und zwar nicht darum, weil sich die Kinder vor ihm fürchten, sondern weil sie ein Gespür dafür haben, dass sich ein saloppes oder gar niederträchtiges Benehmen einfach nicht mit dem Anspruch verträgt, der durch das Dasein des Erziehers unausgesprochen gesetzt ist.
  • Im normalen Alltagskontakt, aber auch dann, wenn Probleme und Konflikte auftreten, wirkt die echte Autorität zumeist im einfühlenden Gespräch. So kann der Erzieher z.B. sachlich vor einer Gefahr warnen (nicht drohen), er kann eine unannehmbare Verhaltensweise missbilligen (ohne zu schelten, Vorwürfe zu machen oder gar zu verletzen), er kann zu besserem Verhalten ermahnen und ermutigen, er kann erbrachte Leistungen und guten Willen sachlich würdigen, ohne in ein verfängliches Loben zu verfallen. In ungestörten Beziehungsverhältnissen fügt sich das Kind auch den schlüssigen Argumentationen und gedanklichen Impulsen des Erziehers, und dies durchaus aus zwei Gründen: nämlich, weil er es sagt und weil das, was er sagt, dem eigenen Denken des Kindes als richtig und einleuchtend erscheint.
  • Schliesslich gibt es aber immer auch Situationen, in denen der verantwortungsbewusste Erzieher das Verhalten eines Kindes durch eine klare Willensbekundung lenkt: Er ordnet an oder verbietet. Wenn diese Art des Einsatzes der Autorität auch mit zunehmendem Alter des Kindes in den Hintergrund treten und auch sonst nur sehr zurückhaltend ins Spiel gebracht werden sollte, so wäre es doch unrealistisch zu glauben, ein Erzieher käme grundsätzlich ohne diese beiden Mittel der Machtausübung aus. Einem Kind wäre übrigens schlecht gedient, wenn es nie gelernt hätte, eine Anordnung oder ein Verbot zu respektieren. Die Kinder lernen dies um so besser, je mehr die Willensbekundung des Erziehers durch Verantwortung geprägt und sachlich gerechtfertigt ist und je weniger sie gepaart ist mit psychischem Druck, in dem der persönliche Machtanspruch des Erziehers aufscheint. Stösst er auf Widerrede, kann er ruhig argumentieren, ohne sich selbst persönlich angegriffen zu fühlen. Er kann an die Vernunft und die Einsicht des Kindes appellieren. Er kann das Kind auf Widersprüche hinweisen, wenn dessen Verhalten nicht mit jenen Wünschen, Bedürfnissen, Idealen oder Wertvorstellungen übereinstimmt, die das Kind selber vertritt. Alle diese Verhaltensweisen des Erziehers sind Ausdruck wirklicher Autorität.

Das klingt gut – ist auch gut –, hat aber drei Haken:

Erstens wirkt all dies um so sicherer, je besser das Kind bereits erzogen ist. Wenn also Eltern diesen Kommunikationsstil von klein auf mit dem Kind einüben, so lässt er sich weiterhin viel leichter verwirklichen, als wenn z.B. ein Lehrer eine verwahrloste Schulklasse übernehmen muss. Möglicherweise dauert es eine gewisse Zeit (in welcher Wesentliches geschehen muss), bis die Schüler auf diesen Erziehungsstil ansprechen.

Zweitens setzt insbesondere das Argumentieren und der Appell an die Einsicht beim Kind einen gewissen Grad entwickelter Vernunft voraus. Je jünger es ist, desto schwieriger ist es daher, mit gelassen gesprochenen Worten auf es einzuwirken.

Drittens aber, und dies ist das Wichtigste, hängt der Erfolg nur zum kleineren Teil an den gesprochenen Inhalten. Es kann sein, dass Lehrer A dieselben Worte braucht wie Lehrer B, aber damit durchaus nicht dasselbe erreicht. Das hängt meiner Ansicht nach mit zwei Gesetzmässigkeiten zusammen:

Einerseits vermögen Erzieher, die mit der erwähnten ’natürlichen‘ Autorität begabt sind, leichter Einfluss auf das Verhalten der Kinder zu nehmen als andere, obwohl sie noch keine Gewähr für wirkliche Erziehung bietet.

Andererseits zeigt die Erfahrung immer wieder, dass Kinder eigentlich nicht den Worten des Erziehers gehorchen, sondern sich ihm als einem Menschen fügen, vor dem sie Achtung haben. Sie haben ein feines Gespür dafür, ob seine Worte mit seinem Leben und seinem eigenen Bemühen übereinstimmen. Dies erinnert uns an eine unumstössliche pädagogische Tatsache: Wir können im Kinde die inneren Kräfte nur in dem Masse erregen und zum Leben erwecken, als sie in uns selbst bereits lebendig sind. So lässt sich Liebe eben nur durch Liebe, Vertrauen nur durch Vertrauen und Achtung nur durch Achtung entwickeln. Wird echte Autorität wirksam, so ist es, als stünde der Erzieher mit dem Kind in einer unsichtbaren Verbindung, die es dann möglich macht, dass das Kind die Geistperson des Erziehers als lebendige Wirklichkeit wahrnimmt und deren Wert zu spüren vermag, so dass es dann aus eigenem Antrieb dieses Leben in sich selbst zur Entfaltung bringen will und kann. Es ist also das geistige Leben des Erziehers selbst, das im Kinde das eigene geistige Leben anregt und stärkt. Es findet somit – um die Sprache der Physik zu wählen – zwischen Erzieher und Kind eine geheime Resonanz statt: Das, was – gewissermassen als innere Melodie – im Erzieher schwingt, vermag in ähnlicher Weise das Innenleben des Kindes mitklingen zu lassen.

Da nun die wirkliche Autorität durch Resonanz wirkt, stärkt sie den Selbstwillen des Kindes: Es ist das Kind selbst, das besser werden will. Somit tangiert echte Autorität die Freiheit des Kindes nicht, im Gegenteil: Sie macht das Kind frei, nämlich frei zu dem, was in ihm als bessere Möglichkeit bereit liegt. Wahre Autorität wirkt so, dass das Kind sich selbst werden kann.

Durch die Sprache des Erziehers, seinem wichtigsten Mittel zur Führung des Kindes, muss somit mehr zum Ausdruck kommen als kluge und richtige Gedanken: nämlich sein Selbstsein, sein eigener Lebensernst, seine eigene Liebe, sein eigenes Verantwortungsbewusstsein, seine eigene Wahrheitssuche. Der Erzieher gibt seinen Worten durch sein eigenes Leben das nötige Gewicht, und dies ist der wichtigste Grund, weshalb das Wort des einen bei Kindern wirkt und das Wort des andern unbeachtet bleibt. Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit sind stets ein Resultat der eigenen Lebensgestaltung.

Wie entwickelt sich Autorität?

Damit ist dem Erzieher zugleich der Weg gezeigt, wie er zu einer immer tragfähigeren Autorität kommen kann: durch Ernstnehmen seines eigenen Lebensauftrags, durch Entfaltung seiner eigenen Menschlichkeit.

Nun müssen wir Erzieher diese Arbeit an uns selbst glücklicherweise nicht ausserhalb der Beziehung zu unsern Kindern leisten, denn das Zusammenleben mit der heranwachsenden Generation ist selbst das Übungsfeld, auf dem wir unsere Persönlichkeit entfalten können. Gerade dadurch nämlich, dass wir uns in die Beziehung zu unsern Kindern nicht als die Unfehlbaren, Mächtigen einbringen, sondern zu unseren Schwächen stehen und unseren eigenen Machtansprüchen gegenüber kritisch werden, entwickeln wir jene inneren Kräfte, welche es uns auch erlauben, auf physische und psychische Machtanwendung zunehmend zu verzichten. Wir müssen durchaus nicht fehlerfrei sein, aber wir müssen die Beziehung zu unsern Kindern als ein zwischenmenschliches Geschehen erkennen lernen, welches durch Vertrauen, Liebe und Annahme gestärkt, aber durch Machtansprüche gestört wird. Damit zeigt sich, dass die Frage, wie eigene Autorität entsteht, letztlich auf jene andere Frage hinausläuft, nämlich: Wie gedeiht ein gutes Beziehungsverhältnis zwischen Erzieher und Kind?

Dafür, dass der Aufbau einer positiven zwischenmenschlichen Beziehung die Autorität fördert, lieferte mir ein anderer Lehrerstudent einen eindrücklichen Beleg: In jenem Ferienlager, das er mitleiten half, fiel ein Knabe durch Querulieren und demonstrativen Ungehorsam auf. Was auch die Leiter anordneten: er scherte sich nicht darum. Eines Morgens wurden die Kinder angewiesen, sich für eine Tageswanderung mit Wanderschuhen und Regenschutz auszurüsten. Der ’notorische Querulant‘, als der er den Leitern erschien, trat die Wanderung in Turnschuhen an und liess auch die Windjacke zu Hause. Und prompt verschlechterte sich das Wetter im Laufe des Nachmittags, was die Hauptleiter in die Lage versetzte, nun den Triumph zu ernten: „Siehst Du jetzt endlich ein, dass Du unsere Anordnungen befolgen solltest? Wer nicht hören will, muss fühlen!“ Das war gewiss keine schlechte Rede der Leiter, und es gibt genügend Pädagogen im Gefolge von Rousseau, die gleich handeln würden: Durch Schaden wird man klug. Der Haken liegt nur darin, dass dies zumeist nichts nützt, und zwar ganz einfach deshalb, weil diesem ‚Erziehen durch logische Folgen‘ die Liebe fehlt. Unser Student handelte indessen in den Augen seiner Leiter völlig unpädagogisch, als er sich des armen Kerls erbarmte und ihn seinen eigenen Pullover anziehen liess. Dadurch gerieten die beiden beim Wandern ein wenig in Rückstand, und nun erzählte der Knabe dem Studenten gewissermassen sein ganzes Leben, mit allen Sorgen und Nöten, und von dieser Stunde an gehorchte er jenem aufs Wort, was er immer auch von ihm verlangte.

Autorität in der zwischenmenschlichen Beziehung

In der Pflege der zwischenmenschlichen Beziehung laufen eigentlich alle pädagogischen Fäden zusammen:

  • Sie schafft erstens die Voraussetzung dafür, dass sich das Kind gut entwickeln kann,
  • sie bietet zweitens auch dem Erzieher die Möglichkeit, an seiner Selbstentwicklung zu arbeiten,
  • sie ist damit drittens der Weg, der ihm zu seiner eigenen Autorität verhilft (siehe obiges Beispiel),
  • und sie schafft viertens ein Klima, in dem die Versuchung schwindet, physische und psychische Macht auf destruktive Weise einzusetzen.

Eine ausführliche Darstellung des Problems der Pflege der zwischenmenschlichen Beziehung übersteigt freilich den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei weitem. Einige praktische Hinweise sollen aber doch zeigen, welche Verhaltensweisen die Beziehung zu den Kindern befruchten, nämlich:

  • den Kindern zuhören, ihnen Zeit schenken
  • Leistungen und guten Willen anerkennen, Freude über das Gelingen zeigen
  • Anteil an ihrer Tätigkeit und ihren Interessen nehmen, sich erzählen lassen, ohne bohrend zu fragen
  • Verständnis beim Misslingen zeigen, im Misserfolg beistehen und nicht etwa triumphieren
  • den Kindern erzählen, was einen selbst beschäftigt, Kinder (mit Mass) Anteil an den eigenen Problemen nehmen lassen
  • mit den Kindern spielen, möglichst aus eigener Spielfreude

Entscheidend für die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehung ist die Art und Weise, wie Konflikte angegangen und gelöst werden. Die verbreitetste Art ist der Einsatz von Macht, zumeist auf der physischen oder psychischen Ebene. Dies führt, da es beim Kinde dieselben Machtmechanismen in Gang setzt, in den Machtkampf mit der Tendenz zunehmender Heftigkeit und damit zu einer permanenten Belastung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Es gilt daher, eine Konfliktlösungsmethode zu lernen und zu verwirklichen, in der es weder Sieger noch Besiegte gibt, sondern nur Gewinner: Beide Partner gewinnen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, weil sie verständnisvoll aufeinander zugehen und in sich selbst jene Kräfte entwickeln, die ganz allgemein die Grundlage für ein erfülltes Leben sind. Die Lösung von Konflikten jenseits der Macht kann man bei Thomas Gordon (‘Familienkonferenz’; ‘Lehrer-Schüler-Konferenz’) lernen.

Zusammenfassung

‚Eine Autorität sein‘ (und darum Einfluss auf das Kind haben) ist das genaue Gegenteil von ‚autoritär sein‘. Je grösser die Autorität des Erziehers, desto weniger braucht er autoritär zu sein – und umgekehrt. Macht gehört zwar in die Erziehung, aber so wenig wie möglich als Zwang, psychische Nötigung oder Manipulation, sondern als Ausdruck geistiger Stärke. Diese ist uns Erziehern nicht in die Wiege gelegt, sondern das Ergebnis ehrlichen Bemühens. ‚Geistige‘ Autorität erfordert auch nicht Vollkommenheit. Kein Mensch kann vollkommen sein. Wer ehrlich zu seinen Schattenseiten steht und beharrlich an ihnen arbeitet, fördert damit seine Autorität. Erforderlich sind Ehrlichkeit, Offenheit, Wille zur Selbstentwicklung – kurz: Lebendigkeit. Darum besteht für mich die tiefste Weisheit der Erziehung in der Erkenntnis:

Wenn ich will, dass sich mein Kind ändert, muss ich mich selbst ändern.

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